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Regulierung bremst smarte Fabs aus

Industrie 4.0: Medizintechnikunternehmen agieren sehr zurückhaltend
Regulierung bremst smarte Fabs aus

Lange Zeit ein reiner Hype, nimmt Industrie 4.0 in den deutschen Fabriken allmählich Fahrt auf. Unternehmen in der Medizintechnik gehören aber nicht unbedingt zu den Vorreitern. Es gibt regulatorische Hürden. Und für kleine und mittlere Unternehmen rechnet sich die smarte Fabrik oft nicht.

Der VDE ist sich sicher: Die smarte, vernetzte Fabrik kommt. Spätestens in zehn Jahren wird Industrie 4.0 in Deutschland Realität sein. Nach einer Umfrage unter 1300 Mitgliedsunternehmen des Verbands quer durch alle Branchen befassen sich derzeit 34 % konkret mit dem Thema Industrie 4.0. Allerdings befinden sich davon 70 % noch in der Beobachtungs- beziehungsweise Analysephase.

Ein Drittel hat bereits operative Einzelprojekte angestoßen. Dabei handelt es sich allerdings in der Mehrzahl um große Unternehmen mit 5000 oder mehr Beschäftigten. Konkrete Zahlen zum Einsatz von Industrie 4.0 in der Medizintechnik-Branche nennt der VDE in seiner Studie vom Frühjahr dieses Jahres nicht. Doch Fakt ist, dass es bislang nur wenige Medizintechnik-Hersteller gibt, die auf den Zug aufgesprungen sind. Dies überrascht angesichts der VDE-Zahlen nicht, denn in der Branche gibt es nur wenige große Anbieter.
Aesculap, eine Sparte von B. Braun, gehört dazu: Mit rund 11 500 Mitarbeitern weltweit ist der Anbieter von Produkten und Dienstleistungen für die Kernprozesse im OP eine der Branchengrößen – und liefert mit der Ende 2014 an seinem Hauptsitz in Tuttlingen eröffneten Innovation Factory ein Beispiel dafür, wie die Vernetzung und Digitalisierung in der Fertigung aussehen kann – und dass sie sich rechnet. „Ehrlich gesagt, haben wir bei unseren Planungen und bei der Umsetzung der Innovation Factory nicht einen Augenblick an Industrie 4.0 gedacht“, gesteht Dr. Joachim Schulz, im Aesculap-Vorstand zuständig für Produktion und Logistik. „Wir befassen uns zwar mit dem Thema, aber eher unter den Vorzeichen der Digitalisierung der Produktion. Denn darum geht es ja bei Industrie 4.0 im Prinzip. Wichtig ist dabei für uns nicht, was aus technischer Sicht machbar ist, sondern welche Chancen daraus für unser Unternehmen erwachsen.“
Im neuen Werk fertigt Aesculap Sterilcontainer- und Motorensysteme für chirurgische Instrumente nach Industrie-4.0-Prinzipien – weitgehend automatisiert und mit verketteten Arbeitsstationen. Dabei sind der Motoren- und Containerbereich voneinander getrennt – nach der Idealvorstellung von Industrie-4.0-Experten wäre dies sicherlich ein Tabu. Demnach würde sich ein Werkstück, ganz gleich, für welches Produkt es benötigt wird, seinen Weg durch die vernetzte Fabrik selbst suchen. Das Beispiel Aesculap zeigt daher, dass sich die Ideen von Industrie 4.0 ganz unterschiedlich realisieren lassen.
Die vollautomatische Fertigungslinie für die Sterilcontainer beherbergt zehn Bearbeitungsstationen, die mit sieben Robotern verknüpft sind, und ein vollautomatisches Blechlager mit rund 600 Lagerplätzen. „Wir haben hier viele, früher verteilte Arbeitsschritte und -stationen zu einer Fertigungslinie miteinander verkettet und einfache manuelle Tätigkeiten durch Automation ersetzt“, erklärt Schulz.
Sobald ein Sterilcontainer – den es in rund 250 Varianten gibt – das Logistiklager verlässt, wird ein neuer Produktionsauftrag für genau dieses Modell ausgelöst. Schulz: „Unser Ziel sind geringe Lagerbestände, um die Kosten zu senken. Deshalb müssen wir das Lager jederzeit wieder schnell füllen. Kurze Durchlaufzeiten sind daher Pflicht. Und da wir die Produktion nicht mehr nach historischen Daten, sondern nach Lagerabgang, also letztlich nach Kundenbestellung, steuern, haben wir nun kleine Losgrößen.“ Das Resultat: Sterilcontainer werden nun innerhalb von sechs Minuten gefertigt. Früher dauerte dies je nach Variante drei bis vier Tage.
