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Letzte Ausfahrt für Promillesünder

Alkoholtest im Auto: Kontrolle vor dem Start
Letzte Ausfahrt für Promillesünder

Weltweit wird das Fahren unter Alkohol sanktioniert. Die Niederländer setzen dabei nicht nur auf Strafe, sondern auch auf Kontrolle und Rehabilitation. Wer mit mehr als 1,3 Promille erwischt wird, darf den Führerschein behalten – unter bestimmten Bedingungen.

Wenn Patrick van Vugt in sein Auto steigt, legt er nicht nur den Sicherheitsgurt an, sondern greift auch ganz selbstverständlich zum Dräger Interlock XT. Ein kräftiger Atemstoß in das Mundstück, und schon kann er den Motor starten. Für den Dräger-Manager ist das eine freiwillige Selbstkontrolle und – nun ja – auch ein wenig Promotion für ein Produkt, das nützt und schützt. Für die mehr als 1000 Niederländer, die auch mit dieser atemalkoholgesteuerten Wegfahrsperre im Auto unterwegs sind, ist das jedoch eine richterliche Anordnung. Denn sie wurden stark alkoholisiert von der Polizei aufgegriffen.

Die neue Ära begann am 1. Dezember 2011. An diesem Tag startete nach vier Jahren gesetzlicher und technischer Vorbereitung ein ehrgeiziges und in Europa bislang einmaliges Programm, um die Zahl der Alkoholopfer im Straßenverkehr nachhaltig zu reduzieren. Bereits 2008 wurde eine Pilotstudie mit 80 Freiwilligen durchgeführt, nachdem ein Kabinettsbeschluss forderte, in den Niederlanden eine atemalkoholgesteuerte Wegfahrsperre einzuführen. Die Maßnahme soll zweierlei: den Promillesünder am Autofahren hindern und langfristig eine Verhaltensänderung bewirken.
„Jeder fünfte Unfall geschieht unter Alkoholeinfluss, das akzeptieren wir nicht mehr“, sagt Desirée Schaap, Projektmanagerin für das Interlock-Programm im niederländischen Verkehrsministerium. „Nach vier Jahren harter Arbeit freuen wir uns über den Start des Programms, und darüber dass es so erfolgreich läuft.“ Die aktuellen Zahlen steuert Ramón Gouweleeuw bei, der in der Kraftfahrtbehörde RDW für die Zertifizierung von Sicherheitssystemen zuständig ist: „Gestern haben wir das 1000. Auto mit einem Interlock- System ausgestattet. Damit haben wir, neun Monate nach Einführung des Programms, nicht gerechnet.“
Bis zu 75 Prozent weniger Rückfälle
Atemalkoholgesteuerte Wegfahrsperren sind nicht neu. Es gibt sie in Europa, in den USA, Kanada und Australien. Das niederländische Modell ist anders. Es will den Promillesünder nicht nur davon abhalten, sich ein weiteres Mal betrunken hinters Lenkrad zu setzen, sondern ihn langfristig erziehen: zu einem verantwortungsvolleren Menschen, der auch später, ohne Interlock, zwischen Trinken und Autofahren unterscheiden kann. „Das Institut für Sicherheitsforschung hat verschiedene Studien über den Erfolg von Wegfahrsperren verglichen. Sie zeigen, dass es nach dem Absolvieren von Alkohol-Interlock-Programmen bis zu 75 Prozent weniger Rückfälle in das alte, schädigende Verhalten gibt“, erklärt Desirée Schaap. Allerdings zeigen Studien aus den USA auch, dass nach vier bis sechs Jahren die Rückfallquote wieder ansteigt, wenn man sich allein auf das Gerät verlässt und keine flankierenden Maßnahmen stattfinden.
