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Prinzip MP3 auch für Herzsignale

IT für die Auswertung: Algorithmus reduziert Datenflut in der Herzforschung
Prinzip MP3 auch für Herzsignale

Forscher der Berner Fachhochschule ertüftelten einen Algorithmus, welcher – in einen Chip integriert – konfigurierbar ist und in der Herzforschung mit Mikroelektroden nur noch relevante Daten aufzeichnet. So reduziert sich die Datenauswertung von bisher Tagen auf eine Verarbeitung in Echtzeit.

Herzrasen, wie beispielsweise Kammerflimmern, ist heute eine häufige Todesursache. Daher wollen Kardiologen Patienten mit lebensgefährdenden Herzrhythmusstörungen möglichst früh identifizieren und Therapien für ihre Behandlung entwickeln.

Um zunächst mehr über die Funktionsweise von Herzzellen zu erfahren, zapfen heute die Forscher mit feinsten Mikroelektroden die Membranen tierischer Zellen an. Auf Multi-Elektroden-Arrays (MEA) sind oft mehrere hundert mikroskopisch kleine Elektroden angebracht, welche die Zellen elektrisch stimulieren und ihre elektrophysiologischen Reaktionen messen.
Da die Anzahl der Elektroden in den letzten Jahren ständig erhöht wurde, stoßen die verfügbaren Software-Lösungen zur Verarbeitung der Elektrodensignale heute an ihre Grenzen. Misst man beispielsweise mit einem 1024-Elektroden-Array, entsteht eine Datenmenge von über 70 GByte pro Stunde. Prof. Stephan Rohr, Geschäftsführender Direktor am Institut für Physiologie der Universität Bern, fragte deshalb die Berner Fachhochschule (BFH), ob es möglich wäre, elektrische Erregungsmuster, die von extrazellulären Elektrodenarrays über Tage hinweg erfasst werden, sofort zu erkennen und auszuwerten.
Unter den Erregungsmustern stehen für die Herzforscher die so genannten Aktionspotenziale im Fokus des Interesses. Diese elektrischen Signale lösen die Kontraktion der Herzmuskelzellen aus. Sie werden im Normalfall vom Schrittmacher des Herzens erzeugt und breiten sich gleichförmig über die gesamte Herzmuskulatur aus. Bei Arrythmien sind Bildung und Ausbreitung der Aktionspotenziale gestört.
Um das zu detektieren, müssen die Wissenschaftler heute alle Elektrodensignale auswerten, was selbst mit modernsten Rechnern Tage dauern kann. Als jedoch die Forscher am Institute of Human Centered Engineering der BFH einzelne Elektrodensignale unter die Lupe nahmen, bemerkten sie, dass die Ruhephasen zwischen Aktionspotenzialen substanziell sind. Diese eliminierten sie und konzentrierten sich auf das Wesentliche: auf die auf Aktionspotenzialen beruhenden ‚peaks‘, welche höchstens 10 % der für die Forschung wichtigen Signale ausmachen. Dazu entwickelten sie unter Projektleiter Prof. Dr. Volker M. Koch einen Hardware-Algorithmus, der die Daten in Echtzeit verarbeitet und so den Rechenaufwand auf ein Minimum reduziert.
„Mit unserer Verarbeitungsmethode konnten wir die Datenmenge um mindestens 90 Prozent reduzieren“, bilanziert Projektingenieur Jonas Reber, der das Projekt mit Christian Dellenbach bearbeitete. „Durch die Visualisierung der Daten in Echtzeit erreichen wir ein direktes Feedback – eine Basis für bisher nicht realisierbare Experimente und völlig neue Erkenntnisse.“
Dank dieser Neuerung erhalten Herzforscher Einblick in die Ursachen von Herzrhythmusstörungen auf Zellebene und können wirksamere Therapien und Medikamente entwickeln. Kein anderes Verfahren kann Daten bereits während der Messung auf das Wesentliche reduzieren. „Meines Wissens handelt es sich hier um das erste Messsystem, das eine Auswertung und Visualisierung der Erregungsausbreitung in Netzwerken erregbarer Zellen in quasi realtime ermöglicht“, bilanziert Prof. Stephan Rohr.
Dies erschließt Anwendungen in der Grundlagenforschung, für die Untersuchung elektrischer Erregungsmuster in Herz- oder in neuronalem Gewebe. „Wir setzen das System ab sofort für die Erforschung zellulärer Mechanismen ein, die Herzrhythmusstörungen zugrunde liegen“, erklärt der renommierte Herzforscher. „Das BFH-System erlaubt uns, den Einfluss von Interventionen auf die Erregungsausbreitung direkt zu sehen und den Weitergang der Experimente parallel zu planen. Bis jetzt mussten wir mehrere Stunden, ja oft Tage darauf warten, bis wir erste Daten sichten konnten.“
Für Prof. Koch sind solch komplexe Fragestellungen der ideale Stoff für innovative Forschungsaktivitäten: „Die Lösungsansätze wirken stimulierend auf weitere Projekte, den Technologietransfer in die Wirtschaft, wie auch den Unterricht.“
Elsbeth Heinzelmann Fachjournalistin in Bern

Chip als Herzstück
Die in Bern entwickelte Messeinrichtung besteht aus einem Multi-Elektroden-Array, einer Analogschaltung mit AD- und DA-Wandler sowie einem eigens entwickelten FPGA-Board (Field Programmable Gate Array). Dazu gehört ein Computer mit Datenerfassungs- und Visualisierungssoftware.
Die Daten der Herzmuskelzellen durchlaufen den Hardware-Algorithmus im FPGA, der Aktionspotenziale detektiert und sie ausmisst. Erkannte Aktionspotenziale und deren Messwerte werden zwischengespeichert und per USB an den Computer übertragen. Der FPGA setzt zudem die Steuerbefehle des Computers um, steuert das Multi-Elektroden-Array an und koordiniert die Digitalisierung der Signale sowie die Signalausgabe an das Oszilloskop.
Das Multi-Elektroden-Array schaltet auf die vom FPGA adressierte Elektrode um, die Analogschaltung verstärkt das Signal und kompensiert den Signal-Offset. Die Peripherie bereitet das zeitlich verschachtelte Signal derart auf, dass das gewünschte Elektrodensignal isoliert am Oszilloskop angezeigt wird. Mit dem Computer kann der Operator die Messung steuern. Während der Messung visualisiert die Software die Daten und speichert sie kontinuierlich ab.
Interessant ist, dass sich dank der spezifischen Konfiguration interner Strukturen in einem FPGA verschiedene Schaltungen von geringer bis höchster Komplexität realisieren lassen. Die Schaltung lässt sich auch flexibel modifizieren, so dass implementierte Funktionen nachträglich ohne Veränderung der physischen Hardware verbessert werden können.

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