Wenn ein Gelenk durch ein Implantat ersetzt wird, kommt es – prozentual gesehen – selten zu Komplikationen. Dennoch lässt sich manches verbessern. Dr. Torsten Prietzel, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Leipzig, erläutert die Ansatzpunkte.
Im Kooperationsnetzwerk Endoprothetik arbeiten Industrie und Forschung an aktuellen Problemen. Warum brauchen wir dieses Netzwerk?
Ein Gelenkersatz ist eine komplexe Angelegenheit, und es gibt viele Faktoren, die den Erfolg einer Operation beeinflussen. Wir haben für solche Eingriffe schon eine gute Basis und im Vergleich zur Vergangenheit viel erreicht. In Deutschland werden jedes Jahr rund 230 000 Erstoperationen an Hüftgelenken und rund 170 000 an Kniegelenken ausgeführt. Prozentual gesehen treten dabei verhältnismäßig wenige Komplikationen auf. Bei Hüftgelenken reden wir von zwei bis fünf Prozent der Fälle. Ich sage bewusst nicht ’nur‘, denn wir sprechen von einigen Tausend Fällen, in denen es den Patienten nicht gut geht. Daher ist es wichtig, nach den Gründen für die Komplikationen zu forschen – und vor allem nach Möglichkeiten, wie sich die Komplikationen vermeiden lassen.
Um welche Faktoren geht es dabei?
Es geht vor allem um das Zusammenspiel der Faktoren. Dazu zählt die Prothese selbst, ihre Größe, das verwendete Material, aber auch der Gesundheitszustand des Patienten, das Operationsverfahren und die Hygiene, die Erfahrung des Arztes, die Nachbehandlung. Da sich die Faktoren gegenseitig beeinflussen, hat es wenig Sinn, jeden einzeln zu betrachten. Man muss alle im Blick haben, und das wollen wir bei der Zusammenarbeit im Netzwerk erreichen.
Welche konkreten Probleme gab es in der Vergangenheit?
Lassen Sie mich das an Beispielen beschreiben. Vor einigen Jahren haben wir die Hoffnung gehabt, dass ein Roboter im Operationssaal zu noch besseren Ergebnissen bei der Implantation von Hüftendoprothesen führen würde. Das hat sich leider nicht bestätigt. Damit der Roboter den Knochen mit einer Art Greifer sicher halten kann, musste der Knochen großzügig freigelegt werden. Deutliche Vorteile dieses Verfahrens haben sich allerdings nie gezeigt, die höhere Invasivität war aber sofort spürbar und hat auch mehr Komplikationen verursacht. Daher folgte auf eine gewisse Euphorie bei Ärzten und Patienten die Ernüchterung, dann eine Abkehr von der Lösung bis zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Das ist für die Entwicklung eines Fachgebietes und der dazugehörigen Technik nicht förderlich – und ein solches Hin und Her in der Bewertung einer neuen Technologie gilt es in Zukunft zu vermeiden.
Welche Rolle spielen die für die Implantate verwendeten Werkstoffe?
Das ist ein wichtiges Feld, und auch hier beobachten wir Neuerungen und große Schwankungen in deren Bewertung. Aus Gründen der Stabilität bevorzugen wir zum Beispiel eher große Gelenkkopf-Pfannen-Paarungen. Bei den ersten Lösungen wurde das mit Metall-Metall-Paarungen umgesetzt. Es hat sich aber gezeigt, das deren Einsatz bei einigen Patienten zu abriebbedingten erhöhten Metallionenkonzentrationen führt. Damit einhergehend stieg die Zahl der entzündlichen Reaktionen an. Daher wenden sich Ärzte weltweit von diesen Prothesentypen ab, und wir diskutieren auf Kongressen, wie wir mit Patienten umgehen sollen, die solche Implantate noch tragen. Die nächste Lösung, eine Keramik-Keramik-Paarung, ist ebenfalls nicht frei von Problemen. Die Google-Suchstatistik zeigt, wie viele Menschen sich für ’squeaking hips‘, also quietschende Hüftgelenke, interessieren. Youtube hat dazu akustisch beeindruckende Beispiele zu bieten. Auch Brüche können auftreten. Mit einer Paarung von Polyethylen-Inlay und Keramik-Kopf gibt es kein Quietschen und kaum Brüche – allerdings kann Abrieb am Kunststoff auftreten und zu einer Dezentrierung des Kopfes in der Pfanne führen. Teilweise resultieren daraus körperliche Reaktionen auf den Abrieb, etwa in Form eines Knochenabbaus. Eine optimale Lösung haben wir also noch nicht.