Die Niederländer verabschiedeten deshalb am 4. Juni 2010 ein Gesetz zur Einführung des Alcohol Interlock Programs (AIP). Es ist zum einen an strenge Sicherheits- und Datenschutzbestimmungen gekoppelt, zum anderen müssen die Teilnehmer fachlich geleitete Gruppensitzungen besuchen. Hier lernen sie den Umgang mit Alkohol im Straßenverkehr. Das Besondere im Vergleich zu ähnlichen Programmen in anderen Ländern ist, dass die Daten aus dem Gerät sofort ausgewertet werden und der Fahrer dadurch ein schnelles Feedback erhält. „Man kann besser lernen, wenn man im richtigen Moment auf den Fehler hingewiesen wird“, findet Desirée Schaap.
Nach einer Strafe wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss und einem möglichen mehrmonatigen Führerscheinentzug beginnt für den Alkoholsünder, der mit Blutwerten zwischen 1,3 und 1,8 Promille erwischt wurde, ein zweijähriges und streng überwachtes AIP. Zunächst wird er aber zur Kasse gebeten: für das Fahren unter Einfluss von Alkohol, regelmäßige Teilnahmen an Gruppensitzungen und monatliche Leasingbeträge für das Gerät. Außerdem muss ein neuer Führerschein ausgestellt werden, der ihn als AIP-Teilnehmer ausweist. Alles in allem werden so schnell ein paar tausend Euro fällig.
Autofahren unter Aufsicht
Wer die letzte Chance nicht ergreift, verliert automatisch den Führerschein – für fünf Jahre. Ist das Gerät eingebaut, beginnt das behördlich überwachte Autofahren. Vor jedem Motorstart muss man dann pusten. Liegt der Atemalkoholgehalt unter 0,2 Promille, funktioniert die Zündung – darüber nicht. Die Messergebnisse werden in einer Einheit unter dem Armaturenbrett gespeichert.
Alle sechs bis sieben Wochen werden die Daten in einer Werkstatt ausgelesen und sofort zur Auswertung an die Kraftfahrzeugbehörde geschickt.
Das Feedback lässt nicht lange auf sich warten. Nach etwa einer Woche bekommt der Fahrer eine Nachricht von der Führerscheinstelle, ob sein Fahrverhalten richtig war oder ob er in kürzeren Abständen zur Kontrolle kommen muss.
Viel Aufwand für die Datensicherheit
Das klingt alles ganz einfach, doch der Weg dorthin war steinig. „Der Aufwand war immens“, lässt Patrick van Vugt durchblicken. Der Knackpunkt lag in den strengen niederländischen Datensicherheitsbestimmungen. Neben den international gültigen Anforderungen der Europäischen Norm für Alkohol-Interlocks müssen weitere nach einem Protection Profile erfüllt werden. Das wurde von der Kraftfahrtbehörde RDW entwickelt und enthält Vorschriften zur Datensicherheit und -übertragung, aber auch zum Schutz vor Manipulation der Geräte.
„Wir nutzen die Daten, um weittragende Entscheidungen für den Teilnehmer zu fällen – im Zweifel, ob er seinen Führerschein abgeben muss oder in dem Programm bleiben darf. Dabei müssen wir uns hundertprozentig auf korrekte Daten verlassen können“, sagt Ramón Gouweleeuw. Deshalb wurde ein zentrales Datenregister bei der RDW eingerichtet und nicht, wie in anderen Ländern, eine Datenspeicherung über einen Hersteller vorgenommen. Im so genannten Privacy Act ist festgelegt, dass nur diejenigen Zugriff auf die Daten haben, die dazu gesetzlich legitimiert sind.
Um die nötige Zertifizierung und Zulassung der Kraftfahrzeugbehörde zu erlangen, mussten die Entwickler von Dräger die Software ihres bestehenden Interlock-Systems grundlegend überarbeiten. Die Daten werden nach dem Download in der Werkstatt auf eine kleine Reise geschickt. Zunächst gelangen sie verschlüsselt zu D-Safe, dem Rechner von Dräger, wo sie in das von RDW geforderte Format konvertiert werden. Neu verschlüsselt – und auf D-Safe gelöscht – werden sie auf den Zentralrechner von RDW übertragen, auf den die Führerscheinbehörde Zugriff hat. Das System läuft einwandfrei. „Am Anfang haben uns die Datenmengen Probleme bereitet“, erinnert sich Patrick van Vugt. „Die Kommunikation zwischen den Rechnern dauerte zu lange, und manche Kunden waren irritiert. Aber nach ein paar Anpassungen konnten wir das schnell beheben.“
