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Kampf den Mikroben

Antimikrobielle Medizinprodukte: Technik besiegt Bakterien, aber noch nicht die Skeptiker
Kampf den Mikroben

Noch sind antimikrobielle Oberflächen an Kathetern und anderen Medizinprodukten eher die Ausnahme. Da sie aber gefährlichen Mikroorganismen den Garaus machen, Infektionen verhindern oder die Reinigung von Teilen erleichtern können, erwarten Experten einen dynamischen Markt.

Jedes Jahr geben Krankenhäuser und Kliniken Unsummen für die Reinigung ihrer Gerätschaften aus, jedes Jahr infizieren sich Millionen von Patienten während der stationären Behandlung. „Eine aktuelle Studie beziffert die Todesfälle durch Infektionen auf 50 000, allein in Europa“, sagt Dr. Michael Wagener, Vorstand der Nürnberger Bio-Gate AG. „Angesichts solcher Zahlen ist klar, dass man die Möglichkeiten antimikrobieller Additive oder Beschichtungen nutzen muss.“ Diese können den Mikroorganismen das Überleben auf Gegenständen oder sogar schon das Anhaften unmöglich machen.

Bio-Gate erreicht diesen Effekt mit Hilfe von nanoskaligem Silber, das Bakterien und Pilzen an verschiedenen Oberflächen den Garaus macht. Auf solche Mechanismen setzen verschiedene Branchen bereits: Mehr Hygiene sollen die besonderen Oberflächeneigenschaften im Flugzeuginnern schaffen, und in Rohrleitungen gilt es, die Bildung bakterieller Schichten zu verhindern, da sie den Durchfluss verstopfen könnten.
„Um im medizinischen Bereich zu sinnvollen Anwendungen für die antimikrobiellen Oberflächen zu kommen und die Infektionen tatsächlich zu verringern, muss man zunächst die Ursachen der Infektionen im Krankenhaus genau betrachten“, meint Dr. Jörg Tiller, Experte für antimikrobielle Beschichtungen am Freiburger Materialforschungszentrum FMF. Er hält es zum Beispiel für falsch, die Wand im Operationssaal mit einem antimikrobiell wirksamen Lack zu streichen. Den gibt es zwar schon. Aber mit der Wand hat der Patient üblicherweise nichts zu schaffen. Interessant seien antimikrobielle Eigenschaften hingegen bei Teilen, die mit dem Körperinnern der Patienten in Kontakt kommen. „Stellen Sie sich zum Beispiel einen Harnkatheter vor, auf dem kein Biofilm entstehen soll“, erläutert Dr. Tiller. Auch Schläuche für Ohrspülungen seien heiße Kandidaten für antimikrobielle Lösungen. „Und es gibt heute sehr viele Gruppen, die an solchen Lösungen für die Medizin forschen“, sagt der Freiburger.
Grundsätzlich stehen verschiedene technische Ansätze zur Verfügung, um einen antimikrobiellen Effekt zu erzielen: Biozide wie das schon genannte Silber töten Bakterien und Pilze aktiv ab, veränderte Oberflächenstrukturen gelten als „passive“ Maßnahme, die das Anhaften der Zellen verhindert.
Die Wirksamkeit solcher Effekte ist laut Bio-Gate Vorstand Wagener schon in den 90er-Jahren in Studien nachgewiesen worden: „Damals ließen sich mit Silber die Infektionsraten in bestimmten Bereichen um bis zu 70 Prozent senken.“ Skeptische Aussagen gebe es zu diesem Thema natürlich auch, denn das Datenmaterial zur Wirkung antimikrobieller Oberflächen sei nicht gerade üppig. Für verlässliche Aussagen werden die Daten vieler Patienten gebraucht – und die sind teilweise durch Studien in einem einzigen Land gar nicht zu bekommen.
