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Zugreifen ohne Motor

Funktionswerkstoffe: Formgedächtnislegierung bewegt Prothese und Orthese
Zugreifen ohne Motor

Forscher in Wilhelmshaven haben auf der Basis elektrisch aktivierter Formgedächtnis-Drahtaktoren eine Handexoprothese entwickelt und das Potenzial der Werkstoffe an diesem Beispiel untersucht. Empirische Versuche halfen, das komplexe Werkstoffverhalten zu nutzen.

Drähte aus Formgedächtnis-Legierungen lassen sich als Zugaktoren nutzen und werden daher auch als künstliche Muskeln bezeichnet. Sie bringen genug Kraft auf, um das elektrisch aktivierte Greifen einer Prothese – nach dem Vorbild einer menschlichen Hand – zu ermöglichen. Eine solche Prothese ist leichter als existierende aktive Handprothesen, die meist mit Servomotoren angesteuert werden. Aber nicht nur die Masse von Motoren und Getrieben entfällt bei diesem Ansatz: Eine Lösung mit Formgedächtnisaktoren zeichnet sich zudem durch Geräuschlosigkeit während des Betriebes aus, was ebenfalls wesentlich zum Tragekomfort der Prothese beiträgt.

Den Prototypen einer solchen Prothese haben Forscher der Jade Hochschule in Wilhelmshaven entwickelt und daran die Möglichkeiten untersucht, die dieser Ansatz bietet. Um die Bewegungsfreiheiten der menschlichen Hand mitsamt den Kräften nachzubilden, sind verschiedene Testfinger entwickelt worden. Darin sind kinematische Prinzipien wie Zahnrad- und Zahnriementrieb umgesetzt. Die Funktionsmuster der Finger wie auch des Handtellers wurden mit Rapid-Prototyping-Verfahren hergestellt.
Anhand dieser Testfinger wurden die erforderlichen Zugkräfte und Hübe der Formgedächtnis(FG)-Drahtaktoren empirisch ermittelt. Dieses empirische Vorgehen empfiehlt sich, da es schwierig ist, das dynamische Verhalten von FG-Aktoren in Abhängigkeit von Belastung und Heizstrom analytisch vorherzusagen. Schließlich spielen dabei zahlreiche physikalische Eigenschaften des Aktors eine Rolle: Der Elastizitätsmodul und der spezifische Ohmsche Widerstand hängen vom Martensit-/Austenitanteil des Formgedächtnis-Werkstoffs ab, ebenso wie der thermische Ausdehnungskoeffizient eine Funktion der Phasenumwandlung ist.
Um das dynamische Verhalten der gestreckten FG-Drahtaktoren messtechnisch erfassen zu können, wurde an der Jade-Hochschule ein Laborprüfstand entwickelt. An diesem lassen sich die Aktoren hinsichtlich ihres Aktivierungsverhaltens qualifizieren. Dazu werden FG-Drahtaktoren unterschiedlicher Geometrie eingespannt, mit verschiedenen Massen belastet und durch einen Heizstrom aktiviert. Wie schnell sich die Aktoren kontrahieren, lässt sich auf diese Weise exakt messen.
Um das Material nicht zu stark zu ermüden und um ausreichende Zykluszahlen erreichen zu können, ist der Hub eines FG-Drahtaktors auf etwa 3 % seiner Gesamtlänge zu begrenzen. Soll ein Finger entsprechend den Freiheitsgraden einer menschlichen Hand bewegt werden, ist daher eine Drahtlänge von etwa 700 mm erforderlich. Das Unterarmvolumen wurde als Bauraum genutzt, in dem die FG-Drahtaktoren in Bowdenzügen geführt werden.
Angesteuert wird die Prothesenhand über einen Microcontroller und eine – zu Testzwecken noch externe – Schaltbox. Die Betriebsspannung beträgt 15 V, die Stromaufnahme der FG-Drahtaktoren mit einem Durchmesser von 0,3 mm je Finger 1,2 A. Die vollständige Kontraktion eines Fingers dauert unter diesen Bedingungen etwa 1,2 s, die Rückstellbewegung, initiiert durch eine Rückstellfeder, je Finger etwa 4 s.
