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Tischlein, reck Dich

Industrial Design: Die besten Ideen generieren Gestalter und Ingenieur im Doppelpack
Tischlein, reck Dich

Form und Farbe sind in der Medizintechnik wichtig – aber erst in zweiter Linie, denn selbst komplexe Geräte müssen unter Stress beherrschbar sein. Den Blick für entscheidende Bediendetails haben Designer. Als Entwicklungpartner geben sie den Ingenieuren wertvolle Tipps und haben genug Mut für radikale Ideen.

Wenn sich Dr. Jose Luis Moctezuma de la Barrera, Senior Director Advanced Technology bei Stryker Instruments, auf den Weg zu seinen Kunden – vorrangig den Ärzten – macht, will er den Bedarf für neue Verfahren und Werkzeuge ausloten. Trotz seiner Erfahrung lässt er sich dabei gerne von dem Industriedesigner Raimund Erdmann begleiten, dem Chef der Erdmann Design AG aus Brugg in der Schweiz. „Denn als Ingenieur sieht man die Welt mit einer ganz bestimmten Brille“, erläutert Moctezuma. „Vor allem ist man daran interessiert, technische Probleme zu lösen.“ Dies sei aber nicht alles, denn schließlich komme es auf die Gestaltung einer Lösung an. „Im Ergebnis kann sie funktionieren, aber überlegen ist eine ebenfalls funktionierende, gut gestaltete Lösung.“

Vorrangig geht es dabei nicht um das optische Erscheinungsbild, sondern um die Bedienerfreundlichkeit. „Je früher der Designer in den Entwicklungsprozess involviert ist, desto eher werden neue Wege beschritten“, ist Forscher Moctezuma überzeugt. „Wenn es um die Machbarkeit geht, müssen neben Fragen der Technik auch solche der Bedienbarkeit geklärt werden.“ Ein Designer beobachte die Chirurgen bei der Arbeit und könne mit seinem geschulten Auge Bediendetails schnell erfassen. Im Dialog zwischen Ingenieur und Designer entstehe so eine Lösung, die ergonomischen Aspekten gerecht wird.
Zudem würde die technische Ausstattung der Kliniken ständig komplexer, ergänzt Michael Häusler, Direktor Produktmanagement bei der Maquet GmbH & Co. KG in Rastatt. „Leistungsstarke Produkte ersetzen veraltete Technik und bieten deutlich bessere Voraussetzungen für die Behandlung der Patienten.“ Häufig steige damit der Schwierigkeitsgrad beim Bedienen. „Dies schmälert den tatsächlichen Nutzen einer Produktneuheit erheblich und kann im schlimmsten Fall sogar Patient oder Anwender gefährden.“
Auch Häusler lässt sich deswegen gerne von dem Industriedesigner Jürgen R. Schmid, dem Chef von Design Tech aus Ammerbuch unterstützen. „Anstelle einer Addition sämtlicher Funktionen kann der Designer – quasi als Architekt – mit ordnender Hand Prioritäten setzen“, bestätigt Schmid. „Die Bedienelemente sollten einheitlich und ergonomisch auf den Operateur ausgerichtet sein, damit dieser den Überblick behält und effizient sowie ermüdungsfrei – auch in Stresssituationen – arbeiten kann.“
Ein Design-Element, mit dem sich Geräteeinstellungen schnell anwählen und verändern lassen, ist der sogenannte ,Dräger-Knopf‘, der sich bei der Dräger Medical AG & Co. KG seit 1989 bewährt hat. „Dieser Knopf vermeidet dank seiner intuitiven Bedienphilosophie Eingabefehler und verbessert so die Patientensicherheit“, erläutert Bernd Fabian, Vice President Product Management, Critical Care, bei Dräger in Lübeck. „Je selbsterklärender ein Produkt ist, desto effektiver und letztlich wirtschaftlich effizienter kann klinisches Personal arbeiten.“ Nicht zuletzt ginge es darum, dass Patienten und Angehörige sich in der klinischen Umgebung so wohl wie möglich fühlten, um den Genesungsprozess zu unterstützen. „Je weniger abschreckend medizinische Geräte und Systeme aussehen, desto besser.“
Dass medizinische Apparaturen oft schlecht handhabbar sind und nicht nur beim Patienten Angstgefühle auslösen können, weiß Designer Erdmann zu berichten. „Ergonomisches Design kann deshalb die Behandlungsqualität erhöhen.“ Was das konkret bedeutet, zeigt Andreas Ippisch, Project Manager bei der Stryker Leibinger GmbH & Co. KG in Freiburg, am Beispiel des neuen, batteriebetriebenen Schraubendrehers Quick Drive Mini auf. „Das Gerät darf den Operateur nicht behindern, das Sichtfeld muss frei sein und das Werkzeug selbst ausgewogen.“ Nur wenn der Zeigefinger keine Haltekraft aufbringen müsse, könne der Arzt mit ihm feinfühlig die Schraubgeschwindigkeit bestimmen.
