Bis zu 5 g Plastik nehmen wir, laut einer aktuellen Studie der University of Newcastle, Australien, pro Woche über Luft und Nahrung auf. Das entspricht in etwa dem Gewicht einer Kreditkarte. Die Wissenschaftler hatten die Studie im Auftrag der Umweltschutzorganisation WWF erstellt und im Juni veröffentlich. Zuvor wurde schon ausführlich in den Nachrichten über Mikroplastikpartikel im menschlichen Darm sowie in weltweit entnommenen Schneeproben berichtet. Und auch die Bilder von Kunststoffmüll in Fluss, Meer und Tier sind allgegenwärtig.
Europa ist der zweitgrößte Kunststofferzeuger hinter China
Selten war das Image der Kunststoffe so schlecht wie heute. Trotzdem kommt die Mehrzahl der 7,5 Milliarden Menschen auf der Erde nicht ohne den Werkstoff aus. Und so steigt aller Schreckensmeldungen zum Trotz die Nachfrage nach Kunststoffen stetig an. Der Verband der europäischen Kunststofferzeuger, Plastics Europe, ermittelte in seinem aktuellen Report „Plastics – The Facts“, dass die weltweite Kunststoffproduktion im Jahr 2017 bei 348 Mio. t und damit rund 4 % höher als 2016 lag. Allein in Europa stieg die Produktionsmenge der 28 EU-Länder plus Norwegen und Schweiz um 7 % von 60 auf 64,4 Mio. t. Mit knapp einem Fünftel der weltweiten Produktionsleistung nimmt Europa damit hinter China Rang Zwei unter den Erzeugern ein.
Zwar entfällt nur etwa 3 % der Kunststoffproduktion auf den Bereich Medizintechnik, doch die polymeren Werkstoffe spielen eine herausragende Rolle in diesem Segment: Sie sind der Stoff, aus dem Innovationen in allen Bereichen der Medizintechnik entstehen – von intelligenten Implantaten über Gehäuse und Geräte bis hin zu chirurgischen Einwegartikeln und Schläuchen.
Kunststoffverpackungen – auch ein Markt für Medizinprodukte
Am häufigsten eingesetzt werden die produzierten Kunststoffe mit fast 40 % in der Verpackungsbranche, wo sie immer noch das Material der Wahl sind, wenn es darum geht, Produkte und Leistungen ressourceneffizient bereit zu stellen und – wie auch in der Medizintechnik-Branche gefordert – für Hygiene und Sicherheit zu sorgen. Die zweit- und drittgrößten Abnehmerbranchen sind das Baugewerbe und die Automobilindustrie.
So unterschiedlich die Anwendungen sind, verschieden sind auch die Einsatzzeiten der Kunststoffprodukte, was sich wiederum auf das Recycling der Produkte auswirkt. Aber, wie Plastics Europe in seiner Studie konstatiert, wird es in Europa immer besser verstanden, dass Kunststoffe am Ende ihres Lebenswegs viel zu schade zum Wegwerfen sind. In den zehn Jahren zwischen 2006 und 2016 sei das Recycling von Kunststoffabfällen um fast 80 % gestiegen.
Die Idee der Kreislaufwirtschaft ist einfach: Wertvolles Grundmaterial, das einmal für ein Produkt verwendet wurde, wird nach Ende seiner Lebensdauer so aufbereitet, dass es wiederverwendet werden kann. Immer und immer wieder. Das geht nicht mit jedem Material, aber es funktioniert mit sehr vielen Kunststoffen. Eine Kreislaufwirtschaft führt dazu, dass die Abfallmenge deutlich kleiner wird. Und sie schont die Ressource Rohöl.
Kern der Kreislaufwirtschaft: Abfälle auf ein Minimum reduzieren
„Im Kern ist die Kreislaufwirtschaft ein Modell der Produktion und des Verbrauchs, bei dem bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, weiterverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden, um den Lebenszyklus der Produkte zu verlängert“, erklärt Sandra Füllsack, Geschäftsführerin der Motan Holding GmbH, und ergänzt: „In der Praxis bedeutet dies, dass Abfälle auf ein Minimum reduziert werden.“ Nachdem ein Produkt das Ende seiner Lebenszeit erreicht hat, bleiben die Ressourcen und Materialien so weit wie möglich in der Wirtschaft. „Auf diese Weise könnten sie produktiv genutzt werden, um weiterhin Wertschöpfung zu generieren“, so Füllsack. Die Motan Gruppe mit Sitz in Konstanz am Bodensee bietet nachhaltiges Rohstoffhandling an und ist in den Bereichen Spritzguss, Blasformen, Extrusion und Compoundierung tätig.