Über insgesamt sieben Taster sind die fünf Finger selektiv ansteuerbar, zudem können alle Finger zeitgleich geschlossen und geöffnet werden. Um die senkrecht von den Fingerspitzen ausgehende Greifkraft der Prothesenhand gezielt zu begrenzen und damit die taktilen Eigenschaften der Prothese der menschlichen Hand anzunähern, sind folienbasierte Kraftsensoren an den Fingerspitzen appliziert. Diese verändern ihren elektrischen Widerstand in Abhängigkeit von der wirkenden Normalkraft. Die analogen Eingänge des Controllers werden genutzt, um Spannungsänderungen an den Kraftsensoren zu verarbeiten.
Über ein Referenzpotentiometer kann die maximale Spannung und damit die maximale Greifkraft eines Fingers eingestellt werden. Ist diese erreicht, wird der Heizstrom des jeweiligen Formgedächtnisdrahtes reduziert. Das führt zu einer verzögerten Kontraktion des Aktors. Die Stromstärke am Formgedächtnisdraht wird über den Microcontroller geregelt, der kein direktes Gleichspannungssignal ausgibt, sondern einen pulsweitenmodulierten Rechteckimpuls. Je nachdem, wie viel Spannung am Ausgang des Microcontrollers anliegt, wird ein MOSFET leitender geschaltet und damit die Stromstärke am Draht verändert.
Neben einer Handprothese ist an der Jade-Hochschule eine aktive Handorthese entwickelt worden. Diese unterstützt mit Hilfe von FG-Drahtaktoren die Bewegung der menschlichen Hand und kann deren Greifkraft steigern. Hier ist der Bauraum ebenfalls durch Hand und Unterarm gegeben, allerdings sind alle erforderlichen Funktionseinheiten auf die Hand beziehungsweise auf den Unterarm aufgesetzt.
In der Orthese wird das Prinzip des Flaschenzuges genutzt, hier mit drei Rollen, um die erforderliche FG-Drahtlänge zu reduzieren. Als weitere Besonderheit wird in der Orthese das Prinzip von Beuger und Strecker der menschlichen Muskulatur adaptiert, die so genannte Agonist-Antagonist-Bauweise. Hier arbeiten zwei FG-Stellelemente gegeneinander, wobei der inaktive FG-Aktor durch den aktiven FG-Aktor beim Stellvorgang plastisch verformt wird. Durch abwechselnde Aktivierung ermöglichen die beiden Stellelemente so zwei stabile Endlagen.
Das Agonist-Antagonist-Prinzip hat den Vorteil, dass die erforderliche Rückstellkraft nicht höher ist als unbedingt erforderlich. Die Übertragung der Kraft vom FG-Aktor auf die Finger erfolgt durch biegeschlaffe Kunststoffstößel, die an den Phalangen befestigt sind. Dadurch bleiben die Finger- und damit die Handunterseite frei von Bauteilen, und der Patient kann die untere Handfläche ohne Einschränkung der haptischen Wahrnehmung einsetzen. Die Aktivierungszeit der Finger beträgt hier etwa 1 s, die Abkühlzeit wurde zum Schutz der FG-Aktoren nicht unter 7 s festgesetzt: Beim Agonist-Antagonist-Prinzip ist sicherzustellen, dass der abkühlende FG-Aktor wieder vollständig martensitisch vorliegt, bevor der opponierende Aktor zu kontrahieren beginnt.
Anhand der Handprothese und -orthese zeigt sich das hohe Innovationspotenzial der FG-Drahtaktoren. Weitere Bewegungsmechanismen mit Formgedächtnisaktoren, die sich für unterschiedliche Anwendungen in Medizintechnik und Mechatronik eignen, sind in Entwicklung.
Prof. Lars Oelschläger, Detlef Mandel Jade-Hochschule, Wilhelmshaven
Weitere Informationen Über die Arbeiten an der Jade-Hochschule: www.jade-hs.de

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