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Der Rolli gehorcht aufs Wort

Antriebstechnik: Komplexe Softwarelösungen für selbstnavigierenden Rollstuhl
Der Rolli gehorcht aufs Wort

Autonome Assistenzsysteme sollen künftig älteren Menschen und Behinderten den Alltag im eigenen Haushalt erleichtern. Ein Rollstuhl, der auf Sprachbefehl durch die Wohnung fährt, zeigt, dass das keine ferne Vision mehr ist.

Wenn Bernd Gersdorf eine Milch aus dem Kühlschrank holen möchte, dann muss er nicht durch die Wohnung bis in die Küche laufen. Es spricht nur einen Befehl: „Fahre mich zum Kühlschrank“. Dann reagiert „Rolland“ sofort. Sanft setzt er seine Gummireifen in Bewegung und gleitet in gemächlichem Fußgängertempo gen Küche. Rolland ist ein elektrischer Rollstuhl und zugleich eines der derzeit wohl ausgeklügeltsten autonomen Assistenzsysteme für ältere oder behinderte Menschen.

Rolland ist eine Erfindung von Wissenschaftlern des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Bremen, ein Rollstuhl, der von allein Hindernissen ausweichen kann, sich im Raum orientiert und aufs Wort gehorcht. Was er leistet, testen die Entwickler regelmäßig in ihrem Bremer Ambient Assisted Living Labor (BAALL) – in Räumen, die zwar wie eine gewöhnliche Wohnung eingerichtet, tatsächlich aber mit jeder Menge anspruchsvoller Elektronik ausgestattet sind. „Derzeit arbeiten wir an der vierten Generation unseres Rollstuhls, den wir im Laufe von 15 Jahren immer weiter optimiert haben“, sagt Gersdorf, Informatiker im Bereich Sichere Kognitive Systeme am DFKI.
Gersdorf ist überzeugt davon, dass die Bedeutung zuverlässiger und leicht zu bedienender Assistenzsysteme, mit denen der Mensch mobil bleiben kann, in der alternden Gesellschaft immer wichtiger wird. Viele Assistenzroboter werden heute dafür ausgelegt, selbst Aufgaben zu erledigen oder Dinge herbeizubringen. Rolland hingegen bewegt Personen durch ihre eigene Wohnung. Der Rollstuhl gibt den Anwendern damit ein Stück Mobilität zurück.
Das ist aus einer Vielzahl von Gründen ausgesprochen anspruchsvoll. Da wäre zum einen die Orientierung: Rolland tastet seine Umgebung mit einem Laserscanner wenige Zentimeter über dem Boden ab. Damit erkennt er nicht nur Hindernisse. Er kann zugleich berechnen, wo er sich gerade befindet. Voraussetzung dafür ist, dass er seine Umwelt zunächst einmal kennen lernt. Dafür lassen die Forscher Rolland zunächst neue Umgebungen abfahren. Mit seinem Laser misst er während dieser Schulungsrunde permanent den Abstand zu Gegenständen wie Küchenzeilen, Türrahmen oder Tischen. Anschließend generiert der Computer daraus eine Art Hindernislandkarte. „In dieser Karte müssen wir dann im Detail definieren, welche Orte später als Zielorte angefahren werden sollen“, sagt Gersdorf. „Zudem geben wir die idealen Strecken zwischen verschiedenen Orten wie Kühlschrank oder Sessel ein.“ Auch die Halteposition wird im Detail definiert. So muss der Rollstuhl zum Beispiel schräg vor dem Kühlschrank halten, damit man die Tür noch öffnen kann.
Ist die Landkarte definiert, reicht ein Sprachbefehl, und Rolland rollt los. Die Auflösung des Laserscanners beträgt rund 3 cm. Das reicht, um Hindernissen auszuweichen, beispielsweise Personen oder einem Stuhl, der vom Tisch abgerückt wurde.
Nur wenn der Weg völlig versperrt ist, geht es nicht weiter. Denn zu großräumigen Umfahrungen ist Rolland derzeit noch nicht in der Lage. Die Software kann allerdings durchaus errechnen, ob der Rollstuhl beim Durchfahren einer Türöffnung mit den Hinterrädern hängen bleibt oder nicht. Die Elektronik bringt ihn dann automatisch auf Kurs.
„Seit einigen Jahren gibt es Rennen für autonome Fahrzeuge“, sagt Gersdorf. „Autos, die durch Straßen oder unwegsames Gelände navigieren müssen. Die Computerprogramme, die dort zum Einsatz kommen, sind auch für uns interessant. Allerdings hat es niemand mit derart engen Umgebungen zu tun wie wir.“