Was wäre der optimale Werkstoff?
Das lässt sich noch nicht beantworten. Eine Weiterentwicklung auf der Basis der PE-Mischungen halte ich für viel versprechend. Auf jeden Fall muss ein geeigneter Werkstoff sehr gute Notlaufeigenschaften mitbringen. Wir haben keinen Einfluss darauf, ob und wie viel Gelenkflüssigkeit für Schmierung in der Prothese sorgt, und einen zeitweiligen Trockenlauf muss ein Material im Gelenk ohne Schaden und ohne Abrieb überstehen können.
Wie reagieren Ärzte angesichts dieser komplexen und schwierigen Situation bei der Auswahl eines Implantats?
Die meisten Kollegen sind vorsichtig und misstrauisch gegenüber Neuerungen. Es ist mit etwas Erfahrung offensichtlich, dass die standardisierten Belastungstests an Implantaten zwar Aussagen zu den Langlaufeigenschaften einer Gleitpaarung ermöglichen. Allerdings stimmen diese mit den Belastungen in der Realität nicht gut überein. Da wundert es nicht, dass laut verschiedener Studien in etwa 60 Prozent der Fälle Endoprothesen mit Keramik-Polyethylen-Paarung eingesetzt werden, da diese sich recht gut bewährt haben, die Kombination Keramik-Keramik aber nur 16 Prozent ausmacht. Man setzt also mangels weiterer Daten auf die eigene Erfahrung, und so würde ich mich auch entscheiden, trotz gelegentlicher Probleme mit PE-Keramik. Diese gibt es eben nur mit bestimmten Köpfen und Typen von PE. Die Zusammenhänge dahinter sollten wir aber systematisch untersuchen, um eben nicht auf die Erfahrung des Einzelnen angewiesen zu sein. Das deutsche Endoprothesenregister wird dazu in den nächsten Jahren sicherlich beitragen.
In der Zahnmedizin sind individuelle Implantate üblich. Hätte die individuelle Gelenkendoprothese einen Sinn?
Ich halte die Entwicklung modularer Implantate für Erfolg versprechender – zumindest für die Hüftgelenke. Das hat mehrere Gründe. Ein Hüftgelenk ist bei allen Menschen relativ ähnlich aufgebaut, so dass eine Standardisierung von Elementen sinnvoll ist. Derzeit können wir aber zum Beispiel bei den zementfreien Implantaten nur zwischen wenigen Design-Varianten in verschiedenen Größen auswählen. Wenn der Endoprothesenschaft im Oberschenkelknochen fest platziert ist, bleibt bei der Operation nur noch, mit dem passenden Kopf und den Inlays in der Pfanne den feinen Abgleich zur Anatomie des Patienten vorzunehmen. Ein modulares Implantat mit einem Schaft-, Hals- und Kopfmodul in unterschiedlichen Größen würde hier mehr Möglichkeiten bieten. Heutige modulare Lösungen basieren aber auf der konischen Verklemmung. Sie bringt das Risiko des Materialbruchs mit sich, und die Verbindung kann sich wieder lösen. Daher werden sie bei Erstoperationen gegenwärtig kaum verwendet. Bei Revisionen und Tumor-Patienten hingegen, für die keine Standard-Prothesen eingesetzt werden können, erzielen wir damit Erfolge. Es lohnt sich also, dieses Konzept weiterzuentwickeln – zum Beispiel im Netzwerk. Ein weiteres medizinisches Argument, das gegen individuelle Implantate spricht, ist: Mir bleiben, wenn bei der Operation irgendetwas nicht planmäßig läuft, keine Alternativen, da es ja nur das eine Teil gibt.
Wie schätzen Sie die Situation bei anderen Gelenkenprothesen ein?
Ein Knie ist viel individueller als ein Hüftgelenk, so dass es schwieriger ist, die Biomechanik des Körpers mit Standardelementen korrekt wiederherzustellen. Hier lohnt sich das Nachdenken über individuelle Lösungen eher. Die Kostenfrage ist aber in jedem Fall zu beantworten.
