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Sachorientiert, aber nicht in allen Punkten zielführend

Medizinprodukterichtlinie-Revision: Eine erste Einschätzung und Bewertung
Sachorientiert, aber nicht in allen Punkten zielführend

Sachorientiert, aber nicht in allen Punkten zielführend
Patientensicherheit ist ein hohes Gut, dass durch die Revision der Medizinprodukterichtlinie noch stärker geschützt werden soll. Über das „Wie“ sind nicht alle einer Meinung Bild: Weinmann
Das Europäische Parlament diskutiert die von der Kommission vorgelegte Revision der Medizinprodukterichtlinie. Für die Branche ein wichtiger Prozess, da hiermit die Rahmenbedingungen für die Arbeit in Europa bestimmt werden.

Maßgeblichen Einfluss auf die Neufassung der Medizinprodukterichtlinie hatte der Skandal um die Brustimplantate des französischen Herstellers PIP (Poly Implant Prothèse). Dieser hatte Prüfbehörden getäuscht und illegal minderwertiges Industriesilikon verarbeitet, das im Verdacht steht, gesundheitsgefährdend zu sein.

Ziel der Überarbeitung der Medizinprodukterichtlinie soll daher insbesondere eine Stärkung der Patientensicherheit sein. Zugleich soll der regulatorische Rahmen aber auch Innovationen und die Wettbewerbsfähigkeit der Medizintechnikindustrie unterstützen und innovativen Medizinprodukten einen schnellen und kosteneffizienten Marktzugang ermöglichen.
Bei einer ersten Bewertung der Revision in der vorliegenden Form fallen mindestens zwei Punkte ins Auge, die einer innovationsfördernden Wirkung der neuen Medizinprodukterichtlinie im Wege stehen: Das sind der Premarket Approval und das Thema Nanotechnologie.
Zum geplanten Premarket Approval
Im Rahmen des Marktzugangs bietet das bisherige System aus Sicht des Verbandes Spectaris schon alle notwendigen und sinnvollen Maßnahmen, um die Patientensicherheit gewährleisten zu können. Dieses System gilt es durch eine effektivere Marktüberwachung und ein Monitoring der Benannten Stellen zu stärken. Alle Maßnahmen, die weitere Hürden für den Marktzugang mit sich bringen, können kein Mehr an sinnvollem Patientenschutz bieten. Aber sie gefährden die Innovationskraft der Branche. Entsprechend kritisch ist die geplante Implementierung eines zusätzlichen und aufwendigen Begutachtungsprozesses zu sehen, der vor dem Inverkehrbringen von Medizinprodukten der Risikoklasse III angesiedelt werden soll.
So wird in Artikel 44 der neuen Medizinprodukterichtlinie die Möglichkeit gegeben, dass eine „Koordinierungsgruppe Medizinprodukte“ die vorläufige Einschätzung der Benannten Stellen von Klasse-III-Produkten kommentiert. Eine solche Koordinierungsgruppe wäre ein Expertenkreis, bestehend aus Vertretern der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Dieses „Premarket Approval“ würde eine beträchtliche zeitliche Verzögerung bei der Markteinführung neuer Produkte bedeuten, ohne dem Patienten zusätzliche Sicherheit zu bieten.
Zum Einsatz von Nanomaterialien
Die Neufassung der Medizinprodukterichtlinie sieht in der neuen Klassifizierungsregel Nr. 19 vor, dass „alle Produkte, die Nanomaterial enthalten, Klasse-III-Produkte werden, es sei denn, dass Nanomaterial in einer Weise fest eingebunden ist, dass es nicht freigesetzt werden kann“.
