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Für wen entwickeln wir?

„PI“-Technologien: Was „Patient empowering“ und „Information leveraging“ bringen
Für wen entwickeln wir?

IT bietet der Medizintechnik-Industrie die Möglichkeit, Produkte zu entwickeln, die stärker als bisher am Patientennutzen orientiert sind. Für deren Erfolg bei der Vermarktung reicht das geballte Ingenieurwissen in der Entwicklungsabteilung allein nicht mehr aus. Umdenken ist angesagt.

Innovationen in der Medizintechnik entstanden über viele Jahre vor allem aus der engen Zusammenarbeit zwischen Ärzten als Anwendern und den Entwicklern in der Industrie. Dabei waren die Ärzte das enorm wichtige Bindeglied zu den Patienten, aber auch zum Pflegepersonal. Aus der Interaktion dieser Gruppen entwickelten sich neue, anwenderfreundliche Produkte.

Dieser traditionelle Austausch wird aber zunehmend in Frage gestellt. Einerseits sollen gesetzliche Maßnahmen mehr Transparenz bringen, wenn die Industrie Medizinern oder Forschungsprojekten finanzielle Unterstützung bietet. Ein Beispiel dafür ist der so genannte Sunshine Act in den USA, der in diesem Bereich Interessenskonflikte verhindern soll. Andererseits führt vor allem der immense Kostendruck im Gesundheitssystem dazu, dass Krankenhäuser mehr und mehr zentral einkaufen. Das schließt die Ärzte vielfach aus der direkten Verbindung mit Technologieanbietern aus. An ihre Stelle als Entscheider treten eher die Kostenträger – die mehr Wert auf den Kosten-Nutzen-Vergleich legen. Das setzt nicht nur die Preise für Medizintechnikprodukte unter enormen Druck; die Unternehmen müssen in diesem Umfeld den wichtigen Punkt der Wirtschaftlichkeit in einem engeren Kostenrahmen bei den Entwicklungszielen berücksichtigen. Wer aber den Blick stärker auf den Patientennutzen legt, muss den Einfluss dieser Gruppe als Nachfrager im Blick behalten.
Interessante Effekte dieser Entwicklung lassen sich im Medizintechniksektor schon beobachten. Dort entstanden parallel zu technischen Geräteinnovationen bereits viele Entwicklungen aus dem IT-Bereich (Health IT), wie zum Beispiel die elektronischen Patientenkarten (EMRs = Electronic Medical Records) und Systeme zur integrativen Sammlung und Nutzung von Patientendaten.
Ein anschauliches Beispiel für das Verschmelzen von Technik und IT ist auch die Entwicklung von elektronischen Sensoren auf Mikrochips, die auf Tabletten aufgebracht wurden und vom Patienten „geschluckt“ werden. Die Zusammenarbeit zwischen dem Pharmakonzern Novartis und dem US-amerikanischen Start-up Proteus Digital Health aus Kalifornien zielt auf die Verbesserung der Compliance. Patienten, die solche Tabletten mit Sensor nicht zeitgerecht einnehmen, erhalten automatisch ein Signal auf ihr Smartphone, das sie an das Versäumnis erinnert. Auf diese Weise werden ein wichtiges Problem der Therapie und ein relevanter Faktor für unzureichende Medikamentenwirkung eliminiert.
Darüber hinaus sind die Vernetzung von Information und eine Kommunikation wichtig, die neue Plattformen einbezieht. So spielen zunehmend Smartphones, Tablets und andere IT-Geräte eine große Rolle beim Erfassen und vor allem Übermitteln von Patientendaten wie zum Beispiel Blutdruckwerten, Herzfrequenzen oder EKG-Kurven.
Ein ebenfalls beeindruckendes Beispiel aus diesem Bereich ist die Entwicklung einer iPhone-App: Sie nutzt die iPhone-Kamera, um Farbunterschiede in der Gesichtshaut von Patienten zu erfassen, die sich durch das Pulsieren des Blutes ergeben. Anhand dieser Daten lässt sich die Pulsfrequenz bestimmen.
Das fällt schon unter den Begriff „Information leveraging“. Dieser greift jedoch weiter: Damit ist nicht nur das gerade beschriebe- ne Sammeln und Integrieren hochkomplexer Daten gemeint, sondern vor allem die zeitnahe (Real Time)-Erfassung und Übermittlung von Patientendaten im Netzwerk von Ärzten, Patienten und Kostenträgern.
