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Die Luft ist raus

Technologietransfer: Von der Maultasche zur Mullbinde
Die Luft ist raus

Inhaltsteile von Verbandkästen lassen sich mit neuer Fertigungstechnik vakuumverpacken. Idee und Umsetzung sind ein Beispiel für branchenübergreifenden Technologietransfer. Beim Kompetenzpreis für Innovation und Qualität Baden-Württemberg wurde das Unternehmen ausgezeichnet.

Betriebsleiter Karsten Bablich beschäftigt sich bei der Heidenheimer CMC Consumer Medical Care GmbH mit der Herstellung von Verbandkästen. Nachdem der Autohersteller Bentley die Anforderung an die Zulieferindustrie gestellt hatte, eine stark verkleinerte Erste-Hilfe-Tasche zu entwickeln, machte man sich bei CMC, einer Tochter der Hartmann-Gruppe, Gedanken darüber, wie dieses Problem technisch am besten zu lösen wäre. Die Idee des Vakuumierens von Mullbinden, Kompressen und anderen Komponenten zu einem kompakten Paket kam Dr. Rainer Mangold, dem heutigen Geschäftsführer der CMC, zuhause in der Küche, als er seiner Frau beim Vakuumversiegeln von Maultaschen zur Bevorratung in der Gefriertruhe zuschaute.

