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Wie gut könnten wir sein…

Test-OP: Praxistests zeigen, was am Medizingerät noch verbessert werden kann
Wie gut könnten wir sein…

Ob Arzt und Schwester auf Anhieb mit einem neuen Medizingerät gut zurechtkommen, ist theoretisch schwer einzuschätzen. Testmöglichkeiten unter Praxis-Bedingungen sind bislang rar. Experimental-, Demonstrator- oder Transfer-OP an verschiedenen Hochschulen sollen das bald ändern.

Was das kostet: Amerikanischen Studien zu Folge schlägt jede Minute im Operationssaal mit 15 bis 18 US-Dollar zu Buche. Weil die Zeit so wertvoll ist, sollen zahlreiche Projekte zeigen, wie sich Abläufe in und um den OP optimieren lassen. Bessere Organisation und Planung stehen dabei im Vordergrund. Damit allein wird es aber nicht getan sein, denn nach Ansicht von Experten wie Dr. Ulrich Matern vom Uni-Klinikum Tübingen müssen auch neue Geräte und Hilfsmittel den OP effizienter machen.

Davon, dass vom Grundriss bis zum Chirurgieinstrument vieles verbesserungswürdig wäre, ist Chirurg Matern überzeugt, und er will Szenarien mit gestalten, die zum Optimieren von Kosten und Sicherheit beitragen: Vor den Toren Tübingens entsteht unter seiner Leitung ein Experimental-OP mit zwei Operationssälen plus Einleitungs- und Ausleitungsbereich, inklusive Luftaufbereitungsanlage und medizinischer Technik. „Wir können hier alles machen“, fasst Matern zusammen, „außer lebende Patienten zu operieren.“
Dieser dem Klinikbetrieb vorgelagerte OP sei gerade für Entwickler und Ingenieure aus der Medizintechnik-Branche ein Vorteil, denn für die bisher üblichen Tests an Prototypen im Klinikalltag „bleibt nicht viel mehr als die Nacht von Freitag auf Samstag, und danach muss alles wieder in Ordnung sein“, erläutert der Chirurg. In der Halle im Tübinger Gewerbegebiet hingegen haben Technik-Experten mehr Freiheiten, sollen auch mal ein Gerät komplett demontieren oder die Raumstruktur von Grund auf verändern dürfen.
So kommen dort auch Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand, was Matern an einem Beispiel erläutert: „Wie gut arbeitet denn beispielsweise die Klimadecke? Ist die Luft über der Wunde wirklich rein? Wie beeinflusst die Abwärme eines Gerätes das Gleichgewicht der Luftströme? Sollte im OP unter so strengen Vorgaben gearbeitet werden wie im Reinraum, oder könnte man gar auf die Luftaufbereitung weitestgehend verzichten?“ Auf dieses Beispiel greife er gern zurück, sagt Matern, um zu zeigen, wie sehr man sich von vertrauten Vorstellungen lösen müsse, um zu wirklichen Verbesserungen zu kommen.
Bis zu den Grenzen ihrer Phantasie können sowohl Geräteentwickler als auch OP-Manager in Tübingen nun neue Ansätze in der Praxis erproben, was laut Matern zu besser verwertbaren Ergebnissen führen dürfte als jede Simulation. Wie bisher üblich, können Medizingeräte-Hersteller dafür einen Forschungsauftrag an die Mitarbeiter des Experimental-OP vergeben. Neu hingegen ist die Möglichkeit, die Räume auch für eigene Experimente zu mieten und dort ungestört Versuche durchzuführen.
Auf Wunsch stellen die Tübinger Experten dafür auch ihre Erfahrungen auf verschiedenen Gebieten zur Verfügung. Eines davon ist die Ergonomie. „Denken wir nur daran, wie wenig ergonomisch manche OP-Tische und Chirurgieinstrumente immer noch sind – das kostet das Personal viel Energie“, sagt Matern. Auch würden Pfleger und Schwestern bei Vorträgen meist mit einem Lacher auf ein paar tastende Handbewegungen reagieren. Die als typisch erkannte Situation: „Ich suche den An- und Aus-Knopf eines Medizingeräts.“ Da sich hinter dem Lacher verlorene Minuten und sogar Gefahr für Menschen verbergen, formuliert Matern die Frage an Ärzte und Hersteller: „Wir sind gut, aber wie gut könnten wir sein?“
Gut wäre zum Beispiel, die Geräte noch leichter bedienbar zu machen. „Auf intuitive Bedienbarkeit und sichere Handhabung haben wir natürlich auch bisher schon Wert gelegt, und der Erfolg im Markt zeigt, dass wir damit auf dem richtigen Weg waren“, bestätigt Christian O. Erbe, Geschäftsleiter der Tübinger Erbe Elektromedizin GmbH. „In diese Richtung wollen wir bei Neuentwicklungen weitergehen“, kündigt er an. Bisher waren Anwenderbefragungen, Prototypen-Tests in simulierter OP-Umgebung sowie die Ergebnisse klinischer Studien die Basis für Weiterentwicklungen. In Zukunft soll auch der Experimental-OP, an dem Erbe als Industriepartner beteiligt ist, weitere Erkenntnisse bringen. Vom Test-OP in direkter Nachbarschaft zum Forschungs- und Entwicklungszentrum seines Unternehmens erhofft sich der Firmenchef unter anderem einen „Erfahrungsaustausch, der über die eigentliche Produktentwicklung hinausgeht“.
Geforscht und getestet wird in Operationssälen natürlich auch an anderen Orten der Welt. In Boston beispielsweise entwerfen Forscher am Massachusetts General Hospital den Operating Room of the Future (ORF): Im OP selbst sollte ihrer Ansicht nach aus Effizienzgründen nur noch operiert werden. Um das zu erreichen, müssen beispielsweise mobile OP-Tische so modifiziert werden, dass sie den Transport von Raum zu Raum erleichtern.
Das in Aachen angesiedelte Groß-Projekt Orthomit wiederum soll Verbesserungen in der Orthopädie bringen, vom Chirurgie-Instrument über Navigationssysteme bis hin zu Operationsstrategien und integrierten ergonomischen Arbeitsplätzen für Chirurgen.
Auch in Leipzig ist seit 2005 ein Demonstrator-OP in Betrieb, der in Zusammenarbeit mit dem Berliner Fraunhofer IPK entstand und vor allem Verbesserungen bei der Computerunterstützten Chirurgie (Computer Assisted Surgery, CAS) bringen soll. Angesiedelt ist er am Innovation Center for Computer Assisted Surgery (Iccas). In Kooperation mit der Tuttlinger Karl Storz GmbH & Co. KG entstanden dort beispielsweise Chirurgieinstrumente wie ein Shaver und ein Fräser mit Navigationssystem. „Wo Navigation genutzt wird, spielt die Mensch-Maschine-Schnittstelle eine besonders große Rolle“, erläutert Werner Korb, Nachwuchsgruppenleiter Surgical PACS/Mechatronics am Iccas. Im Leipziger Demonstrator-OP finden daher sowohl technische als auch psychologische Untersuchungen statt – bisher durch Mitarbeiter der beteiligten Leipziger Kliniken. Wie in Tübingen, ist zukünftig aber auch hier geplant, Geräteherstellern die Möglichkeit zu eigenen Versuchen zu bieten.
An der Uni Lübeck wird ab März 2008 ebenfalls ein OP-Forum – bestehend aus einem Transfer-OP und einem Aus- und Weiterbilgungs-OP – nutzbar sein. Dort sollen neben der Ärzteausbildung sowohl Tests im Rahmen von Projekten als auch Experimente unter Federführung von Herstellern möglich sein. Die Vorarbeiten dafür liefen im Rahmen des Großprojektes Fusion sowie in einer Initiative, an der sich die Universität Lübeck sowie das Uni-Klinikum Schleswig-Holstein beteiligt haben. Im Transfer-OP werden auch die Entwicklungen der Fusion-Industriepartner Dräger Medical, Siemens Medical Solutions und Karl Storz erprobt sowie die Geräteintegration. Fusion ist dabei auf Behandlungsmöglichkeiten von Krankheiten der inneren Organen, vor allem der Leber, spezialisiert. Die Erfahrungen aus dem Projekt sollen sich aber auf Lunge,Pankreas oder Gefäße übertragen lassen, und zukünftige Testmöglichkeiten für Hersteller werden alle Geräte betreffen, die Chirurgen verschiedener Richtungen im OP einsetzen. Im Rahmen der Messe Medica wird das Projekt der Öffentlichkeit vorgestellt.
Konkurrenz machen sich solche für Testzwecke entstehenden OP-Einrichtungen weder nach Ansicht des Tübinger Chirurgen Matern noch aus Sicht des Leipziger Experten Korb. „Was wir in Sachen CAS und Navigationssysteme im Kopfbereich tun“, sagt Korb, „ist zum Beispiel eine gute Ergänzung zum orthopädisch ausgerichteten Projekt Orthomit, und wir planen sogar gemeinsame Aktivitäten.“
Zusammenarbeit zwischen Forschern wie auch innerhalb der Industrie steht ohnehin hoch im Kurs: Viel mehr Standardisierungen als bisher üblich gelten als wichtige Voraussetzung dafür, spürbare Verbesserungen in der OP-Technik zu erreichen. Dass zum Beispiel Komponenten im Operationssaal in zentrale Datennetzwerke eingebunden werden müssen, bezeichnet Geschäftsleiter Christian O. Erbe als einen der wichtigsten Trends in der Medizintechnik. „Systeme, die perfekt in die logistische und systemtechnische Umgebung eingebettet sind“, sagt er, „werden Vorteile bringen, die sich auch als echte Kostenreduktion im Gesundheitswesen darstellen lassen.“
Viele Hersteller hätten bereits Plattformen geschaffen und deren Schnittstellen definiert, so dass andere Anbieter ihre kommunikationsfähigen Systeme daran betreiben könnten. Ein herstellerübergreifender Standard existiert noch nicht, aber Erbe ist überzeugt, dass „der Markt von den Anbietern medizintechnischer Produkte mit zunehmendem Nachdruck einen einheitlichen Kommunikationsstandard fordern wird“.
Auch in den Verbundprojekten Orthomit, Fusion sowie am Iccas beschäftigen sich die Forscher mit integrierten Plattformen und Datenstandards. Sie könnten den Verantwortlichen in den Krankenhäusern schon in der Phase der Planung die Arbeit erleichtern. „Es kann doch nicht sein“, sagt Iccas-Experte Korb, „dass heute ein Oberarzt mit Geräteherstellern diskutieren muss und den Aufbau des Operationssaales inklusive aller Schnittstellen verantwortet.“
Der nächste Schritt zum optimierten OP wird nach Ansicht von Korb und Matern daher wohl der Einsatz von Integratoren sein. Ähnlich Dienstleistern in der Automatisierung würden diese mit dem Chirurgen-Team besprechen, welche Anforderungen für einen Operationssaal bestehen, Geräte verschiedener Hersteller kombinieren und Vor- und Nachteile bestimmter Gerätetypen austarieren.
Die Wünsche des Mediziners Matern reichen sogar noch weiter: Geräte für den OP sollten in Zukunft am besten so einheitlich sein, dass die Grundfunktionen wie in einem Auto auf Anhieb ausgeführt werden können, ohne nachzudenken. „Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir eines Tages wirklich nur noch einen einzigen Standard haben werden, der alles – Anästhesie, Radiologie, Blutgasanalyse, Licht, Stromnetz und Klimaanlage – verbindet, bis hin zum Chirurgie Connector Interface, das Kabel und Anschlüsse von der Decke zuführt und den Boden komplett freihält. Es mag lange dauern bis dahin – aber Träumen ist erlaubt.“
Dr. Birgit Oppermann oppb@konradin.de
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