Liegen diese Daten einmal vor, können sie für Patienten ausgewertet und von ihnen kontrolliert werden, und sie bleiben vor allem auch im Besitz der Patienten und in deren Verfügungsgewalt. Dann ist vom „Patient empowering“ die Rede. Gerade die Echtzeitfähigkeit solcher Lösungen verspricht ein besseres Krankheitsmanagement, weil Diagnoseergebnisse direkt in Therapieempfehlungen umgesetzt werden können. Entsprechend eröffnet dieser Paradigmenwechsel zu mehr Patientenorientierung und gleichzeitiger Weiterentwicklung der Informationstechnologien neue Möglichkeiten bei der Betreuung von Patienten, auch außerhalb von Arztpraxis oder Krankenhaus.
Diese Änderungen wirken sich auf den Innovationsprozess in der Medizintechnik und das Rollenverständnis von Unternehmen, Gesundheitseinrichtungen, Patienten und Kostenträgern aus. Vor allem die Unternehmen sind gefordert, ihre Geschäftsmodelle anzupassen. Ihre Aufgabe ist zukünftig, sowohl nachhaltige Innovation sicherzustellen als auch den neuen „Hauptkunden“ und ihren Interessen gerecht werden.
Dieser Anpassungsprozess schließt alle Prozesse der Wertschöpfung ein, angefangen beim Nutzenversprechen („Value Proposition“). Aber auch die Art und Weise, Werte zu schaffen, das Angebot am Markt zu präsentieren und schließlich die Wertschöpfung in Form von Umsätzen zu realisieren, müssen betrachtet werden. So werden zum Beispiel beim Angebot statt hochtechnischer Anwendungsvorteile für den Arzt eher das Patienten-freundlichere Design, Trainings-Software für Patienten und die Kompatibilität mit bestehenden Systemen stärker im Vordergrund stehen. Auch müssen Kostenträger den Wert neuer Medizingeräte und Anwendungen besser nachvollziehen können.
Damit aber verschiebt sich der Schwerpunkt der Kompetenzen, auf die es bei der Wertschöpfung ankommt: von den angestammten Fähigkeiten der Ingenieurskunst und industriellen Herstellung von Produkten hin zu mehr Dienstleistungen rund um ein Portfolio von Lösungen, die den Patientennutzen verbessern.
Auch für die Vertriebskanäle hat das Konsequenzen; der direkte Arztkontakt weicht mehr und mehr Ansätzen, die an Patienten gerichtet sind und Vorteile für Kostenträger hervorheben. Schließlich werden auch die Markterlöse nicht mehr primär durch den Verkauf von Geräteeinheiten oder Diagnostik-Kits erzielt, sondern unter anderem dadurch, dass Dienstleistungen honoriert werden oder sogar für Information Geld fließt.
Unternehmen der Medizintechnikbranche werden sich diesen Entwicklungen früher oder später weltweit anpassen müssen. Insofern sind sie gut beraten, bereits heute neue Geschäftsfelder zu identifizieren, die stärker am Patientennutzen ausgerichtet sind und deren ökonomischen Nutzen nachzuweisen. Statt Defensivstrategien zur Verteidigung vorhandener Geschäftsmodelle zu entwickeln, sollten sie sich an die Spitze des Paradigmenwechsels stellen.
  • Dr. Siegfried Bialojan Executive Director, Head European Life Science Center, Ernst & Young, Mannheim
  • Heinrich Christen Partner, Leader EMEIA Medical Devices Industry, Ernst & Young, Zürich
Weitere Informationen Auf Patient Empowering und Information Leveraging geht auch die Studie „Am Puls der Branche: Medizintechnik-Report 2012“ ein, die die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young im Herbst 2012 vorgelegt hat. Die Studie zur Situation der Medtech-Branche ist als pdf-Datei im Internet verfügbar unter www.de.ey.com (Suchbegriff: Medical Technology Report 2012)

Ihr Stichwort
  • Verschmelzen von IT und Technik
  • Patient als Kunde
  • Neue Nutzenversprechen
  • Kosten-Nutzen-Verhältnis als Entwicklungsziel
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