Für Hersteller der Medizintechnik-Branche birgt die Kreislaufwirtschaft nach Ansicht von Peter Breuer, bei Motan zuständig für das Trainings- und Innovation-Management, besondere Herausforderungen: „Bei Medizinprodukten gelten allgemein sehr strenge Regulierungsvorschriften und Richtlinien, die insbesondere auch Vorgaben an die eingesetzten Werkstoffe enthalten. Verantwortlich für die Einhaltung dieser Vorgaben ist derjenige, der das Medizinprodukt in Verkehr bringt. Dieser wiederum sichert sich in der Regel über ein Konformitätsverfahren innerhalb seiner Lieferkette ab.“
Nachweispflicht schränkt die Werkstoffauswahl ein
Für die Praxis bedeute dies, dass Hersteller von Medizinprodukten meist nur Materialien einsetzen, für die ein einschlägiger Nachweis über ihre Eignung für Medizinprodukte verfügbar ist. Dies, so Breuer, sei häufig der Nachweis über die Biokompatibilität des Polymers gemäß europäischen oder US-amerikanischen Vorschriften. „Für Materialien aus externen Wertstoff-Kreisläufen liegen diese Nachweise in den meisten Fällen nicht vor und sind auch nicht einfach beschaffbar, da die zugehörigen Genehmigungsverfahren sehr aufwendig, kostspielig und zeitintensiv sind. Deshalb sind sie für die Verarbeiter in der Regel kein Thema.“
Internes Recycling wird bei vielen Herstellern umgesetzt
Anders sieht es jedoch bei intern anfallenden Produktionsabfällen aus, die in der Fertigung am besten typenrein erfasst und über einen abgeschlossenen internen Recycling-Kreislauf der Produktion wieder zugeführt werden. „Bei ausgesuchten Produkten ist das bereits seit vielen Jahren gängige Praxis und wird bei Herstellern von Medizinprodukten bereits umgesetzt, beispielsweise bei der Herstellung von Inhalatoren“, erzählt Breuer. Besonderheiten bei diesen Systemen sind die klare Trennung, Kennzeichnung und Verfolgung der Produktionsabfälle im internen Recycling-Kreislauf. „Das fängt meist bei der Absaugung von Mahlgut aus Zerkleinerungsmühlen an, geht weiter über das Absacken und Lagern, das erneute Einschleusen in den Produktionsbereich, oftmals ein Reinraum, bis hin zum Dosieren und Mischen für die erneute Verarbeitung. Alle diese Schritte gehören sorgsam überwacht und ausreichend dokumentiert“, so Breuer.
Die Technik, um im Kunststoffkreislauf Stoffströme und Materialfluss künftig sehr dicht erfassen, verfolgen und dokumentieren zu können liefert Industrie 4.0: Live-Daten in Echtzeit aus allen Ebenen der Aufbereitung und Verarbeitung ermöglichen es, Prozesse besser und automatisiert einzurichten sowie durch Adaption an Schwankungen störsicherer zu machen. Dies wird notwendig, da sich die Eigenschaften von Materialien aus Kreislaufströmen bei wiederholter Verarbeitung ändern. Eine lückenlose Verfolgbarkeit des Materialwegs optimiert das gesamte Stoffstrom-Management. Dies gilt auch für die Medizintechnik-Branche, die heute schon ein hohes Maß an Dokumentation und Transparenz lebt.
