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Netze und Knorpel nach Maß

Technische Textilien: Hightech-Materialien für Therapie und Chirurgie
Netze und Knorpel nach Maß

Ist von Hightech die Rede, sind immer häufiger technische Textilien dabei. Zumindest medial unterbelichtet, sind sie inzwischen branchenübergreifender Innovationsmotor – nicht nur in der Luftfahrt, dem Automobilbau oder in der Bekleidungsindustrie, sondern auch verstärkt in der Medizin.

Die deutsche Textilforschung leistet nach Einschätzung von Dr. Klaus Jansen, Geschäftsführer des Forschungskuratoriums Textil e.V., mit neuen Materialien, Textilen Überwachsungssystemen und Implantaten anwendungsnahe Beiträge zur Gesundheitsverbesserung. „Jahr für Jahr kommen aus den uns angeschlossenen 17 Instituten und unterstützt durch öffentliche Gelder von BMWi und BMBF rund ein Dutzend textilbasierte Gesundheitsinnovationen.“ Sie zielen etwa als Hautersatz zur Behandlung schwerer Verbrennungen (ITV Denkendorf), partikelarme Bauchtücher (TITV Greiz) oder polymerbasierte Stents mit Gedächtniseffekt (ITA Aachen) auf die Bereiche Medizintechnik, Biotechnologie, Pharmakologie und Pflegedienstleistungen. Anwendung finden technische Textilien nicht nur im Krankenhaus, sondern auch als Kleidungsstücke mit integrierter Sensorik in Diagnostik und Therapie (Smart Textiles).

Textile Implantate wie Herniennetze und kettengewirkte Gefäßschläuche aus Polyester, mit denen Chirurgen kranke Blutgefäße ersetzen, werden vom Körper besonders gut angenommen. Die am häufigsten eingesetzten Textilimplantate sind Gefäßprothesen und vor allem Herniennetze. Allein in Deutschland gibt es jährlich mehr als 200 000 Hernienoperationen, zumeist Leistenbrüche. Die Netze, in der Regel aus Polypropylen gewirkt, werden vom Chirurgen in einer offenen Operation oder minimalinvasiv eingebracht, um den Bruch zu verschließen und das Gewebe zu verstärken.
Obwohl sich Herniennetze vielfach bewährt haben, verursachen sie doch gelegentlich Probleme. Am häufigsten kommt es zu einer verstärkten Narbenbildung als Reaktion des Körpers auf das fremde Gewebe, die vom Patienten als schmerzhafte Verhärtung wahrgenommen wird. In einem vom Freistaat Bayern finanzierten Verbundvorhaben haben Ärzte der Universitätsklinik Regensburg, Wissenschaftler des Institutes für Textil- und Verfahrenstechnik in Denkendorf (ITV) der Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung in Denkendorf und die GfE Gesellschaft für Elektrometallurgie mbH in Nürnberg ein Verfahren entwickelt, um Kunststoffimplantate biokompatibler zu gestalten.
„Von Hüftgelenken weiß man, dass Titan vom Körper sehr gut angenommen wird, während die meisten Kunststoffe hydrophob, also wasserabweisend, sind und vom Körper schnell als Fremdkörper erkannt und mit Narbengewebe ‚abgekapselt’ werden“, so der Biomediziner Dr. Michael Doser, Vize-Direktor des ITV. Der Trick bestehe jetzt darin, mit einem von der GfE entwickelten Verfahren die Fasern mit einer dünnen, fest verankerten, 100 nm dicken Titanschicht zu versehen. Damit bleiben die flexiblen Eigenschaften der Fasern bestehen.
Bei künstlichen Ohrmuscheln geben Wissenschaftler der TU Dresden mit ihren Forschungen den Ton an. Dafür wurde am TU-Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik (ITM) das Verfahren Net Shape Nonwoven für die Materialmodellierung zum Einsatz in der rekonstruktiven Chirurgie entwickelt. Inzwischen werden bereits auf Basis spezieller Vliesstoff-Materialien sogenannte Scaffolds (verfestigte 3D-Zellträger-Strukturen) hergestellt. Das individuelle, biokompatible Zellgerüst wird direkt aus den Daten einer dreidimensionalen Geometrie „gebaut“: Sie stammen aus CT-Bildern oder von einem Scanner. Die Bilddaten werden in einem CAD-System in verschiedene Ebenen zerlegt, die wiederum aus parallelen Rasterlinien bestehen. Die Verläufe dieser Linien lassen sich in einen NC-Code übersetzen. Dieser steuert dann in der Prototyping-Anlage die Fahrwege einer Klebstoffdüse, die die auf eine Metallunterlage aufgestreuten Mikrofasern Schicht für Schicht – nach UV-Aushärtung – zusammenklebt. So wächst die exakte Nachbildung einer maßgeschneiderten Zellstruktur für ein Hartgewebe-Implantat im Kniegelenk oder eben für ein Ohr. Im nun fertigen porösen Ohrgerüst etwa werden bei einem Dresdner Industriepartner lebende Zellen in vitro kultiviert und vermehrt. In dem Maße, in dem sich Gewebe im Sinne eines definierten Zellverbandes entwickelt, bauen sich zugleich die resorbierbaren Fasermaterialien ab.
„Unsere derzeitigen Untersuchungen konzentrieren sich auf die Herstellung von Biomaterialien und die anforderungsgerechte Konfiguration der Scaffolds hinsichtlich Porengröße“, so Dr.-Ing. Ezzedine Laourine, Forschungsgruppenleiter Bio- und Medizintextilien des ITM.
Einen Innovationsschub verspricht auch die Integration von Mess- und Stimulationsfunktionen in Kleidungsstücke. So ausgestattete Textilien erfassen die Vitalparamter des Trägers oder dienen der Elektromyostimulation zur Anregung von Muskelkontraktionen. Um den Tragekomfort zu verbessern, hat das Textilforschungsinstitut Thüringen-Vogtland e.V. TITV Greiz ein vom BMWI mit öffentlichen Mitteln gefördertes Projekt aufgelegt. Für gewöhnlich werden zur Elektromyostimulation Ag-/AgCl-Klebeelektroden eingesetzt, die an entsprechenden Punkten auf der Hautoberfläche mit einem Klebegel fixiert werden. Grundlage für die neuen Sensoren ist Elitex, ein vom TITV entwickeltes leitfähiges Garn, das den Thüringer Forschungspreis 2008 zuerkannt bekommen hat. Die daraus gewebten und gestickten Elektroden werden direkt in verschiedene Trägermaterialien wie Bandagen, spezielle Trainingshosen oder Shirts eingearbeitet.
Eines der jüngsten Projekte aus der Textilforschung n sind therapeutisch aktive Wundauflagen mit regulierter Wirkstoffabgabe. Sie können chronisch Kranken spürbare Entlastung durch schnellere Wundheilung bringen. Ein entsprechender Therapieansatz erhielt den mit 10 000 Euro dotierten Innovationspreis textil+mode 2009.
Vieles, was in den textilwissenschaftlichen Forschungslaboren reift, hat sich unter der breiten Fachöffentlichkeit noch kaum herumgesprochen. „Als Dachorganisation mitverantwortlich für den Transfer der Neuheiten in die Praxis, sind wir noch nicht mit Volumen und Tempo der Kooperation zwischen Wissenschaft, Industrie und Kliniken zufrieden“, bedauert Dr. Jansen, Chef des in Berlin ansässigen Textilforschungskuratoriums. „Wir benötigen einen engeren Kontakt in unsere Zielbranchen“, umreisst Dr. Klaus Jansen die Herausforderung. Aus seiner Sicht müssten Textilforscher und Mediziner kontinuierlicher ins Gespräch kommen. Nur so könnten zukunftsweisende Entwicklungen für die Gesundheits- und Medizinbranche bedürfnisgenau und zeitnah erfolgen.
Norbert Hüls Fachjournalist in Berlin
Heilung durch textile Wundauflagen mit regulierter Wirkstoffabgabe

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