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Auch Schraubfälle müssen klassifiziert werden

Schraubmontage: Neue Richtlinie VDI/VDE 2862, Blatt 2, seit Februar als Weißdruck erhältlich
Auch Schraubfälle müssen klassifiziert werden

Die Richtlinie VDI/VDE 2862, Blatt 2, definiert Mindestanforderungen für den Einsatz von Schraubwerkzeugen, die auch im medizintechnischen Bereich umgesetzt werden müssen. Prozessanalysen sichern die geforderte Qualität.

„Stellen Sie sich vor, Sie betreiben einen Computertomographen oder ein Röntgengerät, und plötzlich scheppert es irgendwo im Inneren oder es tröpfelt Öl heraus …“, sagt Thomas Hötschl, Prozessoptimierer bei der Atlas Copco Tools Central Europe GmbH in Essen. „Womöglich noch in Gegenwart eines Patienten. Den sehen Sie vermutlich nicht so schnell wieder!“ Das Bild ist drastisch, aber der reale Hintergrund einer Prozessanalyse, die Hötschl und seine Kollegen vor einiger Zeit für einen Hersteller medizintechnischer Geräte durchgeführt haben.

An einem Gleitlager im Gerät befanden sich mehrere Schraubverbindungen mit 17 mm langen M5er Schrauben. Der Hersteller hatte, laut Hötschl, „aufgrund der komplexen Materialkombination des Geräts und der speziellen Schrauben“ Schwierigkeiten, das Lager abzudichten. Er trat an Atlas Copco heran mit der Bitte, den Schraubfall zu analysieren und eine „wasserdichte“ Lösung zu finden.
„Wir haben zunächst eine neue Programmierung mit anderen Drehmomenten getestet, aber diese führte uns nicht zum Ziel“, sagt der Experte. Doch lässt sich die beschriebene Geräteserie nun prozesssicher montieren: Durch eine veränderte Beschichtung der Schrauben ließen sich die Reibwerte anpassen, und die Schrauben werden nun mit einem elektronisch gesteuerten Tensor-SL-Schrauber von Atlas Copco angezogen. Geführt wird er an einem Drehmomentenarm – und er ist ausgelegt für die Fertigung im Reinraum. Die neue Schraubstrategie sieht anstelle des Drehmoments den Drehwinkel als Steuergröße vor, wobei auch das Drehmoment überwacht wird. Beschwerden durch Patienten oder Ärzte sowie etwaige Kosten eines Rückrufs lassen sich so vermeiden.
„Ein hoher Prozentsatz solcher Produktrückrufe und Regressforderungen wird durch fehlerhafte Schraubverbindungen verursacht“, weiß Niels Rabbe, Leiter Produktionsoptimierungen und Trainings bei Atlas Copco Tools. Und auch wenn sich die Gesetzeslage zwar nicht grundlegend geändert habe, würden die Bestimmungen des europäischen Produkthaftungsgesetzes derzeit in der allgemeinen Industrie konsequenter angewandt – wie es in der Automobilindustrie schon lange der Fall ist.
Verschärft wird die Situation auch für Medizinprodukte-Hersteller aktuell durch die Richtlinie VDI/VDE 2862, Blatt 2. Sie ist seit Februar 2015 im Weißdruck erhältlich und damit offiziell gültig. Sie definiert Mindestanforderungen für den Einsatz von Schraubwerkzeugen im Anlagen-, Maschinen- und Gerätebau sowie für Flanschverbindungen an drucktragenden Bauteilen. „Ich rechne damit, dass die neue Richtlinie in den nächsten ein, zwei Jahren im deutschen Maschinen- und Anlagenbau sehr viel bewegen wird“, sagt Rabbe. „Denn alle Unternehmen, die bislang noch keinen eigenen Prozess aufgesetzt haben, um die Prozesssicherheit in ihrer Schraubmontage zu gewährleisten, müssen nun aktiv werden. Für sie ist die Richtlinie ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung insofern bindend.“
Rabbe ist Vorsitzender des Fachausschusses 3.6.3 der VDI-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA). Der Fachausschuss befasst sich unter anderem mit der Klassifizierung von Schraubverbindungenden und allgemein der Schraubtechnik. „Die VDI 2862 definiert die technischen Mindestanforderungen an die eingesetzte Schraubtechnik in Abhängigkeit von dem Risiko, das von dem jeweiligen Schraubfall und dem Montageprozess ausgeht“, fasst Rabbe zusammen. „Hierzu werden die Schraubfälle in die Kategorien A, B und C eingeteilt – und zwar nach dem Risiko beim Versagen sowie nach der Möglichkeit, etwaige Fehlverschraubungen in der Montage zu erkennen und zu vermeiden.“
Die Richtlinie VDI/VDE 2862 verlangt nun von jedem herstellenden Unternehmen, seine Montagefälle zu beurteilen: Ist die Schraubverbindung sicherheitskritisch, funktionskritisch oder unkritisch? Für die jeweilige Schraubfallklasse bietet die Richtlinie einen Leitfaden, um für die Verbindungen die richtigen Maßnahmen festzulegen.
Als „sicherheitskritisch“ gelten Schraubverbindungen der Kategorie A, bei deren Ausfall ein „Risiko für Leib und Leben sowie Umwelt“ besteht. Diejenigen der Kategorie B bergen ein „Risiko für Funktionsausfall“ und sind damit „funktionskritisch“. In Kategorie C fallen alle übrigen Schraubfälle und werden als „unkritisch“ eingestuft. Die Schraubverbindungen dieser Klasse wurden früher auch als „kundenkritisch“ bezeichnet, da ein Ausfall zunächst schlimmstenfalls den Kunden verärgert, aber eben weder Funktion noch Sicherheit beeinträchtigt.
Auch wenn die Schrauben des beschriebenen Gleitlagers für ein Großgerät weder funktions- noch sicherheitskritisch sind, spielte für den Hersteller die reine Verärgerung von Patienten und Betreibern eine große Rolle. Angesichts der beklemmenden Gefühle, die der Aufenthalt im Gerät an sich hervorrufen kann, wäre sicher kein Aufwand zu groß, weitere Unruhe zu vermeiden.
„Eine geeignete Maßnahme zum Vermeiden von Ausfällen wäre zum Beispiel, ein hochwertiges Schraubwerkzeug einzusetzen oder den Prozess anderweitig abzusichern“, erklärt Niels Rabbe. Ob im Einzelfall in Technologie oder prozessabsichernde Maßnahmen investiert werde, entscheide das Unternehmen selbst. Ein Anlagenbauer benötige in der Einzelfertigung sicherlich eine andere Infrastruktur als ein Großserienhersteller. „Aber beide wollen und müssen die sichere und störungsfreie Funktion ihres Produktes gewährleisten.“
Noch herrscht laut Rabbe große Unsicherheit über die Details. Aber: Der aufwendige Entstehungsprozess der VDI-Richtlinien mit sechsmonatiger Einspruchsfrist auf den Gründruck und der peniblen Bearbeitung der Einsprüche im Fachausschuss führe zu einer hohen Akzeptanz im Markt. „Und letztlich macht sich jeder, der die Richtlinien nicht befolgt, angreifbar, wenn sein Produkt einen Schaden verursacht, der auf das Versagen einer Schraubverbindung zurückzuführen ist. Auch externe Audits werden demnächst kaum noch zu bestehen sein, wenn die Prozesse nicht stimmen“, prognostiziert Rabbe.
Thomas Preuß Fachjournalist in Köngiswinter
Weitere Informationen Das Prozessoptimierungs- und Trainingsteam von Atlas Copco Tools unterstützt Hersteller beim Umsetzen der aktuellen Richtlinien und der Installation geeigneter Prozesse. Die offenen Seminare und Inhouse-Veranstaltungen sind vom TÜV akkreditiert.