Diese Forumulierung stößt in der Branche auf allgemeine Skepsis. So sind die Medizintechnikunternehmen der Auffassung, dass bei der Nutzung eines Medizinproduktes stets Partikel, die unter die Definition „Nanopartikel“ fallen, freigesetzt werden können. Das gilt zum Beispiel für Farbpartikel oder Füllstoffe. Eine absolut feste Einbindung solcher Partikel könne nie garantiert werden. Eine „Null-Prozent-Freisetzungs-Garantie“, wie sie jetzt gefordert wird, könnte für viele bestehende Produkte nicht gegeben werden – selbst wenn diese gar keine beabsichtigte Freisetzung von definierten Partikeln vorsehen und bereits durch das Risikomanagement der bestehenden Regulierung bewertet werden. Eine erhebliche Zahl solcher Produkte würde in der Folge in die Klasse III hochgestuft werden, was mit einem entsprechend größeren regulatorischen Aufwand und damit höheren Kosten für die Zulassung verbunden wäre.
Die Sonderbehandlung von Nanomaterial ist nach Ansicht der von Spectaris befragten Experten aus der Medizintechnik-Branche nicht sachgerecht: Andere mögliche Gefahrenträger wie mutagene oder krebsauslösende Substanzen werden bei der Klassifizierung nicht separat aufgeführt, sondern sind in der grundsätzlichen Risikobewertung entsprechend zu berücksichtigen.
Weitere Schwachstellen
Schwammig bleibt der Entwurf hinsichtlich der Wiederaufbereitung von Einmalprodukten. Es soll möglich bleiben, Produkte, die der Hersteller nur für den einmaligen Gebrauch zertifiziert hat, aufzubereiten und wieder zu sterilisieren. Auch wenn die Auflagen hoch sind und einzelne Länder (wie bisher Frankreich) dies weiterhin untersagen dürfen, wird diese Regelung als unzureichend im Hinblick auf den Patientenschutz bewertet.
Im Hinblick auf das Inverkehrbringen von Ersatzteilen enthält der Entwurf der Verordnung zwar einige Anforderungen. Die Reparatur von Medizinprodukten bleibt jedoch auch im derzeitigen Verfahrensstand gänzlich ungeregelt. Auch hier gilt es im Sinne der Patientensicherheit, hohe Qualitätsstandards zu setzen.
Fazit
Die Revision der Medizinprodukterichtlinie ist aus Sicht der von Spectaris befragten Experten nach einer ersten Bewertung als sachorientiert zu bewerten, enthält gleichwohl aber kritische Punkte. Es scheint sich die Auffassung zu verfestigen, dass eine höhere Patientensicherheit mit noch höheren Marktzugangshürden gewährleistet werden soll. Diese Auffassung ist aus Sicht des Verbandes so falsch wie gefährlich. So dreht man hier an einer Stellschraube, mit der einerseits kein Mehr an Sicherheit erreicht, andererseits aber durchaus ein Weniger an Innovationen geschaffen werden kann.
Wer mehr Sicherheit für den Patienten will, muss daher bei der Marktüberwachung ansetzen und Kontrollen verschärfen. Dazu gehört auch ein besseres Monitoring der Benannten Stellen. Ihre Arbeit gilt es europaweit schärfer zu überprüfen und zu vereinheitlichen sowie Verstöße zu sanktionieren. Dies gilt genauso für deren außereuropäische Ableger, die Produkte für den EU-Raum zertifizieren.
Bekannte Schwachstellen, wie die im Ergebnis nie wirklich kontrollierbare Wiederaufbereitung von Einmalartikeln oder die oft mangelhafte Reparatur anspruchsvoller Medizinprodukte, sollten im Sinne einer bestmöglichen Patientensicherheit an so hohe Standards gebunden sein wie die Herstellung von Originalprodukten – nur das ist konsequent. Wer hier investiert, wird Skandale wie PIP zwar auch nie ganz ausschließen können. Gleichwohl wäre der Nutzen für die Patientensicherheit ungleich höher als der, der durch verschärfte Marktzugangsregelungen zu erreichen wäre.
Jan Wolter Leiter des Fachverbandes Medizintechnik bei Spectaris, Berlin
Weitere Informationen Zum Branchenverband Spectaris: www.spectaris.de

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