Mit Hilfe der Designer hat Stryker hier nicht nur ein neues Konzept entwickelt, sondern gleichzeitig den Entwicklungsprozess neu gestaltet. Basierend auf einer Grundskizze, bei der Komponenten, Gehäuse und Schalter unter technischen Aspekten ausgelegt wurden, suchte man zusammen mit den Designern nach einer Vision für das kommende Werkzeug. „Mit einem nicht funktionstüchtigen Prototypen sind wir dann vor Ort zu den Anwendern gegangen“, fährt Ippisch fort. Die Ärzte prüften die Handhabbarkeit und äußerten Wünsche, die wiederum von Ingenieuren und Designern aufgegriffen wurden.
Entstanden sei so schließlich ein Werkzeug, das durch seine Ausgewogenheit kein Fremdkörper in der Hand des Chirurgen ist, berichtet Ippisch stolz. „Der Operateur kann mit dem DMS-Schalter – also einem kraftsensitiven Dehnungs-Messstreifen – sehr intuitiv die Schraubgeschwindigkeit beeinflussen.“ Vor allem schreibe die äußere Form dem Anwender nicht vor, wie er das Gerät halten müsse. Rechts- und Linkshänder könnten gleichermaßen in der angenehmsten Position arbeiten, ohne dass vorgegebene Konturen dies beeinflussten. „Gerade dieser Aspekt ist für die Ärzte wichtig, da sie je nach Lage des Patienten das Werkzeug in verschiedenen Positionen einsetzen können müssen.“
Um diesen Aspekt ging es auch beim Entwickeln des OP-Tisch-Systems Magnus von Maquet, was die Designer gefordert hat. „Zunächst haben wir uns am Standard orientiert, dessen Schwachstellen recherchiert und Operateure befragt“, berichtet Jürgen Schmid. Daraus entstand die Idee, die Lagerfläche des OP-Tisches modular aufzubauen, damit sie sich optimal an den jeweiligen Eingriff und die individuelle Körpergröße des Patienten anpassen lässt.
Daraus ergeben sich allerdings eine Vielzahl motorischer Verstellmöglichkeiten, die das Klinikpersonal beherrschen muss. Dass der Tisch bediensicher ist, beruhe auf einer sorgfältigen Analyse der Abläufe im OP, ergänzt Maquet-Mitarbeiter Häusler. „Nicht die Technik, sondern der Mensch steht im Mittelpunkt des Bedienkonzeptes.“ Je nach Art des Eingriffs wird die Lage des Patienten auf dem OP-Tisch gewählt und dem System über das Bediengerät mitgeteilt. „Diesen Vorgang nennen wir Patient-Mapping und stellen so den Zusammenhang zwischen Mensch und Maschine her.“ Die einzelnen Tasten des Bediengerätes seien nicht etwa der Bein- oder Rückenplatte fest zugeordnet, sondern der Anwender selektiere, welches Körperteil des Patienten bewegt werden soll. „Unterstützt von selbsterklärenden Symbolen und einem Display, lässt sich so die Fülle der Funktionen nicht nur jederzeit beherrschen, sondern der Arbeitsablauf auch erleichtern“, so Häusler weiter.