Das gleiche Ziel – geringe Kapitalbindung durch niedrige Lagerbestände – verfolgt Aesculap auch bei der Fertigungslinie für Motorensysteme. Im Unterschied zur Sterilcontainer-Herstellung gibt es hier deutlich mehr Produkte – nämlich mehr als 3000 einschließlich aller Varianten. „Deshalb geht es hier weniger um die Verkettung als vielmehr um die kluge, intelligente Steuerung von individuellen Arbeitsplätzen mit einem hohen Anteil manueller Tätigkeiten – beispielsweise durch eine automatische, bedarfsgerechte Materialzuführung“, erklärt Schulz. Die Durchlaufzeiten wurden auch hier drastisch gesenkt – um 20 bis 40 %.
Das Beispiel Aesculap ist einer der wenigen Fälle aus der Medizintechnik-Branche, wo Industrie 4.0 in der Praxis Einzug hielt. „Die Branche ist geprägt von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Und diese haben es schwer, die Potenziale der vernetzten Fabrik für sich zu identifizieren“, betont Dr. Jens Nitsche, Direktor Research & Development des Ulmer Beratungsunternehmens Ingenics. „Ihnen ist unklar: Was kostet es mich? Und wie muss ich solche Projekte angehen?“ Nach seiner Erfahrung haben bislang nur wenige Medizintechnik-Anbieter erkannt, dass die Digitalisierung auch ihre Geschäftsprozesse positiv verändern kann. Als gutes Beispiel dafür sieht er Hersteller von prothetischen Lösungen im Dentalbereich, die auf Basis digitaler Modelle individuelle Produkte quasi on demand fertigen und liefern. Dies eröffnet neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten.
„Die mit Industrie 4.0 verbundenen Herausforderungen für die kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Medizintechnik sind groß“, bestätigt Christian Neu, Berater beim SAP-Beratungsunternehmen DHC Dr. Herterich & Consultants mit Sitz in Saarbrücken. „Die IT-Systeme für die Vernetzung in der Produktion sind teuer und komplex. Die Lösungen sind primär für große Unternehmen ausgelegt. Dabei gilt die Faustformel: Je mehr und diversifizierter ein Unternehmen produziert, desto eher rechnet sich Industrie 4.0.“ Seiner Einschätzung nach bräuchte die Medizintechnik Software, die sich nach unten skalieren lässt, also „kleinere, abgespeckte Lösungen“, die auch auf Produktionsprozesse von mittelständischen Unternehmen zugeschnitten sind.
Aesculap-Vorstand Schulz bestätigt die Komplexität der vernetzten IT: „Wir verfügen über eine Vielzahl von IT-Systemen für die vernetzte Fertigung. Diese Komplexität kann man nicht vollständig im Griff haben. Manchmal erwachsen uns aus Kleinigkeiten große Probleme – etwa wenn nach einem Betriebssystem-Update in der Microsoft-Welt ein Etikettendrucker im Lager nicht mehr funktioniert. Dann bekommen wir die Ware nicht vom Hof, obgleich der gesamte Wertschöpfungsprozess vorher perfekt gelaufen ist.“
Im Gegensatz zu Aesculap verfügen viele Unternehmen aber über veraltete Produktionsanlagen; diese erschweren die Auswahl geeigneter Lösungen für die Vernetzung und in der Produktion, wie die Autoren der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie erstellten Studie „Industrie 4.0 – Volks- und betriebswirtschaftliche Faktoren für den Standort Deutschland“ feststellen. „Gerade KMU fällt es schwer, mit den rasanten technologischen Entwicklungen Schritt zu halten und kontinuierlich die notwendigen Investitionen aufzubringen“, heißt es da. Vor diesem Hintergrund würden „transitive Technologien eine besondere Rolle spielen, die es erlauben, alte Produktionstechnologien schrittweise und kostengünstig für Industrie 4.0 auszustatten“.
„Wir wollen keinen harten Schnitt, der alles verändert – die Technologie soll in und mit unserer Firmenkultur wachsen“, bestätigt Holger Frank, CEO bei der Sanner GmbH mit Sitz in Bensheim. Mit 500 Mitarbeitern ist der Anbieter von Kunststoffverpackungen für Pharma- und Medizinprodukte ein typisches mittelständisches Familienunternehmen. Es wagt den Eintritt in das Industrie-4.0-Zeitalter innerhalb eines Projekts, das die IHK Darmstadt initiiert hat. Ziel ist die prototypische Umsetzung eines Vorgehensmodells zur Einführung von Industrie-4.0-Lösungen. Daraus sollen Handlungsempfehlungen für andere kleine und mittelständische Serienfertiger abgeleitet werden.