Knifflig war auch die Entwicklung der Sprachsteuerung. Zwar setzen die DFKI-Forscher handelsübliche Spracherkennungssysteme ein. Grammatik und Wortschatz aber mussten sie selbst definieren. Dabei steht der Komfort im Vordergrund. So kann man einem Nutzer kaum zumuten, Dutzende von Befehlen auswendig zu lernen. Das Sprachsystem muss daher so programmiert werden, dass es auf abweichende Befehlsvarianten wie „Zur Küche“ oder „Bring mich zur Küche, bitte“ richtig reagiert. Darüber hinaus genügt es nicht einfach „Licht an“ zu sagen, wenn in der Wohnung 20 verschiedene Lampen installiert sind. „Hier braucht man intelligentere Sprachcodes, die zielgerichtet sind und den Anwender nicht überfordern“, sagt Gersdorf. Damit kein Hintergrundgeräusch den Empfang stört, werden die Befehle per Bluetooth-Headset übertragen.
Rolland und das BAALL sind zwei Teile eines Gesamtkonzepts. Das Labor ist mit verschiedensten Assistenztechnik-Lösungen ausgestattet; höhenverstellbaren Tischen, Schiebetüren, die sich auf Befehl öffnen oder Hängeschränken, die sich absenken, wenn der Nutzer einen Teller herausholen möchte. Eine Herausforderung bestand darin, die verschiedenen Systeme diverser Hersteller auf einen gemeinsamen Steuer- und Kommunikationsstandard zu bringen, der mit Sprachbefehlen zurecht kommt. Dafür musste zunächst eine eigene Software geschrieben werden.
Für die Bremer ist die Sprache in jedem Falle der Verständigungsmodus schlechthin. Sie ist intuitiv und natürlicher als Touchscreens oder Fernsteuerungen. „Selbst Schlaganfallpatienten, deren Motorik gestört ist, können ihren Rollstuhl damit steuern“, sagt Gersdorfs Kollege, der Software-Spezialist, Christian Mandel.
Wann und ob Rolland als Komplett-Lösung auf den Markt kommt, kann Gersdorf noch nicht sagen. Das Know-how aber fließt bereits in Kooperationen mit verschiedenen Unternehmen ein. So arbeiten die Forscher mit einem mittelständischen Unternehmen zusammen, dass Sprachsteuerungen für verschiedenste Rollstuhltypen anbieten möchte.
Was die Bremer schon erreicht haben, ist beachtlich. Um sicherzustellen, dass der Rollstuhl Personen tatsächlich zuverlässig transportiert, haben sie ihre Steuerung aufwendig mathematisch geprüft. „Verifikation“ nennen Fachleute derartige Rechenverfahren, mit denen sich beispielsweise statistisch beweisen lässt, dass ein Rollstuhl in jedem Fall stoppt, wenn ein Hindernis auftaucht. Flugzeug- und Autoentwickler verifizieren die Steuerungssoftware ihrer Jets und Fahrzeuge heute standardmäßig. In der Entwicklung von Assistenz-Rollstühlen ist das ein Novum. „Die Drehbewegung der Räder, die Beschleunigungen, alle physikalischen Parameter gehen in eine solcher Berechnung ein“, sagt Gersdorf, „der Aufwand ist erheblich.“
Gut möglich, dass das Bremer Know-how zunächst in einem kleinen Bruder von Rolland zum Produkt wird. So arbeiten die Forscher in einem aktuellen Projekt an einem sprachgesteuerten Rollator. Für die Nutzer ist oftmals das Einsteigen besonders anstrengend, etwa wenn der Rollator etwas abseits oder neben dem Sessel steht. „Wir entwickeln eine Lösung, mit der man das Gerät in definierte Parkpositionen rufen kann, etwa direkt vor den Sessel oder das Bett“, sagt Gersdorf. Dass so etwas tatsächlich funktionieren kann, zeigt Rolland täglich. Und dabei beherrscht er nicht nur Befehle wie etwa „Fahr mich zum Esstisch“. Wenn seine Meister ihn grüßen, antwortet er sogar mit „Guten Tag“.
Tim Schröder Fachjournalist in Oldenburg
Weitere Informationen Über das Projekt Rolland: www.informatik.uni-bremen.de/rolland/

Servo inklusive
Seit drei Jahren arbeiten die Bremer an einem Rollstuhl des Orthopädietechnik-Herstellers Otto Bock. Eine Besonderheit ist hier die Servolenkung, mit denen die Rollstühle schon ab Werk ausgestattet sind. Damit können die Vorderräder auch im Stand bewegt und ausgerichtet werden. Der Vorteil: Herkömmliche Schwenkrollen ohne Servoantrieb richten sich wie die Räder eines Einkaufwagens erst dann aus, wenn der Rollstuhl losfährt. Damit bewegt sich der Stuhl zunächst ein wenig in die falsche Richtung. Ein Mensch kann das schnell kompensieren, ein automatischer Rollstuhl muss zunächst die Bahn korrigieren und neu berechnen.

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