Diese Erfahrung hat auch die B.Braun Melsungen AG gemacht, die im vergangenen Jahr das gefäßchirurgische Implantat Silver Graft auf den Markt brachte. Es wird mit Silber bedampft und setzt im Körper des Patienten winzige Mengen von Silberionen frei. So soll es gefährliche Entzündungen von Gefäßprothesen von vornherein verhindern. Experimentelle Studien und auch die ersten klinischen Untersuchungen belegen, dass das freigesetzte Edelmetall gegen Bakterien wirksam ist. „Im Gespräch fordern Ärzte aber oft den statistisch belegten Beweis, dass unser Produkt die Infektionsrate senkt“, sagt Dr. Michael Kohlhoff, Produktmanager für gefäßchirurgische Implantate bei B.Braun. Da aber in ganz Deutschland pro Jahr „nur“ 33 000 Gefäßprothesen eingesetzt werden und in der Folge „nur“ rund 600 bis 1000 für den einzelnen Patienten sehr gefährliche Infektionen auftauchen, reichten die Fallzahlen für den statistischen Beweis bisher noch nicht aus. „Wir hoffen“, sagt Kohlhoff, „dass uns ein weltweites Register diese Daten liefert, das bereits in Arbeit ist und an dem 45 europäische Zentren beteiligt sind.“
Produkte wie Silver Graft sind heute noch die Ausnahme im Medizintechnik-Markt. Auf rund 400 Produkte schätzt Bio-Gate-Vorstand Wagener den Markt im Norden Amerikas, der dem hiesigen etwa fünf Jahre voraus sei. Dort seien Produktgruppen abgedeckt, bei denen der Kampf gegen die Keime sinnvoll ist. Dazu gehören laut Wagener „die urologischen Katheter, die mit sehr hohen Infektionsraten in Studien auftauchen, sowie Katheter im allgemeinen, Wundauflagen oder auch externe Fixateure für die Orthopädie, die Eintrittspforten für Bakterien bieten“. Selbst Hersteller von Endoprothesen, für deren Produkte nur Infektionsraten von 1 bis 2 % angegeben würden, hätten inzwischen schon Interesse an der Mikrobenabwehr gezeigt.
Die Nürnberger arbeiten ausschließlich mit mikro- oder nanoskaligem metallischem Silber. Dieses wird als Pulver in Kunststoffe eincompoundiert oder Keramiken beigemengt, lässt sich in Lösungen zu Lacken verarbeiten oder über einen Gasbedampfungsprozess auf die Außenseiten von Metall- und Keramik aufbringen. „Damit erzielen wir einen langfristigen Effekt, und alle behandelten Teile können mit Gammastrahlen, Ethylenoxid oder durch Autoklavieren sterilisiert werden, ohne dass die antimikrobiellen Eigenschaften leiden“, sagt Wagener. Da die Nanopartikel in sehr geringer Menge eingesetzt würden, seien keine makroskopischen Veränderungen an den Materialeigenschaften aufgetreten. Dem Menschen schade das Silber in so niedrigen Konzentrationen ebenfalls nicht.
Zu den ersten Anwendern ihrer Materialien zählen die Nürnberger einen Hersteller von Dentalfüllstoffen, einen weltweit aktiven Anbieter von Orthopädie-Implantaten sowie weitere Medizinproduktehersteller, die im kommenden Jahr mit ersten Produkten auf den Markt kommen wollen. „Wir unterstützen diese Unternehmen derzeit bei den Zulassungsverfahren und haben bei der FDA ein M asterfile eingereicht, auf das man sich in Zukunft bei neuen Zulassungen beziehen kann“, erläutert Wagener.
