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Harter Stoff für die Medizin

Carbon: Bis zum breiten Einsatz von Carbon in der Medizintechnik ist noch viel Grundlagenarbeit notwendig
Harter Stoff für die Medizin

Die Vorteile von Carbon liegen auf der Hand: Der Werkstoff aus Kohlenstoff-Fasern ist leicht, hochsteif, röntgentransparent und beständig gegen Korrosion – also ideal für den Medtech-Einsatz. Warum fehlen dann die Anwendungen?

Für seine Idee einer Sprüh-Carbon-Bandage für den orthopädischen oder unfallchirurgischen Einsatz wurde Internet-User Martin Lammert mit dem ersten Preis des Ideenwettbewerbs „Carbon im Beton, im Auto, im All – warum nicht auch in Gesundheitsfragen?“ ausgezeichnet. Die Idee ist ebenso simpel wie genial: Spraydosen werden gefüllt mit einem sprühfähigen Carbonfaser-Compound. Bei einem Unfall oder in der Klinik kann der behandelnde Arzt den Carbon-Kunststoffmix als Arm- oder Beinbandage dem Patienten direkt auf das betroffene Körperteil aufsprühen und anschließend mit einem mobilen UV-Licht aushärten. Die so erstellten passgenauen und belastbaren Bandagen könnten die Erstversorgung am Unfallort verbessern und die Behandlungszeiten einer OP-Nachsorge verkürzen.

Der Fachjury des Innovationswettbewerbs war diese Idee das Preisgeld von 3000 Euro wert. Ob diese oder eine der anderen 243 Ideen zum Einsatz von Carbon in der Medizin und in der Medizintechnik aber jemals den Produktionsstatus erreichen wird, bleibt abzuwarten. Die beiden Spitzencluster Mai Carbon und Medical Valley, die den Wettbewerb auf der Plattform des Innovationskraftwerks ausgeschrieben haben, sind trotzdem jetzt schon mit dem Ergebnis zufrieden. Vor allem Mai Carbon bewegte sich mit dem Thema Medizintechnik auf neues Terrain. „Unsere drei starken Branchen sind der Anlagen- und Maschinenbau, die Automobilindustrie und die Luft- und Raumfahrt“, erklärt Sven Blanck, zuständig für Clustercontrolling und Benchmark im Augsburger Spitzencluster. „Aber natürlich sprechen wir auch mit den anderen Clustern und erörtern neue oder Querschnittsthemen.“ Aus dem Kontakt mit dem Medical Valley entstand dann die Idee, eine Umfrage unter den Mai-Carbon-Mitgliedern zu starten und deren Meinung in Richtung Medizintechnik abzufragen. „Das Interesse an einem Ideenwettbewerb zu diesem Thema war groß“, erinnert sich Blanck. „Deshalb entschlossen wir uns, den Wettbewerb zu starten.“
Für Julien Denis, beim Spitzencluster Medical Valley verantwortlich für Clustermarketing & Development, lag der Reiz des Ideenwettbewerbs vor allem an der Form der offenen Ausschreibung. Die Idee der Open Innovation, zur zielgerichteten Ideengenerierung die Außenwelt aktiv mit einzubeziehen, eröffnet dem Ideensucher völlig neue Möglichkeiten und Perspektiven. „Wir wollten mit einem kontroversen Thema heraus aus dem ‚Elfenbeinturm‘ der Forschungslandschaft und die breite Bevölkerung an den Innovationen beteiligen“, erklärt Denis. „Natürlich haben wir auf einige Ideen gehofft, sind aber zu Beginn nicht von vollständigen Projektskizzen, sondern lediglich von Impulsen ausgegangen. Die Laien-Community, welche meist unbelastet von Grenzen des Materials oder des Gesundheitswesens ist, war hierbei für uns der Hebel, diesen Schritt zu gehen.“ Die Ergebnisse haben alle Erwartungen übertroffen. Zudem war Denis positiv überrascht von der Kraft der Open Innova- tion: „Fast 250 Ideen wurden in den verschiedensten Feldern der Gesundheitsbranche generiert, und die Realisierungswahrscheinlichkeit und der Innovationsgrad waren oftmals sehr hoch.“ Auch er ist gespannt, was sich innerhalb seines Clusters aus den Ideen des Wettbewerbs entwickelt. „Mit dem Thema Carbon beschäftigen wir uns bislang fast gar nicht. Unsere Mitglieder und Partner sind Produzenten von Hard- und Software in der Healthcare-Branche, damit verbundene Forschungseinrichtungen und medizinische Versorgungsinstitutionen“, erläutert der Marketing-Fachmann. „Den geringen Stellenwert dieses Materials wollen wir jetzt versuchen zu ändern.“
Auch Sven Blanck von Mai Carbon sieht den Wettbewerb als Sprungbrett – allerdings in die Medizintechnikbranche. Er erwartet aber auch noch eine Menge Arbeit für die Carbon-Forschung und die Verarbeitung des Werkstoffs. „Carbon hat ein riesiges Potenzial“, weiß Blanck. „Seine Vorteile sind die hohe Festigkeit, das geringe Gewicht, die Korro- sionsbeständigkeit, die chemische Beständigkeit, seine geringe Wärmeleitfähigkeit sowie die vielen Gestaltungsmöglichkeiten. Sein großer Nachteil aber im Moment ist: Es ist noch sehr teuer.“ Seiner Meinung nach ist man deshalb noch weit entfernt von hohen Stückzahlen in der Fertigung. „Das Anliegen und Ziel unseres Clusters ist es daher, die Herstellungskosten von Carbonbauteilen durch die Steigerung des Automatisierungsgrades deutlich zu reduzieren.“
Bislang werden hier noch ganz viele Prozessschritte händisch gemacht. Außerdem ist die Forschung seiner Meinung nach im Vergleich zu Stahl noch sehr jung. Viele Fragen hinsichtlich der Bioverträglichkeit und der Zulassung als Implantat-Werkstoff müssten erst geklärt werden. „Aber“, so Blanck, „je mehr das Thema an die Öffentlichkeit kommt, desto eher besteht die Möglichkeit, dass Carbon auch in der Medizintechnik mehr Zugang findet.“
Trotz vieler offener Fragen ist der Werkstoff Carbon stellenweise schon in der Medizintechnik angekommen. Rollstühle, Gehhilfen, Orthesen und Prothesen werden aus dem leichten, belastbaren Material gefertigt. Aber auch bei OP-Tischen und den Auflagen in Röntgengeräten setzen die Hersteller schon seit Jahren auf den Kohlenstoff.
Die Wiesbadener SGL Group ist einer der führenden Hersteller von Produkten aus Carbon. Für die Medizintechnikindustrie fertigt das Unternehmen seit über 20 Jahren OP-Tische, Ansteckboards und kippbare Kopfschalen sowie Röntgenkassetten für Röntgengeräte. Jürgen Klinger, der bei SGL als Technical Sales für den Vertrieb zuständig ist, sieht in Carbon den idealen Werkstoff für alles, was durchstrahlt werden muss. Dadurch lässt sich die Strahlendosis deutlich herabsetzen. Der Patient auf seiner Carbonliege mit einer Carbon-Kopfstütze wird durch die geringere Strahlenbelastung geschont. „Unter den vielen herausragenden Eigenschaften der CFK-Bauteile ist neben der hohen Stabilität die ausgezeichnete Transparenz für Röntgenstrahlen wohl die bedeutendste“, so Klinger. Dennoch ist für ihn die Medizintechnik kein Markt, der sich signifikant vergrößern wird. Zuwächse sieht er aber in der Orthopädie. Und vielleicht werden künftig mehr Röntgentische nach China und Indien verkauft, wo sich ein Teil der Bevölkerung mit wachsendem Lebensstandard auch eine bessere Gesundheitsversorgung leisten kann.
Unternehmen, welche die Produkte von SGL einsetzen möchten, bekommen vom Hersteller die Carbonfaser-Halbzeuge geliefert und verarbeiten diese dann zu den jeweiligen Produkten. Prothesen-Hersteller beispielsweise schneiden das Gewebe zu, legen es in die individuell angefertigten Formen und geben Harz dazu. Aber auch imprägnierte Halbzeuge, die sogenannten Prepregs, kommen zum Einsatz. Damit werden die Formen bestückt und anschließend in der Presse oder im Autoklav ausgehärtet. „In der Automobilindustrie ist der Automatisierungsgrad natürlich deutlich höher“, erklärt Klinger. „Wir fertigen die CFK-Bauteile sowohl in Kleinserien als auch für spezielle Einzelanfertigung. Dabei erfolgt die Bauteilentwicklung in enger Zusammenarbeit mit dem Kunden.“ Die Fachkräfte dafür bildet SGL selbst aus. Die Kernkompetenz des Carbon-Spezialisten erstreckt sich vom Rohstoff (Precursor) über Carbonfasern, textile Produkte, Prepregs, Preforms bis hin zum Fertigbauteil aus carbonfaserverstärktem Kunststoff.
Als Verarbeiter von Carbon-Produkten wie diesen ist die Moll Engineering GmbH aus Lübeck in der Medizintechnik tätig. Gefertigt werden unter anderem Zielgeräte für die Traumachirurgie zur Verschraubung von komplizierten Knochenbrüchen. Sie bestehen aus Carbonfaserkunststoff in Verbindung mit Edelstahl und Aluminium. Damit erreicht das Unternehmen in der praktischen Anwendung gleich mehrere Ziele: Neben dem günstigen Gewicht bei optimaler Steifigkeit werden alle Anforderungen hinsichtlich Sterilisation im klinischen Bereich erfüllt. 3000 dieser Zielgeräte wurden im vergangenen Jahr gefertigt und ausgeliefert.
Einem Erfolg wie diesen wünscht man sich auch für die eine oder andere spannende Idee aus dem Innovations-Wettbewerb von Mai Carbon und Medical Cluster.
Mit Open Innovation vom Wissen der Bevölkerung profitieren
Röntgentransparenz macht Carbon für die Medizintechnik interessant
Weitere Informationen Über die bayrischen Spitzencluster: www.mai-carbon.de www.medical-valley-emn.de Zun den Vorschlägen und Siegern des Ideenwettbewerbs: www.innovationskraftwerk.de Über den Carbonhersteller: www.sglgroup.com Über den Instrumentehersteller: www.moll-engineering.de

Open Innovation
Wie entstehen Innovationen? Eine Möglichkeit ist die aktive strategische Nutzung der Außenwelt, um das Innovationspoten-zial zu vergrößern. Dazu wird eine Fragestellung, ein Innovationsprozess oder ein konkretes Problem auf einer Online-Plattform der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – und zwar systematisch und weltweit. Die Open-Innova-tion-Plattform „Innovationskraftwerk“ organisiert und veröffentlicht diese Innovations- und Problemlösungsprozesse. Dieses Angebot nutzten Ende letzten Jahres auch die Spitzencluster Mai Carbon, Augsburg, und Medical Valley, Erlangen, für die Ausschreibung ihres Ideenwettbewerbs „Carbon im Beton, im Auto, im All – warum nicht auch in Gesundheitsfragen?“ Mit Erfolg: 243 Ideengeber formulierten bis Ende Januar ihre Lösungsvorschläge zum Thema, die anschließend von einer Fachjury geprüft, ausgewertet und prämiert wurden. Alle weiteren Schritte bleiben den Ideensuchern überlassen. Weitere Informationen: www.innovationskraftwerk.de

Online weiterlesen
Mehr über die Verarbeitung von Carbon im Gesundheitswesen und die Möglichkeiten von Open-Innovation-Plattformen lesen Sie im Online-Magazin unter www.medizin-und-technik.de/ onlineweiterlesen.
Verfügbar bis 23. Mai 2014 – also bis die nächste Ausgabe mit einem neuen Titelthema erscheint.

Ihr Stichwort
  • Zukunftswerkstoff Carbon
  • Hervorragende Eigenschaften für die Medizintechnik
  • Geringer Automatisierungsgrad
  • Ideensammlung durch Open-Innovation-Ausschreibung

  • CFK – von der Faser zum Produkt
    Carbonfasern entstehen durch die Umwandlung orientierter Acrylfasern oder Pechfasern in einem zweistufigen Prozess in ausgerichtete Graphitkristallfasern. Eine Faser hat einen Durchmesser von etwa 5 bis 8 µm. Üblicherweise werden 1000 bis 50 000 Einzelfasern – auch Filamente genannt – zu einem Bündel, dem sogenannten Roving, zusammengefasst. Durch die Zugabe einer zweiten Komponente wird aus der Carbonfaser der Faserverbundwerkstoff. Diese zweite Komponente kann ein duroplastisches (Harz) oder ein thermoplastisches Matrixsystem (Polyetheretherketon, Polyphenylensulfid oder Polyether-imid) sein. Zur Weiterverarbeitung werden heute häufig vorimprägnierte Fasern verwendet. Diese Prepregs bezeichnen ein Halbzeug – bestehend aus Endlosfasern und einer ungehärteten Kunststoffmatrix. Die Endlosfasern können als reine unidirektionale Schichten, als Gewebe oder Gelege vorliegen. Prepreg wird bahnförmig, auf Rollen gewickelt geliefert. Mit einem spezifischen Gewicht von rund 1,8 g/cm³ ist der Verbundwerkstoff um bis zu 60 % leichter als Stahl und etwa 30 % leichter als Aluminium. Weitere Vorteile sind seine hohe Steifigkeit, Festigkeit und Korrosionsbeständigkeit. Anwendungen für CFK-Bauteile finden sich neben der Medizintechnik vor allem im Fahr- und Flugzeugbau, in der Raumfahrt, in der Sportindustrie sowie im Maschinenbau.
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