Wohl für die meisten Menschen ist es ein Schock, wenn ihr Arzt Krebs diagnostiziert. Denn damit beginnt eine Zeit der Ungewissheit. Wie schlimm ist es? Ist der Krebs heilbar? Manche Krebsformen aber sind für die Betroffenen gleich ein doppelter Schicksalsschlag – dann nämlich, wenn der Krebs sichtbar wird und wenn er dazu führt, dass das Gesicht eines Patienten entstellt wird.
Bösartige Wucherungen der Haut und der Schleimhaut können so schwerwiegend sein, dass den Patienten die ganze Nase oder eine Ohrmuschel entfernt werden muss. Manche verlieren das Auge. Die Betroffenen tragen damit eine schwere Bürde, weil ihre Erscheinung extrem auffällig ist und auf andere Menschen verstörend wirken kann. Um die Wunden oder Fehlbildungen zu verbergen, nutzt man schon seit mehr als 100 Jahren so genannte Epithesen – eine Art künstlichen Hautersatz aus Kunststoff, der den Makel verdeckt.
Was ist eine Epithese?
Anders als Prothesen ersetzen Epithesen per Definition unbewegte Körperteile, wie zum Beispiel die Nase, die Ohrmuschel oder nach schweren Verletzungen im Augenbereich auch die gesamte Augenpartie mitsamt dem Lid. Mitunter werden auch Brüste oder Fingerkuppen durch Epithesen ersetzt.
Die Idee, entstellende Fehlbildungen zu kaschieren, ist uralt. Der Begriff „Pappnase“ zum Beispiel kommt nicht von ungefähr: Schon im Mittelalter trugen Krieger, die im Kampf ihre Nase verloren hatten, ein Ersatzorgan – aus Pappe, Holz oder auch Metall, das man mit einem Band am Kopf befestigte.
In der modernen Epithetik sind wahre Künstler am Werk
Verglichen damit ist die moderne Epithetik eine anspruchsvolle Fachdisziplin – und die Fachkräfte, die Epithetiker oder Anaplastologen, wahre Künstler. Aus Silikon erschaffen sie täuschend echten Haut- und Organersatz, der detailliert eingefärbt und perfekt modelliert ist, sodass er sich optimal an das Gesicht anschmiegt.
„Die Epithetik ist inzwischen im Highend-Bereich angekommen“, sagt Falk Dehnbostel, Präsident des Deutschen Bundesverbandes der Epithetiker in Hamburg. Möglich haben das moderne medizinische Silikone gemacht, die hautverträglich, robust und widerstandsfähig gegenüber Fett, Schweiß und Verschmutzungen sind. Die Krankenkassen übernehmen alle zwei Jahre die Kosten für eine neue Epithese – mindestens so lange sollte eine Epithese halten. Doch Robustheit allein reicht nicht aus: Die Silikone müssen auch besonders weich und elastisch sein, damit sie den Gesichtszügen folgen und sich nicht von der Haut lösen.
Epithese halten heute mit Magnet statt mit Kleber
Auch bei der Befestigung der Epithesen habe es seit Anfang der 2000er Jahre deutliche Fortschritte gegeben, sagt Falk Dehnbostel, der bereits seit mehr als 30 Jahren als Epithetiker arbeitet. „Als ich anfing, wurden die Epithesen noch aus hartem PMMA-Kunststoff gegossen“, erinnert er sich. Diese Stücke aus Hartplastik wurden auf der Haut verklebt oder an einem Brillengestell befestigt, welches die Epithese an Ort und Stelle hielt.
Heute werden die Epithesen mit kleinen Magnetknöpfen am Gesicht gehalten. Das Prinzip stammt aus der Zahnmedizin und Implantologie. Schon seit vielen Jahren implantiert man kleine Metallstifte aus Titan in den Kieferknochen, auf die später die Implantate, etwa Ersatzzähne, gesetzt werden.
Von der Zahnmedizin abgeschaut
Titan hat die Eigenschaft, dass es den Knochen zum Wachstum anregt, sodass der Titanstift mit der Zeit fest mit dem Knochen verwächst. Dieses Prinzip hat die Epithetik entlehnt. Chirurgen implantieren heute an den entsprechenden Stellen im Gesicht kleine Metallstifte, in die später kleine Magneten eingeschraubt werden. Die Epithese wird ebenfalls mit Magneten ausgestattet, sodass sie fest auf den implantierten Magneten haftet.