Nicht jeder AIP-Teilnehmer ist begeistert, wenn er für zwei Jahre am Gängelband der Kraftfahrtbehörde Auto fahren darf. Da liegt es nahe, nach Schlupflöchern zu suchen, um die strengen Auflagen zu umgehen. Schon bei der Entwicklung des Geräts musste deshalb auf mögliche Manipulationen geachtet werden. Das Dräger Interlock XT lässt sich nicht öffnen und alle Drähte sind so verlötet, dass Manipulationen daran sofort erkennbar sind. Damit nicht mit einem Luftballon oder einer Luftpumpe in das Mundstück gepustet wird, muss der Fahrer eine bestimmte Technik anwenden: erst kräftig reinpusten, dann kurz ansaugen.
Schutz vor Manipulation
„Natürlich können wir nicht alle Manipulationen verhindern“, sagt Ramón Gouweleeuw. „Wir setzen ein gewisses Maß an Verantwortungsbewusstsein voraus – dass man zum Beispiel keine andere Person pusten lässt.“ Das Verantwortungsbewusstsein wird noch geschärft: Da eine direkte Kontrolle durch eine Kamera wegen des Privacy Acts nicht möglich ist, finden nach dem Zufallsprinzip Nachkontrollen statt. Der Fahrer kann sich also nie sicher sein, ob er nicht noch einmal zum Pusten aufgefordert wird. Enthält sein Atem dann zuviel Alkohol, muss er das Auto stehen lassen. Zu viele nicht bestandene Nachkontrollen werden konsequent geahndet: das Programm wird abgebrochen und der Führerschein ist für fünf Jahre weg.
Vincent Broeksema erlebt hautnah, wie es den Programmteilnehmern ergeht: „Bis jetzt haben wir keine Manipulationen an den Geräten gesehen. Die Teilnehmer setzen das auch nicht leichtfertig aufs Spiel, denn sie sind froh, dass sie weiter Auto fahren können“, sagt der junge Chef einer der 50 Vertragswerkstätten, die für den Einbau und Betrieb der Interlocks in den Niederlanden zuständig ist. Bisher haben seine Mitarbeiter 100 Interlocks installiert. „Jede Woche komme zwei, drei neue hinzu.“
  • Regina Naumann
  • Weitere Informationen: Über den Einsatz von medizintechnischen Lösungen im weitesten Sinne, mit denen der Gesundheitszustand des Fahrers bewertet werden kann, berichtet medizin&technik im Februar 2013. Lesen Sie mehr über EKG im Fahrersitz, Sensoren im Lenkrad und die Anbindung eigener Medizinprodukte ins Bordnetz.

  • Das Dräger Interlock XT
    Mit dem Interlock XT vermarktet Dräger die zweite Gerätegeneration, die auf Grundlage einer über 50-jährigen Erfahrung bei der Messung von Atemalkoholkonzentrationen entwickelt wurde. Das Gerät nutzt einen elektrochemischen Sensor, der auch bei polizeilichen Alkoholkontrollen zum Einsatz kommt und mit hoher Genauigkeit den Alkoholgehalt der Atemprobe bestimmt. Das Gesamtsystem zeichnet sich durch eine hohe Zuverlässigkeit auch bei niedrigen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit sowie eine robuste Mechanik aus. Zudem erfüllt es weltweit alle Zulassungsbestimmungen für Alkohol-Interlocks. Durch seinen Einsatz lassen sich alkholbedingte Unfälle vermeiden und Verhaltensänderungen herbeiführen.
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