Für die kommenden Jahre rechnet der Bio-Gate-Vorstand mit einem hoch dynamischen Markt für solche Produkte. „Meiner Ansicht nach wird es in fünf bis zehn Jahren soweit sein, dass die medizintechnischen Produkte, bei denen es sinnvoll ist, mit antimikrobiellen Eigenschaften ausgestattet sind.“
Der Kostenfaktor wird dabei sicherlich eine Rolle spielen. „Wir haben festgestellt, dass der höhere Preis der Silver-Graft-Prothese bei vielen Medizinern eine Hemmschwelle ist“, berichtet B.Braun-Mitarbeiter Kohlhoff. Daher wollen die Melsunger ihre Fertigung auf Verbesserungsmöglichkeiten abklopfen und hoffen auf lange Sicht auch auf steigende Stückzahlen. „Wenn wir mehr als die 5000 Gefäßprothesen im Jahr 2006 herstellen, werden die Stückkosten natürlich auch attraktiver – und wir denken, dass ein Produkt wie Silver Graft auf lange Sicht für jeden Patienten mit entsprechender Indikation eingesetzt wird.“
Für den massenhaften Einsatz an verschiedenen Medizinprodukten aus Kunststoff könnte sich auch ein Verfahren eignen, mit dem es die Gruppe um Professor Hans-Achim Reimann an der FH Ansbach den Mikroorganismen schwer macht. Die Franken verzichten auf Silber oder andere Biozide und verändern lediglich die Struktur der Oberflächen. Mit Niederdruck-Plasma erzeugen sie Mikrorauheiten und machen die Fläche hydrophob. So sterben die Bakterien beim Kontakt mit der Oberfläche zwar nicht ab. „Die Kombination beider Effekte erschwert aber die Anhaftung von Bakterien und erleichtert damit die Reinigung von Teilen erheblich“, sagt Reimann. Damit sei dieser Ansatz sowohl für Kleinteile wie Inhalator-Mundstücke oder Katheteroberflächen als auch für Geräteoberflächen interessant. „Diese Lösung funktioniert für alle gängigen Polymere – nur nicht bei Elastomeren.“
Unternehmen aus der Medizintechnik-Branche haben den Ansbachern bereits Originalprodukte überlassen, rechnen im Herbst mit ersten Ergebnissen und sehen ein großes Potenzial für diese Technik. Wenn die Resultate mit den Produkten so ausfallen, wie es die ersten Tests vermuten lassen, sei das ein „goldener Griff“, hätten Firmenvertreter Reimann gegenüber geäußert. Er rechnet damit, dass das Verfahren in drei Jahren praxisreif sein wird.
Die Strategie der Oberflächenveränderung verfolgen auch Forscher in Bonn und Kaiserslautern. Sie scheiden auf Urologie-Implantaten amorphe Kohlenstoffschichten ab. Diese diamantähnlichen Oberflächenschichten, diamond-like carbon oder auch DLC genannt, können der Mineraloge Dr. Norbert Laube und die Physikerin Lisa Kleinen im Beschichtungsprozess mit Niedertemperaturplasma so gezielt beeinflussen, dass sie die Bildung von Biofilmen und Inkrustationen reduzieren. „Selbst bei Tumorpatienten, deren veränderte Harnzusammensetzung zu starken Inkrustationen führt, haben wir die Liegezeiten von Harnschienen jedes Mal um den Faktor zwei oder drei steigern können“, erläutert Laube, Privatdozent an der Uni Bonn. Das industrielle Interesse an solchen Lösungen sei groß. Schon mit den ersten Ergebnissen aus dem Jahr 2004 habe die Firma Prontomed eigene Produkte unter der Bezeichnung Diamond auf den Markt gebracht. Inzwischen haben die Forscher ihre Lösung verbessert, und es liegen Anfragen weiterer Anbieter aus dem „heiß umkämpften Markt“ vor, der in Deutschland rund 600 000 Urologie-Stents pro Jahr umfasst.
Alternativ zu Silber und Strukturveränderungen bietet sich eine weitere Möglichkeit an, antimikrobielle Eigenschaften zu erzeugen. Der Freiburger Forscher Dr. Tiller bindet Polymere an die Oberflächen von Metall, Keramik oder Kunststoffen und koppelt Biozide daran. Die Bindung der Biozide ist von Vorteil: Die Wirkstoffe können sich nicht unkontrolliert in der Umgebung verteilen, so dass die Oberfläche sehr lange geschützt bleibt. Hauptversuchskandidat sind derzeit quartäre Ammoniumsalze, die als Bestandteil von Lutschbonbons bekannt sind, so dass Tiller bei der Frage nach der FDA-Zulassung seiner Lösung ganz entspannt bleibt.
Er malt sogar aus, was mit antimikrobiell wirksamen Systemen in Zukunft zu erreichen sein könnte: „Vorstellbar wäre es zum Beispiel, dass ein System erst dann aktiviert wird, wenn es eine Infektion im Patienten erkennt.“ Solche Lösungen liefern laut Tiller aber bisher nicht mehr als „ansatzweise Erfolge im Labor“. In diesem Bereich hat die Zukunft also gerade erst begonnen.
  • Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
  • Weitere Informationen Prof. Reimann, FH Ansbach E-Mail: hans-achim.reimann@fh-ansbach.de
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