Ähnliche Gedanken trieben auch die Entwickler bei Dräger. Ihr Infinity Acute Care System arbeitet komplett vernetzt und integriert Patientenüberwachung, Therapie und Informationsmanagement im Krankenhaus quer durch alle Bereiche. „Da es sich um ein einheitliches, übergreifendes System handelt, muss sich dies auch in identischen Schriften und Farbkonzepten je nach Anwendung widerspiegeln“, berichtet Dräger-Manager Fabian. Formgebung und Zugänglichkeit der Daten spielten hier eine wesentliche Rolle. Sicherheitsaspekte wie die intuitive Handhabung wurden im Design realisiert. „Innerhalb des Systems soll zukünftig das Medical Cockpit die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine bilden und alle Elemente vereinen, um den Patienten zu behandeln und zu überwachen.“
Die Interaktion zwischen Mensch und technischem System ist auch an einer anderen Stelle von großer Bedeutung, nämlich bei der Software. Der wachsende Umfang biologischer Daten muss visualisiert werden, um Orientierung zu bieten. „Hierbei dürfen wir nicht den Fehler wiederholen, der bei der Robotik gemacht wurde“, erläutert Designer Erdmann. Diese habe den Menschen, den Mediziner, vernachlässigt und sei deshalb auf Ablehnung gestoßen. „Heute ersetzt Navigation die Robotik. Dabei steht der Mensch im Mittelpunkt, er wird bei seiner Arbeit unterstützt.“
Gerade wenn es um die Software geht, spielt das Thema Grafikdesign eine große Rolle – „und das gehört nicht unbedingt zu den Kernkompetenzen der Softwareentwickler“, ergänzt Martin Stangenberg, Software Architect bei Stryker Leibinger. „Hier hat der Designer natürlich ein viel besseres Auge für die Benutzerschnittstelle, was die Ästhetik und eine gewisse Durchgängigkeit angeht.“ Keineswegs gehe es allein um die Optik. „Heute interessieren uns vor allem die Gebrauchstauglichkeit der Software, die Arbeitsabläufe.“
Das Konzept für die Benutzerführung entwickeln die Freiburger zunächst selber. Im Anschluss tauchen dann immer wieder Reibungspunkte zwischen Ergonomie und Optik auf. „Wenn es aus ergonomischen Gründen Sinn macht, eine Schaltfläche an einer bestimmten Stelle zu platzieren, kann dies der Ästhetik schaden“, so Stangenberg weiter. Hier könne der Designer helfen. „Ein typisches Merkmal speziell von Erdmann Design ist die Reduktion auf das Wesentliche der Interaktion. Auf Details, die eher von der Aufgabe ablenken, wird verzichtet.“ Das räume den Bildschirm schon ganz gewaltig auf.
Designer Schmid wünscht sich für die Zukunft, dass noch innovativere und radikalere Ansätze diskutiert werden, was aber nur ohne Zeitdruck möglich sei. „Firmen mit Führungsanspruch sollten deshalb dauerhaft in einer Art Zukunftswerkstatt interdisziplinär 15 bis 20 Jahre vorausblicken und -denken.“ Dem Design käme dabei eine moderierende Rolle zu, bei der Material- und Verarbeitungstechniken sowie die Integration der eigentlichen Medizintechnik bis hin zu Marktuntersuchungen im Blick zu behalten seien. So könnten laut Schmid in Zukunft sogar „Sensorik oder intelligente Textilien Druckstellen bei liegenden Patienten erkennen“.
Michael Corban Fachjournalist in Nufringen
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