Für die Chirurgen besteht die Herausforderung darin, die Titanimplantate an den dünnen Gesichtsknochen zu befestigen, die deutlich feiner als der Kieferknochen sind. Doch auch hier hat sich viel getan. Inzwischen gibt es Bögen und Tragstrukturen, die die Magnete an mehreren Punkten am Gesichtsknochen fixieren.
Solides Handwerk für die Produktion der Epithese
Die Produktion der eigentlichen Epithese erfolgt in mehreren Schritten. Zunächst nimmt der Epithetiker mit einer sogenannten Abformmasse einen Abdruck von der betroffen Stelle am Kopf. Dieser Abdruck wird dann mit Gips gefüllt und darauf anschließend mit Wachs ein Epithesenmodell modelliert. Dieses Wachsmodell wird im nächsten Schritt direkt am Gesicht des Patienten angepasst, damit die Übergänge von der Epithese zum Gesicht geschmeidig verlaufen und alle Proportionen stimmen.
Vom fertigen Wachsmodell wird anschließend erneut ein Gipsmodell gefertigt, das im letzten Schritt mit Silikon ausgegossen wird. Wobei der Begriff „ausgießen“ eher unangemessen ist, weil die Gipsform Schicht für Schicht mit Silikon gefüllt wird. „Die Haut eines Menschen ist ja ganz unterschiedlich strukturiert und gefärbt“, sagt Falk Dehnbostel. „Wir rühren deshalb Schicht für Schicht Silikone mit einem etwas anderen Farbton an, um natürliche Farbverläufe zu erzeugen.“ Alles in allem ist die Herstellung einer Epithese also ein aufwendiges Verfahren.
3D-Druck als Option für die Epithesenherstellung
Seit einiger Zeit versuchen Entwickler, diesen Prozess abzukürzen. Die Idee besteht darin, das Gesicht eines Menschen mit einem 3D-Scanner abzulichten und die Epithese in einem Arbeitsgang direkt mit einem 3D-Drucker herzustellen. Noch funktioniert das nicht, weil sich farbige Silikone nicht in der gewünschten Qualität verarbeiten lassen. Zudem sind solche Anlagen für die meist sehr kleinen Epithetik-Firmen zu teuer. „Auch lässt die Verarbeitung zu Wünschen übrig“, sagt Falk Dehnbostel. „Die Düsen verkleben oft, die Qualität stimmt nicht, und so sind wir mit der klassischen Produktion heute noch deutlich schneller und besser.“
Doch es gibt erste Ansätze, die Produktion der Epithesen zu automatisieren. Das Unternehmen Stamos + Braun Prothesenwerk in Dresden etwa setzt inzwischen regelmäßig den 3D-Scan ein, um die Gesichter der Kunden in Sekundenschnelle zu vermessen. „Wir bieten diese Dienstleistung für Kunden in Saudi-Arabien an, die nicht zu einem Epithetiker nach Deutschland kommen können“, erklärt Geschäftsführer Christoph Braun.
Als Scanner kommt ein modernes Smartphone mit einer leistungsfähigen Scan-Software zum Einsatz. Mehr braucht es nicht. Die 3D-Scans schickt Christoph Braun dann zu einem Kooperationspartner in Deutschland. Dieser setzt bereits 3D-Drucker ein – allerdings auch in diesem Falle noch nicht für den Druck der fertigen Epithese, sondern für den Druck der Negativform, die in diesem Fall aus Kunststoffen wie etwa Polymilchsäue oder ABS besteht. In diese Negativform wird dann wie üblich das Silikon per Hand eingeschichtet.
Alles in allem hat dieser 3D-Prozess weniger Schritte. Für Christoph Braun ein Vorteil. „Die Kunden sind mit den so hergestellten Epihesen sehr zufrieden“, sagt er. „Unser Ziel ist aber nach wie vor, irgendwann direkt vom 3D-Scan die fertige Epithese aus Silikon zu drucken. Denn beim Guss in der Negativform gibt es immer Presskanten, die man nachbearbeiten muss.“
Weg aus dem Uncanny Valley – Bewegung in der Epithese
Mit einem anderen Problem beschäftigt sich der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg PD Dr. Dr. Jan D. Raguse. Obwohl die Epithesen heute dank moderner Silikone und implantierter Magnete Highend-Geräte sind, bleibt das Problem, dass sie unnatürlich wirken – vor allem Augenepithesen.