Was die Richtlinie vorsieht
Neben der Klassifizierung des Schraubfalls ist gemäß der neuen Richtlinie VDI/VDE 2862, Blatt 2, auf folgende Punkte zu achten:
  • Das Werkzeug muss gemäß Klassifizierung und Prozess für den Schraubfall geeignet sein.
  • Gegebenenfalls müssen geschulte Mitarbeiter eingesetzt werden. Die Norm EN 1591-4 beschreibt diesen Fall für die Montage von Flanschverschraubungen an druckbeaufschlagten Systemen im kritischen Einsatz.
  • Die Maschinenfähigkeit der eingesetzten Werkzeuge ist regelmäßig zu überprüfen (gemäß VDI/VDE 2645, Blatt 2).
  • Es ist eine regelmäßige Kontrolle der Prozessfähigkeit (gemäß VDA 5.2 und der geplanten VDI/VDE 2645, Blatt 3) nötig.
  • Es muss sichergestellt sein, dass i.O.-bewertete N.i.O.-Verschraubungen erkannt werden, etwa über eine Prozessfähigkeitsuntersuchung/PFU. Fehler in der Bewertung treten zum Beispiel dann auf, wenn das Werkzeug nicht mehr im vorgegebenen Toleranzfenster arbeitet und fehlerhafte Drehmomente ausgibt.
  • Empirische Verifizierung der konstruktiven Auslegung von kritischen Schraubverbindungen (gemäß VDI 2230).
  • Prüfmittel (gemäß VDI/VDE 2646 und 2648) müssen regelmäßig kalibriert werden. Anwender sollten beachten, dass ihre Kalibrier-Dienstleister die Anforderungen an die Kompetenz von Prüf- und Kalibrierlaboratorien gemäß ISO 17 025 erfüllen.

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