Etwa ein Jahr später setzte sein Kollege Bablich die Methode in der Verbandkastenfertigung um. Der 43-jährige Maschinenbauingenieur ist zuständig für die Optimierung von Fertigungsprozessen. Eine seiner Aufgaben ist es, Nachteile, die die Produktion in einem Hochlohnland wie Deutschland mit sich bringt, so zu kompensieren, dass sich die Herstellung trotzdem rechnet. Gleichzeitig müssen er und seine Kollegen aus der Produktentwicklung den Anforderungen der Automobilindustrie gerecht werden, und eine davon lautet: immer kompakter werden.
Je kleiner die Stauräume bei Fahrzeugen werden, desto kleiner müssen auch die Verbandkästen und -taschen werden, um in die Hohlräume zu passen. Dies stellt die Industrie vor große Herausforderungen, denn „obwohl wir das Volumen reduzieren sollen, muss der genormte Inhalt hineinpassen“, sagt Bablich. Es darf weder etwas weggelassen oder durch eine kleinere Variante ersetzt werden. Manche Autohersteller, wie zum Beispiel Bentley, bestehen auf Erste-Hilfe-Modulen von gerade einmal 1,1 l Volumen. „Bei der maschinellen Bestückung schaffen wir aber bestenfalls ein Packvolumen von zwei Litern, mit der Handkonfektionierung können wir 1,6 Liter erreichen.“
Um noch geringere Packvolumina zu erzielen, entwickelte CMC ein Verfahren auf Basis der Vakuumtechnologie, um besonders kleinformatige Verbandtaschen herzustellen. Dazu werden alle Inhaltsteile nach einem vorgegebenen, Platz sparenden Packschema in einen Beutel gepackt, aus dem anschließend, wie bei den Maultaschen im Gefrierbeutel, die Luft abgesaugt wird.
Technisch sieht Karsten Bablich durchaus Ähnlichkeiten zwischen Maultaschen und Mullkompressen in der Vakuumverpackung. „Beide werden in hohen Stückzahlen, also als Massenware hergestellt. Somit hatten wir es mit den gleichen Maschinenlieferanten zu tun, die sich mit dieser Verpackungstechnologie bereits auskannten. Wir mussten also nur noch über Anpassungen in der Technik nachdenken.“
Die ersten Versuche führten Mangold und Bablich mit einem haushaltsüblichen Handvakuumiergerät durch, das jedoch nicht genug Unterdruck erzeugte, um die gewünschte Volumenreduzierung zu erzielen. Daher ging man für weitere Versuche dorthin, wo man gewerblich ähnlich geformte und vergleichbar voluminöse Produkte mit dieser Methode vakuumiert: in eine Metzgerei. „Bei den Tests lagen unsere Produkte zwar nicht neben den Maultaschen, aber direkt neben den Würsten“, erinnert sich Bablich.
Die Anpassungen im Fertigungsprozess waren dennoch erheblich. Denn was im Lebensmittelbereich funktioniert, musste zunächst auf seine Tauglichkeit für Medizinprodukte getestet werden, für die andere, weit strengere gesetzliche Vorschriften gelten.
Zunächst war zu prüfen, ob sich die Technik auch für Sterilteile eignet, insbesondere unter dem Aspekt, dass sie durch das Vakuumieren weder beschädigt noch in ihrer Qualität beeinträchtigt werden durften. Außerdem müssen die Inhaltsteile von Verbandkästen und -taschen nach DIN 13164 mindestens fünf Jahren lang haltbar sein. Dies gilt auch für Produkte in vakuumierten Beuteln. „In der Lebensmittelindustrie hatte man aber Erfahrung mit längstens einem Jahr, zum Beispiel bei Kaffee“, erläutert Bablich. Bei Autoverbandzeugen kommen noch Einflüsse wie extreme Temperaturschwankungen im Auto erschwerend hinzu. Denn Verbandmaterial muss auch Minustemperaturen im Winter und brütend heiße Sommertemperaturen fünf Jahre lang unbeschadet überstehen.
Hierzu arbeiteten Bablich und seine Kollegen mit verschiedenen Testverfahren, die sie zum Teil speziell für diesen Anwendungsfall entwickelt hatten. Mit ihnen lässt sich das Langzeitverhalten der vakuumierten Erste-Hilfe-Sets im Hinblick auf ihre Dichtigkeit vorhersagen. Neben reinen Volumenmessungen, bei denen das Tauchvolumen von Probebeuteln ermittelt wurde, bestimmte das Entwicklungsteam beispielsweise auch die Duktilität, also die plastische Verformbarkeit der vakuumierten Beutel, da sie ein Maß für die Dichtigkeit ist. Treten Undichtigkeiten auf, werden die Probebeutel weicher. Damit kann ein Prüfstempel bei einer definierten Kraft tiefer in den Probebeutel eindringen. Bei allen bisherigen Langzeittests haben sich bei den Messreihen keine signifikanten Veränderungen gegenüber dem Ausgangszustand ergeben.
Um die Anforderungen zu erfüllen, verwendet CMC spezielle Aluminiumbeutel, die sich in der Raumfahrtindustrie bewährt haben. Sie bestehen aus einer Aluminiumverbundfolie mit einer sehr geringen Gasdurchlässigkeit. Die intern und in externen Labors durchgeführten Versuchsreihen und Schnelltests haben bewiesen, dass sich das Vakuumverfahren auch für Erste-Hilfe-Produkte eignet. Es ist inzwischen in Deutschland, Spanien, Frankreich und Großbritannien patentiert worden. Außer Bentley bestückt CMC auch VW Passat mit vakuumiertem Verbandzeug. Mit weiteren deutschen Autoherstellern sind die Heidenheimer im Gespräch.
„Die Vakuumiertechnik in Kleinserie war ein Sprungbrett, um diese neue Technologie zu etablieren und im Markt Akzente zu setzen“, resümiert Bablich und freut sich, dass die Autoindustrie so positiv reagiert hat. Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass CMC jetzt die Produktionsmenge steigern muss, und dies wiederum hat Auswirkungen auf die Fertigungstechnologie.
Bisher wurden die Aluminiumbeutel mit den Inhaltsteilen gefüllt, in eine in der Vakuumanlage integrierte Holzform eingelegt und anschließend vakuumiert. Dieser Fertigungsablauf ist aber nur für Kleinserien sinnvoll. Da die Auftragsmengen inzwischen deutlich gestiegen sind, werden die vakuumverpackten Erste-Hilfe-Sets seit September 2008 an einem neu entwickelten Montagearbeitsplatz im One-Piece-Flow-Verfahren konfektioniert.
Bei diesem Produktionsverfahren stellen die Mitarbeiterinnen den vakuumierten Beutel in einem Arbeitsgang komplett fertig. Dies geschieht ohne Zwischenpuffer, bei dem halbfertige Produkte zwischengelagert werden müssen, ohne Zeitverluste durch Warte-, Liege- oder vermeidbare Gehzeiten und unter Berücksichtigung ergonomischer Gesichtspunkte bei der Arbeitsplatzgestaltung, wobei auch auf kurze Greifwege („Best Point“) geachtet wurde. „Wir haben jetzt einen unter Wertschöpfungskriterien gestalteten Arbeitsplatz mit verschwendungsfreien Arbeitsabläufen“, fasst Bablich den neuen Fertigungsprozess zusammen. Dabei legt er Wert auf die Feststellung, dass viele Vorschläge seiner Mitarbeiterinnen aus der Produktion in die Umgestaltung ihres Arbeitsplatzes eingeflossen sind. Er ist als Multizelle angelegt, das heißt, dass an diesem Montageplatz verschiedene Verbandtaschen hergestellt werden können.
CMC freut sich über die Anerkennung der Innovationskraft und den Erfolg der Vakuumtechnologie bei den Abnehmern. Jetzt aber gilt es, auch langfristig kosteneffizient zu fertigen, denn vakuumierte Verbandtaschen sind teurer als herkömmliche. Zwar ist die Automobilindustrie gewillt, für ein höherwertiges Produkt etwas mehr zu zahlen. „Da ist noch etwas Luft drin, aber nicht viel“, weiß Bablich.
Margarete Krämer Paul Hartmann AG, Heidenheim

Vakuumtechnologie
Alle Inhaltsteile für die Auto-Verbandzeuge werden nach DIN 13164 in Aluminiumbeutel verpackt, aus denen die Luft abgesaugt wird. Das ermöglicht eine Volumenreduktion von etwa 3 l auf bis zu 1,1 l.
Um diese Technik umzusetzen, nutzte das Unternehmen den Technologietransfer aus der Lebensmittelbranche – wobei alle Zusatzanforderungen, die für Medizinprodukte gelten, eingehalten wurden.
Dafür wurde der Produktbereich Erste Hilfe der Heidenheimer CMC Consumer Medical Care GmbH, einer Tochtergesellschaft der Hartmann-Gruppe, im April 2008 im Rahmen des Kompetenzpreises für Innovation und Qualität Baden-Württemberg 2008 ausgezeichnet. Bewertet wurden innovative Voraussetzungen, hervorragende Umsetzungsprozesse und nachhaltig positive Ergebnisse.

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