Das bemerkt man schnell, wenn man einem Epithesen-Träger länger gegenüber sitzt. In eine solche Epithese ist ein zwar täuschend echtes Kunstauge eingearbeitet. Doch bewegen sich weder Lid noch Augapfel, weshalb das Gesicht unangenehm künstlich wirkt. Psychologen sprechen dabei vom „Uncanny-Valley“-Effekt, dem „unheimlichen Tal“. Gemeint ist damit, dass uns künstliche Gesichter mit steigender „Menschenähnlichkeit“ nicht einfach immer vertrauter erscheinen. Im Gegenteil: Absolut künstliche Comicfiguren wie zum Beispiel Bugs Bunny empfinden wir als sympathisch. Auch ein humanoider Roboter mit Blecharmen und kugeligen Kameraaugen spricht uns an. Eine fast lebensechte Roboterpuppe mit Gummihaut und Glaspupille aber stürzt in unserer Gunst ab. Zu nah und zugleich zu befremdlich ist uns ein solcher Android. Und das gilt auch für die Epithese mit Kunstauge.
Wie sich Auge und Lid in der Epithese dem gesunden Organ anpassen
In den vergangenen Jahren haben Forscher versucht, Epithesen herzustellen, die das Auge und auch das Lid bewegen können. Bei diesen Geräten messen Sensoren die Aktivität der Muskeln am gesunden Auge. Diese Information wird an kleine Motoren in der Epithese übertragen, die dann synchron das künstliche Lid und Auge bewegen. Doch die Apparatur ist schwer und die Ableitung der Muskelsignale kompliziert.
Dr. Jan D. Raguse, Chefarzt in der Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und Plastische Operationen der Fachklinik Hornheide in Münster, will deshalb einen anderen Weg gehen. Aktuell entwickelt er in Kooperation mit Anaplastologen und Forschern ein Konzept, bei dem statt eines beweglichen Kunstauges ein kleiner Bildschirm in die Epithese eingelassen ist, ein Oled-Dislpay. Die Idee: Eine kleine Kamera an einem Brillengestell nimmt die Bewegung des gesunden Auges auf und überträgt diese Information an die Epithese. Entsprechend wird dann auf dem Bildschirm die Bewegung des Auges als Filmsequenz abgespielt. Der Betrachter hat das Gefühl, ein echtes Augen anzuschauen.
Epithese sogar mit Farbwechsel-Effekt?
„Künstlich wirkt heute auch, dass Epithesen ihre Farbe nicht ändern können – etwa wenn sich beim Sport das Gesicht rötet“, sagt Raguse. Denkbar sei es, künftig Epithesen mit Farbstoffen auszustatten, die ihre Farbe mit der Temperatur wechseln – sogenannte Chromophore oder Thermophore. Solche Pigmente sind in anderen Branchen längst etabliert – sie könnten sich aber auch für die Epithetik eignen.
In einem europäischen Projekt geht Jan D. Raguse zusammen mit einem Team aus Anaplastologen, Wissenschaftlern, Designern und Psychologen noch einen ganz anderen Weg. Hier ist es nicht mehr das Ziel, eine Epithese so lebensecht wie möglich zu gestalten und gewissermaßen zu verstecken, sondern – ganz im Gegenteil – als auffälliges Accessoire zu gestalten. „Augenepithesen mit Mode- oder Sportlabel wären denkbar, die bunt und stylisch sind – so wie heute viele Menschen Tätowierungen als individuelles Merkmal schätzen.“ In der Studie wird jetzt vor allem untersucht, wie sich die Träger einer solchen Epithese fühlen und wie andere darauf reagieren.
Weitere Informationen
Zum Deutschen Bundesverbandes der Epithetiker:
www.dbve.de
Über Stamos & Braun:
www.prothesenwerk.com/de/
Über Dr. Raguse:
https://fachklinik-hornheide.de/klinik/team/aerztlicher_dienst/mund_kiefer_gesichtschirurgie_plastische_operationen/index_ger.html
Mehr zum Thema Faszination Medizintechnik: