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Fehler baut man am besten gar nicht erst ein

Entwicklung: Nur starke Kettenglieder machen ein Produkt dauerhaft zuverlässig
Fehler baut man am besten gar nicht erst ein

Die Zuverlässigkeit von Produkten sollte bereits früh in der Entwicklung bewertet werden. Methoden existieren; was fehlt, sind vor allem Daten aus der Praxis. Und insbesondere im Bereich der Biologie ist noch Grundlagen-Know-how gefragt.

Mittels einer kleinen Nervenschnittstelle will eine Forschergruppe künftig Menschen das Leben leichter machen, die wesentliche Teile einer Hand, eines Armes oder eines Beines verloren haben. Dabei handelt es sich um einen Mikrochip, der über Elektroden Impulse in den noch vorhandenen Nerven erfasst, verarbeitet und nach außen funkt – um so Prothesen zu steuern. Eine Frage sei für die Wissenschaftler dabei von besonderem Interesse, berichtet Erik Jung, Gruppenleiter für den Bereich Medical Microsystems am Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM) in Berlin: „Wie lässt sich die Zuverlässigkeit dieser Nervenschnittstelle nachweisen und wie lassen sich Aussagen zur Lebensdauer machen?“

Knifflig wird die Antwort für das Team des Fraunhofer IZM, des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik (IBMT) und der University of Utah vor allem durch das Zusammenspiel von Medizin, Biologie und Ingenieurwissenschaften. „Zur langfristigen Biokompatibilität und Funktionalität lassen sich bislang nur schwer Aussagen machen“, fährt Jung fort. Das Problem: Man weiß, dass selbst bio-inerte Materialien den Körper zu einer Abwehrreaktion veranlassen. Nach einiger Zeit haben die Elektroden dann keinen Nerven-Kontakt mehr, sondern sie sind von Narbengewebe eingeschlossen. „Dann ist zwar die implantierte Nervenschnittstelle noch intakt – aber sie erfüllt ihre Funktion nicht mehr.“
Erfordern gerade solche Interaktionen mit dem menschlichen Körper noch eine Menge Grundlagenforschung, ist man bei technischen Fragen bereits weiter. Bei den zum Einsatz kommenden Verbindungstechniken, kenne man deren Belastungsgrenzen teilweise sehr genau, erläutert IZM-Forscher Erik Jung. So lassen sich etwa im Bereich Mikroelektronik/Mikrosystemtechnik beim Drahtbonden prozessbedingte Beeinträchtigungen der Langzeitzuverlässigkeit ausschließen, wenn eine bestimmte Schwelltemperatur nicht überschritten wird.
Erfahrungen dieser Art zu sammeln, sei deswegen eine der wichtigsten Aufgaben zur Bewertung der Sicherheit und Zuverlässigkeit von technischen Produkten, betont Dr. Jan Hauschild, Sachverständiger des Competence Centers Sicherheitskonzepte bei der Hamburger TÜV Nord SysTec GmbH & Co. KG. Andere Branchen, etwa die Kerntechnik, würden beispielsweise einen hohen Aufwand zur Dokumentation der Betriebserfahrung treiben. „Bereits bei geringfügigen Abweichungen werden Ereignisse erfasst und ausgewertet, zusätzlich Instandhaltungsmaßnahmen dokumentiert.“ Und die Automobilindustrie profitiere von ihren hohen Stückzahlen, könne allerdings überwiegend nur auf Erfahrungsrückflüsse innerhalb des Gewährleistungszeitraums zurückgreifen.
„Jeder Entwickler ist aber froh, wenn er so frühzeitig wie möglich Informationen über das reale Betriebsverhalten der Produkte erhält, um auftretende Fehlerbilder künftig von vornherein zu vermeiden“, fährt Hauschild fort. Das sei die Herausforderung. „Die Betriebserfahrungen müssen nicht nur erfasst, sondern anschließend ausgewertet und den Entwicklern zur Verfügung gestellt werden.“ Gefragt sei vor allem die Kommunikation zwischen den Beteiligten – Betreibern, Herstellern und Zulieferern. Dies ist ein Grund, warum die TÜV-Nord-Gruppe ein Netzwerk für die Gesundheitswirtschaft aufbaut, das HealthNet (siehe Kasten). Insbesondere die Online-Datenbank, die dort aufgebaut wird, könnte ein wichtiger Schlüssel zu Sicherheits- und Zuverlässigkeitsanalysen auf Basis von Praxiserfahrungen sein.
Mit entsprechenden Daten ließen sich aussagekräftige Ergebnisse erzielen unter Anwendung von bekannten Methoden wie der Fehlzustandsart- und -auswirkungsanalyse (FMEA, DIN EN 60812), der Fehlzustandsbaumanalyse (FBA, DIN EN 61025) oder dem Petri-Netz (PN, VDI 4008 Blatt 4) für die Abbildung komplexer Systeme und dynamischer Vorgänge wie in der Bahntechnik, erläutert Jan Hauschild. „Zur Auswertung werden etwa das Markov-Verfahren oder die Monte-Carlo-Simulation genutzt.“ Insbesondere letztere eigne sich gut zur realitätsnahen Systemanalyse. Das nötige Wissen hierzu vermitteln Bildungsträger wie die TÜV-Nord-Akademie.
Im Bereich der statistischen Auswertung forscht Prof. Stefan Bracke, der das Lehrgebiet Qualitätsmanagement und Fertigungsmesstechnik an der Fachhochschule Köln betreut. „Die Weibull-Verteilung ist etwa als industrieller Standard zur Darstellung von Frühausfall- und Verschleißverhalten gut geeignet für einfache Schadensmechanismen; in komplexeren Systemen, in denen mehrere Mechanismen zusammenkommen, reicht das aber nicht mehr aus.“ Die Kölner Wissenschaftler konnten zeigen, dass sich durch eine Kombination verschiedener Verteilungen auch komplexere Systeme abbilden lassen. Getrieben wird die Forschung durch die Automobilindustrie. „Anfang der 90er Jahre fanden sich in einem Auto circa sechs voneinander unabhängige Steuergeräte, heute sind es teilweise bis zu 40, gekoppelt über verschiedene Bussysteme“, so Bracke weiter. Gleichzeitig würden aber die Entwicklungszeiten für ein neues Fahrzeug immer weiter reduziert. „Um Ingenieure bereits in der Entwicklungsphase zu unterstützen, müssen wir uns dieser potenziellen Schadenskomplexität stellen.“
Immer wichtiger werde das Verzahnen der Methoden, erläutert Stefan Bracke, weil zum Wechselspiel von Mechanik und Elektrik auch die Software hinzukomme. „Software kennt zwar keinen Verschleiß, ist aber in der Regel nicht fehlerfrei.“ Die statistische Beschreibung des Software-Fehlerverhaltens gleiche zwar der des Frühausfallverhaltens, doch müsse man beachten, dass der Kunde den Bug erst beanstandet, nachdem er ihn bemerkt hat. „Somit wird das Kunden-Beanstandungsverhalten abgebildet, nicht eine fortschreitende Schadenskausalität.“
Auch Forscher der Universität Stuttgart – die ab dem kommenden Jahr einen Studiengang Medizintechnik zusammen mit der Universität Tübingen anbietet – beschäftigen sich intensiv mit solchen mechatronischen Systemen. „Da die Fachkompetenz eine große Rolle spielt, haben wir dazu eine Gruppe gebildet und Kollegen aus den Bereichen Software, Hardware, Aktorik und Mathematik hinzugezogen“, berichtet Prof. Bernd Bertsche, Direktor des Instituts für Maschinenelemente (IMA). „Wir starten zusammen unsere Analyse und definieren zunächst gleichermaßen Funktionen wie Nicht-Funktionen des Systems.“ Man überlege sich also auch, was denn auf gar keinen Fall passieren darf. Anschließend folgt eine genaue Systembeschreibung, um der Schnittstellenproblematik aus dem Weg zu gehen. „Dann erst erstellen wir die Zuverlässigkeitsmodelle, aus denen wir qualitative wie quantitative Aussagen ableiten können.“ Voraussetzung sei allerdings, dass genügend Daten vorhanden sind, bestätigt einmal mehr auch der IMA-Direktor (siehe auch Literaturhinweis).
Eine Herausforderung ist für die Stuttgarter noch die Berücksichtigung von Wechselwirkungen. „Selbst wenn ein Steuergerät ausreichend untersucht ist, kann es aufgrund bislang unberücksichtigter, äußerer Umstände zu einem Fehler kommen“, erläutert Bertsche. Etwa dadurch, dass das Gerät am Einbauort stärkeren Vibrationen ausgesetzt ist als bislang angenommen, oder dadurch, dass ein Schaden an einem anderen Bauteil zu einer starken Erwärmung führt, letztlich also die Umgebungstemperatur zu hoch ist.
„Es lohnt sich aber, sich trotz dieser Komplexität mit solchen Fragen zu beschäftigen“, ist der Institutsleiter überzeugt. Er sieht vor allem zwei wesentliche Vorteile:
  • Je früher Aspekte der Zuverlässigkeit im Entwicklungsprozess eine Rolle spielen, desto eher lassen sich Fehler prinzipiell vermeiden, da hier die grundlegenden Entscheidungen über das System getroffen werden.
  • Zuverlässigkeit lässt sich auch als Verkaufsargument nutzen. So kann man sich am Markt funktional gleichen, aber gegenüber kurzlebigeren Produkten besser durchsetzen.
Der Dentalspezialist 3M Espe, ein Tochterunternehmen des Technologiekonzerns 3M, nutzt diese Vorteile. „Wir sind nicht günstig, sondern preiswert“, fasst dies Dr. Benedikt Ball zusammen, Quality Assurance Manager bei 3M Espe in Seefeld. Nur die Kombination aus hoher Zuverlässigkeit, verbunden mit einer fairen Preisgestaltung, führe zur Akzeptanz bei den Kunden. „Das macht sich sogar weltweit bemerkbar, made in Germany zählt für uns etwas.“
Auf technischer Seite seien die Verfahren zum Bestimmen der Zuverlässigkeit bewährt und beherrschbar, betont auch Benedikt Ball – vorausgesetzt, die Datenbasis stimme. „Wer allerdings innovativ sein will, muss hier auch ab und zu bereit sein, etwas zu wagen.“ Jüngstes Beispiel ist das Mischgerät Pentamix 3 der Seefelder, mit dem Zahnärzte Abformmaterialien automatisch anmischen lassen können. Das Gerät zeichnet sich vor allem durch seine Steuerung aus. „Über ein RFID-Etikett an den Kartuschen erkennt die Maschine höherwertige Materialien, die sich schneller anmischen lassen – zum Vorteil der Patienten, die schnell wieder nach Hause wollen.“ Der Knackpunkt dabei: Auch wenn die RFID-Technik als solche bekannt ist, konnte 3M Espe nicht auf Erfahrungen hinsichtlich der Steuerung der Maschine zurückgreifen. „Solch eine Anwendung gab es vorher nicht, Erfahrungen mussten wir also selbst über Tests unter Labor- und Praxisbedingungen sammeln.“ Da man aber monatlich mehr als 10 000 Kartuschen ausliefere, habe sich der Aufwand gelohnt.
Wer sich also intensiv mit der Zuverlässigkeit seiner Produkte beschäftigt, kann dies als echten Wettbewerbsvorteil nutzen – und künftig noch ganz andere Lösungen nutzen. „Wünschenswert sind beispielsweise Systeme, die dem Anwender online Auskunft über die Zuverlässigkeit – oder die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls – geben“, blickt Bernd Bertsche von der Universität Stuttgart in die Zukunft.
Michael Corban Fachjournalist in Nufringen

Neues Netzwerk
Mit dem HealthNet baut die TÜV-Nord-Gruppe derzeit ein Netzwerk für die Gesundheitsbranche auf. „Ziel ist es, die Branchenteilnehmer entlang der Wertschöpfungskette bundesweit zu vernetzen und den Informationsaustausch zwischen ihnen zu beschleunigen“, sagt Matthias Kersting, Branchenmanager für Gesundheit und Medizin bei der TÜV-Nord-Gruppe.
Parallel zu regelmäßigen Medical Meetings wird dazu eine Online-Datenbank aufgebaut, die den Kooperationspartnern zur Verfügung steht. „Bei den Medical Meetings kamen bislang jeweils 50 Teilnehmer aus der Branche zusammen. Neben dem Erfahrungsaustausch stehen Fachvorträge auf dem Programm“, so Kersting weiter. Zusammenfinden könnten auf diese Weise die derzeit 4,4 Millionen Beschäftigten der Gesundheitswirtschaft. Neben 12 000 Unternehmen der Medizinprodukte-Industrie mit 170 000 Mitarbeitern sind dies 407 000 Ärzte (davon mehr als 183 000 niedergelassen), 2000 Krankenhäuser, über 1000 Medizinische Versorgungszentren sowie mehr als 22 000 Apotheken, über 11 000 Alten- und Pflegeeinrichtungen, 11 000 ambulante Pflegedienste und viele Sanitätsgeschäfte. „Auf diese Weise wollen wir auch der immensen Innovationskraft in der Medizintechnik Rechnung tragen“, fährt Kersting fort. Nach Angaben des Europäischen Patentamtes seien 2007 insgesamt 16 742 Patente erteilt worden – ein Spitzenwert vor allen anderen Bereichen.

Ihr Stichwort
  • Zuverlässigkeit
  • Sicherheitsanalysen
  • Risiko-Management
  • Mechatronik
  • Kostenreduzierung

  • Literaturhinweis
    Speziell mit der Zuverlässigkeit mechatronischer Systeme sowie deren Bewertung in frühen Entwicklungsphasen beschäftigt sich der Titel „Zuverlässigkeit mechatronischer Systeme“. Die Autoren Bernd Bertsche, Peter Göhner, Uwe Jensen, Wolfgang Schinköthe und Hans-Joachim Wunderlich gehen vor allem auf die ganzheitliche Betrachtung von Mechanik, Elektronik und Software sowie auf die Quantität und Qualität der zugrundeliegenden Daten ein.
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