Ältere Patienten brauchen individuelle Produkte, die sich an ihren Gesundheitszustand anpassen lassen, der sich kontinuierlich verändert. Welche Anforderungen dieser Bereich noch stellt, erläutert Prof. Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen.
Frau Professor Steinhagen-Thiessen, medizintechnische Produkte für ältere Menschen gelten als Wachstumsmarkt. Brauchen diese Patienten besondere Produkte?
Elderly Care ist mit Sicherheit ein Bereich mit Zukunft. Allerdings habe ich oft den Eindruck, dass die Industrie einfach etwas entwickelt und davon ausgeht, dass dieses Produkt dann schon etwas für Ältere wäre. So einfach funktioniert das aber nicht.
Was müsste man denn berücksichtigen?
Das ist nicht leicht zu beantworten, wenn man sich vor Augen führt, dass wir mit zunehmendem Alter immer verschiedener werden. Der eine braucht eine Überwachung des Herzrhythmus, der nächste eine Kontrolle darüber, dass er seine Medikamente regelmäßig nimmt, und der Dritte hat ein Problem damit, genug zu trinken. Den Massenmarkt für ein Produkt gibt es in diesem Bereich also nicht.
Ist bereits industrielles Interesse an Lösungen für Senioren zu erkennen?
Ja, wir bekommen Anfragen aus der Industrie, und ich muss sagen, dass es trotz der genannten Probleme auch pfiffige, sehr pfiffige Ideen gibt. Der größte Irrtum ist aber der, dass wir `Alles für alle´ brauchen, dass beispielsweise jeder früher oder später eine eigene EKG-Überwachung haben will. Selbst Mitarbeiter verschiedener Institute gehen davon aus. Das wird aber nicht der Fall sein. Technik soll und kann die Behandlung, eine Reha-Maßnahme, die Pflege oder die psychosoziale Unterstützung begleiten. Sie kann sogar den Arzt oder die Schwester in Teilen ersetzen. Aber die Technik muss viel individueller an die Bedürfnisse des Einzelnen angepasst werden, als das bisher diskutiert wird.
Was empfehlen Sie den Herstellern technischer Produkte?
Viele kommen zu uns, um von unseren Erfahrungen zu profitieren. Nur leider kommen sie oft zu spät, wenn die Entwicklung des Produktes schon im Gang ist und jemand merkt, dass man doch zu wenig über ältere Menschen weiß. Solche Produkte sind meist sehr diagnoseorientiert, sollen zum Beispiel helfen, einen Herzinfarkt möglichst früh zu erkennen. Die Funktionsverluste beim Hören, Sehen oder in der Mobilität, die sich bei Älteren einstellen, haben die Entwickler von sich aus leider nicht so im Blick. Das ließe sich durch frühere Gespräche verbessern.
Wie könnte Technik den speziellen Anforderungen älterer Menschen gerecht werden?
Das Verallgemeinern ist schwierig. Eine einfache Antwort ist, dass Produkte für Ältere zum Beispiel mit einer größeren Schrift verfügbar sein müssen. Obwohl das offensichtlich ist, sind Texte auf Beipackzetteln zu Medikamenten, die in der Mehrzahl von älteren Menschen gebraucht werden, meist zu klein gedruckt. Allgemein gilt darüber hinaus: Egal, wie eine Lösung aussieht, die zum Beispiel Funktionsverluste ausgleicht – sie darf den Menschen auf keinen Fall abhängig machen, sondern soll ihn in eine Selbstständigkeit führen oder diese erhalten.
Wie könnte so etwas aussehen?
Ein Beispiel dafür ist eine virtuelle Selbsthilfegruppe für Patienten, die durch einen Schlaganfall ihre Mobilität verloren haben und über Internet, Konferenzschaltung und Webcam untereinander oder mit Fachkräften kommunizieren. Dass so ein Ansatz gut funktioniert, haben wir in einem Projekt nachgewiesen. Aber ich möchte es nochmal betonen: Technik allein nützt nichts. Sie können nicht einfach ein hochmodernes Gerät hinstellen und weggehen. Technik, Dienstleister wie Ärzte oder Schwestern und die Patienten müssen zusammenarbeiten, um zu einer sinnvollen Lösung zu kommen.
Haben Sie die Ausrüstung für die virtuelle Selbsthilfegruppe angepasst?
Wir haben mit Touchscreens gearbeitet, die auch ein Patient mit einer verkrümmten Hand ohne Probleme bedienen kann. Wir haben die Bedienoberflächen für die Informationsseiten, die wir in Küchendeutsch zum Thema Schlaganfall formuliert und im Internet angeboten haben, möglichst einfach gestaltet. Und der Patient bekam die Texte automatisch vorgelesen, sobald er eine Seite aufsuchte – das war eine wichtige, zusätzliche Hilfe. Gerade bei der Übersichtlichkeit und leichten Bedienbarkeit der Produkte ist noch eine Menge zu tun. Aber wir wissen inzwischen, wie das geht, und haben auch schon einige Technik-Projekte betreut.
Welche weiteren Erkenntnisse ergeben sich aus Ihren Projekten?
Wer ein Produkt für ältere Menschen entwickelt, muss sich vor Augen führen, dass sich der Mensch ständig verändert und Fähigkeiten verliert. Dieser Prozess läuft kontinuierlich ab, und ein technisches Gerät sollte ihn begleiten können. Natürlich kann man zum Beispiel Sensoren an einer Armbanduhr mit sich führen. Aber so ein Gerät sollte programmierbar sein, so dass ich nach Jahren, in denen ich vielleicht nur zwei oder drei unterstützende Funktionen gebraucht habe, eine weitere ein- fach hinzunehmen kann und mir nicht am ganzen Körper weitere Sensoren oder gar Geräte anbringen muss. Das hätte darüber hinaus den Vorteil, dass sich der Patient nicht immer wieder auf ein neues Gerät und neue Bedienvorgaben einstellen muss.
Sie haben an anderer Stelle beschrieben, dass das Gefühl von Sicherheit für ältere Patienten wichtig ist. Wie kann die Technik dazu beitragen?
Wir kommen auch hier nicht an der Individualität vorbei. Was Sicherheit bedeutet, hängt von den persönlichen Defiziten ab. Das kann eine Sturzüberwachung sein oder aber die Möglichkeit, sich von einer Schwester an die Medikamenteneinnahme erinnern zu lassen.
Gibt es eine ausreichende wissenschaftliche Basis, um die technische Entwicklung in die richtige Richtung zu lenken?
Die Förderung solcher Projekte fällt leider immer wieder durch das Raster. Im Augenblick bräuchten wir vor allem sichere Informationen darüber, was sich bei der Versorgung älterer Patienten sparen lässt, denn alle zusätzlichen Leistungen, so sinnvoll sie sein mögen, müssen finanziert werden. Und dieses Problem ist bisher völlig ungelöst.
Sie haben betont, dass Medizintechnik für Senioren kein Ersatz für menschliche Kontakte sein darf und in Netzwerke eingebunden sein muss. Entwickeln sich Technik und das soziale Umfeld mit der gleichen Geschwindigkeit?
Ich habe dazu keine Untersuchungen durchgeführt. Aber mein persönlicher Eindruck ist, dass sich die Technik schneller entwickelt als alles andere.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen www.charite.de/geriatrie Die TeleReha-Studie beschreibt Erfahrungen mit Telemedizin in der Geriatrie. Beiträge zur 36. Jahrestagung der DGBMT, 2002, Band 47, S. 954-957
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