Nachhaltigkeit in Werkstoffauswahl und Produktion fördern
Dass nachhaltige Werkstoffe in einer nachhaltigen Produktion zu messbar weniger Abfall führen können, zeigt die international tätige Lohmann & Rauscher (L&R) GmbH mit Hauptsitz in Neuwied: Der Hersteller von Medizin- und Hygieneprodukten hat mit Suprasorb X einen feuchtigkeitsregulierenden Wundverband für nicht infizierte Wunden entwickelt. Durch die Struktur der verwendeten biosynthetischen Hydro-Balance-Fasern kann der Verband je nach Wundzustand Feuchtigkeit an die Wunde abgegeben oder überschüssiges Exsudat aufnehmen. Der Wundverband besteht aus bakterieller Nanocellulose (BNC) und Wasser. BNC ist ein Biopolymer, das von Bakterien aus Glukose hergestellt wird. Die Bakteriencellulose besteht aus dem nachwachsenden Rohstoff Nata de Coco (Kokosnuss). Dieser Rohstoff wird seit über 100 Jahren unter anderem auf Farmen auf den Philippinen als Naturprodukt angebaut. Lokale Lieferanten übernehmen Ernte, Weiterverarbeitung und Versand der Massenware an die nächst gelegenen Produktionsstätten. Hier werden die Produkte nach sorgfältigen Qualitätsprüfungen zu hochwertigen Wundverbänden weiterverarbeitet.
Dabei hat das Unternehmen nicht nur den Anspruch, die Abfall- und Ausschussmengen in der Produktion kontinuierlich zu verringern, sondern auch die verwendeten Verpackungen so nachhaltig wie möglich zu gestalten und ein Höchstmaß an Material wieder zu recyceln. Am mexikanischen Produktionsstandort in Acuña wird beispielsweise großen Wert auf die Wiederverwendung von Randabschnitten des eingesetzten Rohstoffes für die Herstellung von Bandagen gelegt. Aus den Resten und Randabschnitten lassen sich dann für die Produktion notwendige Kleinteile zuschneiden. An insgesamt zwölf Standorten weltweit produziert das Unternehmen Medizinprodukte für regionale und internationale Märkte. „Durch die konsequenten Verbesserungen im Produktentwicklungs- und Produktionsprozess konnten wir trotz Wachstum in den vergangenen Jahren das Abfallvolumen um 1,45 Prozent reduzieren und auch die Ausschussquote an den Produktionsstandorten innerhalb eines Jahres um 3,9 Prozent verringern“, so Wolfgang Süßle, CEO der L&R-Gruppe.
Code of Conduct für Zulieferer unterstützt die Kreislaufwirtschaft
Dabei ist Nachhaltigkeit für ihn ein kontinuierlicher Ansatz, bei dem Auswahl der Lieferanten, der Materialien und deren Beschaffung sowie die nachfolgende Produktions- und Lieferkette eine entscheidende Rolle spielen. Konkrete Maßnahmen reichen vom Ausbau der Local Sourcing Quote bis hin zu Verpackungen, die recycelt werden und deren Materialeinsatz optimiert wird. „Hinzu kommen die hohen Qualitätsansprüche, die wir in Forschung und Produktentwicklung an uns selbst und an unsere Partner stellen“, so Süßle. So gilt für alle rund 1300 L&R-Lieferanten der Code of Conduct, in dem die sozialen und ökologischen Anforderungen zusammengefasst sind.
Grundsätzlich lassen sich Kunststoffe am besten wiederverwerten, wenn sie nicht nur sortenrein getrennt zur Verfügung stehen, sondern sich auch in ihren Ausgangsstoffen gleichen. Allerdings geben Unternehmen ungern die sensiblen Daten ihrer Rezepturen preis. Hier setzt ein Projekt des Kunststoff-Zentrums SKZ an. Ohne die einzelnen Zutaten der Kunststoffe zu kennen, erfassen die Würzburger Forscher in einem EU-geförderten Projekt wichtige Messgrößen bei der Produktion wie Temperatur, Druck und Fließeigenschaften des Materials, die mittels digitaler Technologien für die Wiederverwertung bereitgestellt werden.
An Recycling denken, bevor das Produkt auf dem Markt ist
„Wir entwickeln dafür einen digitalen Werkzeugkasten, so dass die einzelnen, in der Neuware verwendeten Inhaltsstoffe nicht unbedingt bekannt sein müssen, um später ein hochwertiges Recycling-Produkt herzustellen“, erläutert Dr. Hermann Achenbach vom Geschäftsfeld Nachhaltigkeit des SKZ. So kann das Recycling künftig schon bedacht werden, bevor das Produkt aus Neuware überhaupt auf dem Markt ist.
Viele Medizinprodukte aus Kunststoff finden aber nicht den Weg in eine Recycling-Anlage. Sie müssen, sobald sie mit Körperflüssigkeiten in Kontakt kommen, entsorgt und anschließend verbrannt werden. Jürgen Pfitzer, Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter der Tecnaro GmbH aus Ilsfeld, die Werkstoffe und Technologien aus nachwachsenden Rohstoffen entwickelt, sieht deshalb Biokunststoffe als ernsthafte Alternative für die Medizintechnik-Branche: „Bei einem Produkt, das in drei Sekunden hergestellt, dann drei Sekunden benutzt und anschließend weggeworfen wird, bieten sich nachwachsende Rohstoffe an.“ Denn, wenn der Kunststoff schon verbrannt werden muss, dann sollte dies wenigstens CO2-neutral geschehen.
Grüne Werkstofflösungen für Medizintechnik-Projekte
Der Biokunststoff-Spezialist hat schon einige Vorstöße in die Medizintechnik gemacht, „doch für den Einweg-Bereich wie Spritzen oder Handschuhe sind den Herstellern unsere Werkstoffe zu hochpreisig“, sagt Pfitzer. „Aber nicht, weil wir zu teuer sind, sondern weil Kunststoffe generell viel zu billig sind.“ Aktuell hat Tecnaro ein Gemeinschaftsprojekt für die Entwicklung neuer Biokunststoffe für Orthesen und Prothesen abgeschlossen (über das wir ab Seite 48 berichten), ein weiteres Projekt für die Herstellung von langlebigen Implantaten aus nachhaltigen Rohstoffen ist bereits in Planung.
Die maßgeschneiderten grünen Werkstofflösungen des Anbieters sind klimaneutral, gut verträglich, lassen sich sterilisieren, können je nach Anwendung im Körper verbleiben oder abgebaut werden und lassen sich mit den gängigen Verfahren wie Spritzguss, 3D-Druck, Extrusion, Schmelzspinnen oder Pressen verarbeiten. Und natürlich können die Biokunststoffe auch im Abfallstrom getrennt, recycelt und in neue Produkte gebracht werden. „Aber“, da ist sich der Fachmann sicher, „ernsthaft wird sich für die Biokunststoff-Branche erst etwas ändern, wenn die Politik weitere Einwegplastikartikel verbietet.“
Weitere Informationen
Zum Verband Plastics Europe:
Zum Hersteller Motan:
Zum Hersteller Lohmann & Rauscher:
Zum Biokunststoffexperten Tecnaro:
www.tecnaro.de
Kreislaufwirtschaft auf der Messe K 2019
Knapp 3300 internationalen Aussteller zeigen vom 16. bis 23. Oktober auf der Messe K in Düsseldorf die neuen Entwicklungen und Innovationen der Kunststoff- und Kautschukindustrie. Eine zentrale Rolle der Ausstellung nimmt die Kreislaufwirtschaft ein, die ein Hot Topic der K 2019, sein wird. Die Sonderschau „Plastics Shape the Future“ versteht sich dabei als Podium für Lösungsansätze und Antworten auf aktuelle Diskussionen wie Verpackungsmüll, Ressourcenschonung und Kreislaufwirtschaft.
Auch der VDMA setzt gemeinsam mit seinen Mitgliedern, den Herstellern von Kunststoff- und Gummimaschinen, und Partnern aus der Kunststoffindustrie auf das Konzept der Kreislaufwirtschaft. Im VDMA Circular Economy Forum auf der K 2019 informiert der Verband über Circular Economy mit Daten, Fakten und Praxisbeispielen. Diskutiert werden Trends und Herausforderungen bei Produkt- und Materialdesign, Rezyklatherstellung und -verwendung, aber auch Modelle der Abfallwirtschaft.
Weitere Hot Topics der Messe beschäftigen sich mit Digitalisierung/Kunststoffindustrie 4.0, Systemintegration: Funktionalität durch Material, Prozess und Design und dem Nachwuchs der Branche.
Weitere Informationen: www.k-online.de