Wie lassen sich die Operationsverfahren verbessern?
Die bisherigen Verfahren unterscheiden sich im Ausmaß der Freilegung – ich verschaffe mir also nach dem klassischen Verfahren einen relativ großen Zugang, oder ich arbeite minder-invasiv und schone die Gelenkkapsel. Das bevorzugen wir in Leipzig, da es mit diesem Verfahren nach der Operation zu deutlich weniger Ausrenkungen kommt. Eine dritte Möglichkeit ist der minimal-invasive Eingriff, bei dem die Muskulatur am Knochen belassen wird, was Vorteile bringt. Allerdings wird bei diesem Verfahren die Kapsel in der Regel entfernt. Es gibt also immer Vor- und Nachteile, und wir haben noch keine Langzeiterfahrungen damit. Das ist eine weitere Aufgabe für die Forschung.
Was erhoffen Sie sich von dem Kooperationsnetzwerk Gelenk-Endoprothetik?
Als Arzt möchte ich am liebsten alles auf einmal verbessern – gleichzeitig ist mir klar, dass wir schrittweise vorankommen müssen. Mein Schwerpunkt liegt darauf, die schweren Komplikationen mit zum Teil mehreren Folgeoperationen und manchmal mangelndem Erfolg zu vermeiden. Im Netzwerk wollen wir gemeinsam einiges bewegen, und wenn die ersten Projekte erfolgreich verlaufen, sind sicherlich alle an einer langfristigen Zusammenarbeit interessiert. Ich bin optimistisch, dass das funktionieren wird. Übrigens ist das Netzwerk offen für weitere Teilnehmer, die sich uns anschließen möchten.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen
Über die Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Leipzig: http://oukimweb.uniklinikum-leipzig.de/
Über die Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Leipzig: http://oukimweb.uniklinikum-leipzig.de/
Über das Netzwerk
Im Kooperationsverbund „Kunstgelenk – Netzwerk Endoprothetik“ haben sich deutschlandweit erstmalig neun Industriepartner und fünf Forschungseinrichtungen – von der klinischen Anforderung über Entwicklung, Fertigung, Zulassung bis hin zum Vertrieb – zusammengeschlossen. „Wir begegnen in der Gelenk-Endoprothetik tagtäglich zahlreichen Patienten, die trotz modernster Technik über verschiedene Symptome klagen“, erklärt Dr. Ronny Grunert, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU und einer der Koordinatoren des Netzwerkes. „Das vorhandene Verbesserungspotenzial können wir nur dann offenlegen und ausschöpfen, wenn wir die gesamte Wertschöpfungskette der Gelenk-Endoprothetik betrachten.“ Die wichtigsten Handlungs- und Aktionsfelder des neuen Kooperationsnetzwerkes werden die Entwicklung neuer modularer Implantate, Materialien und Herstellungsmethoden sowie nachhaltige Behandlungskonzepte für bioverträgliche Endoprothesen sein.
Das am 1. März 2013 gegründete Kooperationsnetzwerk wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gefördert sowie vom Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU koordiniert. Als Unternehmen beteiligen sich die Aesculap AG, die AQ Implants GmbH, die Cadfem GmbH, die EC Europ Coating GmbH, die Endocon GmbH, IMA Materialforschung und Anwendungstechnik GmbH, die Julius Boos jr. GmbH & Co. KG, die MSB-Orthopädietechnik GmbH Leipzig sowie die NRU GmbH. Neben dem Fraunhofer IWU arbeiten das Forschungs- und Transferzentrum e.V. an der Westsächsischen Hochschule Zwickau im Netzwerk mit sowie das Textilforschungsinstitut Thüringen-Vogtland e.V., die Orthopädische Klinik und Poliklinik der Universität Leipzig, die Arbeitsgruppe Optische Technologien der Westsächsischen Hochschule Zwickau und das Institut für Maschinenelemente und Maschinenkonstruktion der Technischen Universität Dresden.
Weitere Informationen zum Netzwerk: www.kunstgelenk.eu
Unsere Webinar-Empfehlung
Erfahren Sie, was sich in der Medizintechnik-Branche derzeit im Bereich 3D-Druck, Digitalisierung & Automatisierung sowie beim Thema Nachhaltigkeit tut.
Teilen: