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Tragbar und smart

Wearable Computing: Fitnessbranche, Quantified Self Bewegung und neue Hardware wie Google Glass sorgen für Boom
Tragbar und smart

Ob Pulsschlag, gelaufene Meter oder Schlafrhythmus: Im Fitness- und Wellness-Bereich haben sich Wearables zur Messung von Gesundheitsindikatoren längst etabliert. Der medizinische Markt wird nun folgen, sind sich Experten einig. Neue Geräteformen wie Google Glass könnten für einen Boom sorgen.

50 Wörter per Twitter oder Google+ hat es vor kurzem im Gewinnspiel gebraucht, um das derzeit wohl weltweit begehrteste Wearable-Gadget zu erhalten: Google Glass, eine Datenbrille mit erweiterter Realität (Augmented Reality). Ein kleiner Bildschirm vor dem rechten Auge zeigt dem Träger Infos aus dem Internet wie Routenanweisungen oder Antworten auf Suchanfragen. Auf Kommando nimmt die integrierte Kamera Fotos und Videos auf. Per Google+ können Träger andere Nutzer live an ihren Erlebnissen teilhaben lassen. Eingaben und Anforderungen erfolgen via Sprachbefehl. Wie man die Brille nutzen kann, dafür hat Google auf seinen Internet-Seiten bereits einige Beispiele aus dem Alltag geliefert. Mehr Ideen mussten die Bewerber um die insgesamt 8000 Exemplare liefern, die im März für 1500 US-$ an die Tester ausgeliefert wurden.

Dass darunter auch viele Beispiele aus dem Gesundheitsbereich kamen, verwundert nicht. Denn Healthcare und Medical sind die Bereiche, in denen es nach Angaben von IMS Research die meisten Anwendungen für Wearable-Technologie, also tragbare Computer, gibt; rund 40 % des Gesamtmarkts macht er aus. Laut den Zahlen von ABI Research wurden im vergangenen Jahr etwa 30 Millionen Wearable-Geräte im Segment Gesundheit und Fitness verkauft, 2017 soll die Zahl schon bei 170 Millionen liegen. Das heißt, bis dahin wird der Markt jährlich um 41 % wachsen.
„Google Glass ist nur ein Beispiel für den Zukunftsmarkt der Wearables“, schreibt
Jody Ranck, Vorstandsmitglied der M-Health Alliance in einem Report für das US-Marktforschungsunternehmen Gigaom Pro. „Wearable Computing ist aber auch ohne die Datenbrille von Google bereits im Massenmarkt angekommen. Denn heute werden die Daten von Sensoren, wie etwa kontinuierlich messenden Glukosesensoren, auf das Smartphone übertragen. In Zukunft stehen dafür andere intelligente Geräte zur Verfügung“, sagt Christian Stammel, CEO der Wearable Technologies Services GmbH, Herrsching. Er hält die Marktprognosen von ABI Resarch für realistisch. „Alle großen IT-Anbieter verfügen über Abteilungen, die sich mit der Wearable-Entwicklung beschäftigen. Sobald der erste ein fertiges Produkt in die Läden bringt, wird der Markt durch die Decke gehen“, ist er sich sicher.
Googles Glass gibt er dabei die größten Chancen, zumal die Brille auf dem Android-Betriebssystem von Google basiert, das derzeit das am stärksten verbreitete Smart-
phone-Betriebssystem ist.
Doch auch Apple könnte das Rennen machen: Denn seit Monaten kursieren Gerüchte, dass das Unternehmen eine Art Armbanduhr entwickelt, die das Smartphone künftig ablösen könnte. Und Microsoft könnte auf Basis seiner Kinect-Hardware, die heute zur Steuerung der Spielekonsole Xbox per Bewegung und Sprache genutzt wird, eine Wearable-Computing-Plattform entwickeln, die auch für Anwendungen im Gesundheitsbereich geeignet ist. Microsoft hat zudem eine neue Steuerungsidee zum Patent angemeldet: Mit Electromyography (EMG) lassen sich Elektronikgeräte durch Muskelbewegung steuern. Ein auf der Technik basierender Controller könnte beispielsweise in der Form eines Armbands entwickelt werden, so wird gemunkelt. Zudem verfügt der IT-Riese mit Windows Mobile ebenso wie Google und Apple über ein Betriebssystem für mobile Geräte.
Die Betriebssysteme sind deshalb wichtig, weil Entwickler für neue Geräte künftig Anwendungen beziehungsweise Apps wie heute für Smartphones entwickeln werden – und Hersteller dann entscheiden müssen, für welche Plattform sie diese anbieten wollen.
Ob Brillen oder Armbänder künftig das Wearable-Rennen machen werden, ist heute noch offen. Und daneben gibt es eine Reihe weiterer Formen wie etwa smarte Textilien, Kontaktlinsen, winzige Bildschirme, Ringe, Armreifen, Hörgeräte-ähnliche Produkte oder sogar Haut-Tattoos. Allen gemeinsam ist, dass sie leicht am Körper getragen werden können und ständig mit dem Internet verbunden sind. Typischerweise bieten sie Zugang zu Informationen in Echtzeit und Möglichkeiten zur Dateneingabe, zur lokalen Datenspeicherung sowie zur Kommunikation und Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Und auch Augmented Reality (AR) wird zunehmend zum Thema für Wearables, wie das Beispiel Google Glass zeigt: So können Anwendungen entstehen, die Realität und Informationen aus Datenbanken miteinander verknüpfen. So hat der japanische Elektronikanbieter Omron beispielweise AR-Apps entwickelt, die Schilder und Speisekarten aus fremden Sprachen übersetzen. Im medizinischen Bereich lassen sich beim Anschauen eines Medikaments etwa Zusatzinformationen dazu auf den Wearable Computer liefern.
Technische Entwicklungen haben den neuen Formen der „tragbaren Computer“ den Weg bereitet. Dazu gehört vor allem der Übertragungsstandard Bluetooth 4.0 mit dem Profil Low Energy. „Damit sind heute schon fast alle Smartphones ausgestattet. Außerdem benötigen sie deutlich weniger Strom. Beide Faktoren begünstigen den Einsatz in Wearables für den Gesundheitsmarkt“, so Stammel.
Ein Smartphone und Bluetooth nutzt auch die I-Limb-Ultra-Handprothese des britischen Herstellers Touch Bionics, die sich mit einer App steuern lässt . Der Vorteil: Prothesenträger haben mehr Kontrolle über ihre Hand. Denn der Daumen ist durch Elektroden direkt mit dem Stumpf des Trägers verbunden und kann so Muskelimpulse wahrnehmen. Durch die Quick Grips Biosim Application kann die Prothese aber auch via Bluetooth mit dem iPad oder dem iPhone verbunden werden. 24 verschiedenen Griffen stehen zur Auswahl, die die Prothese nach Anklicken einnimmt. Daneben lassen sich individuelle Griffe einstellen und speichern. Somit kann jeder Träger die für ihn am besten geeigneten Stellungen finden.
Auch Near Field Communication (NFC) – also der drahtlosen Datenübertragung zwischen zwei mobilen Geräten – könnte künftig eine große Rolle bei der Konzeption von Wearables im medizinischen Umfeld zukommen – etwa für die schnelle Authentifizierung für den Zugang zu Krankenausdaten. Gekoppelt mit einem Passwort-Schutz könnte die Technik bisherige ID-Badges oder teure biometrische Systeme ablösen.
„Wichtig ist, dass die Geräte nicht sichtbar sind – und wenn, dann sollten sie gewissen Designansprüchen genügen, um nicht den Nimbus des Krankseins zu transportieren“, erklärt Stammel die Anforderungen der Patienten. Dies bestätigt auch Ranck: „Wir erwarten eine gegenseitige Befruchtung zwischen Mode- und Gesundheits-Markt. Viele Verbraucher sind unzufrieden mit medizinischen Geräten, die aussehen wie medizinische Geräte. Sie wollen eine Design-Anmutung von Produkten, wie sie etwa von Apple kommen.“ Die Hersteller von Fitness-Wearables machen vor, wie dies geht. Angefangen bei Nike über Jawbone bis hin zu Fitbit – sie alle zeigen, wie Wearables heute optisch aussehen müssen, um vom Markt akzeptiert zu werden.
Auch an Beispielen aus dem Infotainment-Markt können sich Hersteller aus dem Healthcare-Bereich orientieren, Stammel spricht hier vom Gamification-Trend. Ein gutes Beispiel dafür sei das interaktive Trainingssystem Micoach von Adidas.
Außerdem müssen die Anwendungen einfach zu bedienen sein, mahnt Stammel. Die Steuerung per Sprache oder Bewegung wie bei Google Glass sei definitiv der richtige Weg. Eine aktuelle Studie von Pew Internet und American Life Project unter rund 3000 US-Amerikanern unterstreicht dies nur zu gut: Demnach geben zwar sieben von zehn Befragten an, dass sie Gesundheitsindikatoren wie Gewicht, Nahrungsmittel und Bewegung verfolgen. 33 % beobachten Indikatoren wie Blutdruck, Blutzucker, Kopfschmerzen oder Schlafverhalten. Doch die Hälfte von ihnen erledigt dies schlicht im Kopf, 34 % schreiben es auf Papier auf – und gerade einmal jeder Fünfte nutzen irgendeine Form von Technologie dafür. „Anbieter im Gesundheitsbereich müssen Möglichkeiten zur Verfügung stellen, die es in punkto Komfort und Vertrautheit mit Notizbüchern sowie in punkto Einfachheit mit dem menschlichen Gehirn aufnehmen können“, mahnt Ki Mae Heussner, Analystin bei Gigaom Pro.
Zu den 20 % der Amerikaner, die IT-Technologie nutzen, gehört auch eine kleine Gruppe von Power Usern: Mitglieder der Quantified-Self-Bewegung, die mittlerweile auch Deutschland erreicht hat. Dabei handelt es sich um „Selbstvermesser“. Sie sammeln mithilfe von Wearables, Sensoren, Smartphones und Apps Daten über ihren eigenen Körper: Dazu gehören Gewicht, Temperatur, Blutzucker, Schlafrhythmus, aber auch Ess- und sogar Sexgewohnheiten. Alles wird gemessen und gezählt – und die Daten werden mit anderen Selbstvermessern ausgetauscht und verglichen. Natürlich gibt es Nerds darunter, die die technischen Möglichkeiten einfach ausprobieren wollen. Doch auch chronisch Kranke wie Diabetiker gehören dazu – und Patienten, denen Ärzte nicht weiterhelfen konnten. Etwa mit Schlafproblemen oder Migräne. Sie wollen durch das Sammeln von Daten den Ursachen auf den Grund gehen und damit ihr Leben verbessern. „Viele Ärzte sind zwar skeptisch. Doch ich sage: Das ist für die Leute eine Art Selbsthilfegruppe. Und wenn es hilft, soll es doch allen recht sein“, so Stammel. „Auf alle Fälle sind dies die First Mover in einem neuen Markt für Wearables. Sie zeigen letztlich, dass großes Potenzial in solchen Anwendungen liegt.“
  • Sabine Koll Journalistin in Böblingen
  • Weitere Informationen Zur B2B Vermarktungsplattform Wearable Technologies: www.wearable-technologies.com/ Zur Studie „The wearable computing market: a global analysis“ von Gigaom Pro: http://go.gigaom.com Zu Google Glass: https://plus.google.com/+projectglass

  • Durch die Google-Brille gesehen

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    Iltifat Husain MD, Assistenzarzt für Notfallmedizin und Gründer des Online-Magazins Imedicalapps.com, sieht Möglichkeiten, wie Augmented Reality und Google Glass die Medizin revolutionieren können:
    • Ein Notarzt, der bei einem Autounfall eintrifft, kann den Zustand und die Verletzungen des Patienten live an die Notaufnahme im Krankenhaus übertragen, während er sich um die Erstversorgung kümmert.
    • Chirurgen können Bilder von einer Operation live aus dem OP übertragen und damit Studenten beispielsweise zeigen, welche Arbeiten sie vornehmen.
    • Pfleger können bei Hausbesuchen den Zustand ihrer Patienten aufnehmen und direkt an den behandelnden Arzt schicken.
    • Ein Kardiologe kann sich beim Einsetzen eines Katheters die Fluoroskopie auf der Brille einblenden lassen.
    • Die Krankenschwester kann sich bei der Medikamentenvergabe absichern, dem richtigen Patienten das richtige Präparat zu verabreichen, und zwar durch das Einblenden des entsprechenden Patientenprofils.
    • Behandelnde Mediziner im Krankenhaus erhalten, wenn sie an das Bett eines Patienten treten, über das Display alle nötigen Informationen über ihn wie zum Beispiel Angaben zu den vitalen Funktionen wie Puls, Blutdruck oder Sauerstoffwerte.
    • Der Apotheker kann Medikamente scannen und diese Daten mit einer Bilderdatenbank abgleichen, so dass er sicher gehen kann, das richtige Medikament auszugeben.
    • Elektronische Patientenakten lassen sich über Google Glass für Ärtze und Pflegekräfte immer aktuell halten. Werden beispielsweise im Labor MRSA-Bakterien in der Wunde eines Patienten festgestellt, kann der behandelnde Arzt das Antibiotikum ändern.

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