Dabei gibt es mehrere Teilprojekte: So arbeitet die Projektgruppe „IT und Prozesse“ daran, die einzelnen Produktionsanlagen stärker miteinander zu vernetzen. Um das Vereinfachen und Automatisieren einzelner Prozessschritte geht es auch in der Projektgruppe „Intralogistik“: Kartonagen und Holzpaletten sollen bei Sanner aus der Produktion entfernt und der Warenfluss effizienter gestaltet werden. Die verschiedenen Konzepte werden über eine Simulationssoftware auf ihre Wirksamkeit überprüft, um die Auswahl des Konzepts zu erleichtern.
Aufbauend auf den Ergebnissen des Projekts denkt man bei Sanner bereits über weitere Maßnahmen nach: Ein digitales Kundenportal etwa soll in Zukunft sämtliche Aufträge koordinieren und für kürzere Lieferzeiten und schnellere interne Abstimmungsprozesse sorgen. CEO Frank rechnet damit, dass die Einführung von Industrie 4.0 bei Sanner mehrere Jahre in Anspruch nimmt.
Als weiteres großes Hindernis für die Einführung von Industrie-4.0-Produktionsprozessen in der Medizintechnik identifizieren Experten die Regularien. „Vor allem bei Klasse-III-Produkten ist das vorgegebene Korsett für Veränderungen im Produktionsprozess sehr eng, sodass wir uns immer sehr genau überlegen müssen, ob wir von den einmal validierten Prozessen abweichen wollen – was bei Industrie 4.0 fast zwangsläufig der Fall wäre“, betont Aesculap-Vorstand Schulz.
„Da die Kette zwischen einzelnen Fertigungsschritten und -aufgaben in Industrie-4.0-Reinkultur nicht mehr eindeutig ist, existieren auch klassische Quality Gates in der Form nicht mehr. Unter regulatorischen Gesichtspunkten ist dies ein Problem“, erklärt Rechtsanwalt Philipp Reusch von Reusch Rechtsanwälte. „Die neuen Fertigungsprozesse korrespondieren in keinster Weise mit den Anforderungen des Gesetzgebers, der einen zentralen Ansprechpartner für die Konformität des Gesamtergebnisses haben will.“ Dies werfe Probleme bei der Produktzulassung auf. Aber auch die Produkthaftpflichtversicherungssysteme sei nicht darauf ausgelegt. „Sie suchen eine Kausalkette, die bei Industrie 4.0 nicht, zumindest aber nicht leicht zu finden ist.“
Andererseits eröffne Industrie 4.0 neue Chancen hinsichtlich der Rückverfolgbarkeit: Intelligente Produkte haben Datenchips integriert, auf denen Informationen zu ihren Eigenschaften und zu ihren Fertigungsschritten gespeichert sind. Reusch: „Damit müssen Unternehmen im Falle eines Defekts nicht mehr Tausende von Produkten zurückrufen. Das Produkt im Industrie-4.0-Zeitalter lässt sich schließlich eindeutig identifizieren, da es alle individuellen Fertigungsdaten vom ersten Produktionsschritt bis zur Auslieferung an den Kunden mit sich trägt.“
Sabine Koll Journalistin in Böblingen
Projekt erarbeitet Handlungsempfehlungen für kleine und mittelgroße Serienfertiger
Weitere Informationen Zum Medizintechnikhersteller Aesculap: www.aesculap.de Zum Verpackungshersteller Sanner: www.sanner-group.com Zum IT-Beratungshaus DHC Dr. Herterich & Consultants: www.dhc-gmbh.com Zur Studie Industrie 4.0 von Ingenics: www.ingenics.de/de/news/aktuelles/industrie40_ergebnisse.php Zu Reusch Rechtsanwälten: www.reuschlaw.de Zum Kompetenzzentrum Industrie 4.0 des VDE: www.vde.com/de/Technik/Industrie40 Zur deutschen Plattform Industrie 4.0: www.plattform-i40.de Zum Industrial Internet Consortium in den USA: www.iiconsortium.org Zur Schweizer Initiative „Industrie 2025“: www.industrie2025.ch

Chancen und Hindernisse

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Deutsche Unternehmen sehen sowohl Vor- als auch Nachteile in der Digitalisierung ihrer Produktionsumgebung, wie eine repräsentative Umfrage des IT-Branchenverbands Bitkom vom April 2015 belegt. Befragt wurden dafür je 100 Unternehmen mit mindestens 100 Mitarbeitern aus der Automobilbranche, dem Maschinenbau, der chemischen Industrie sowie der Elektroindustrie. Zu den Vorteilen gehört neben verbesserter Prozessqualität und geringeren Produktionskosten auch die schnellere Umsetzung von individuellen Kundenwünschen. „Industrie 4.0 schafft Wachstum und sichert den Bestand von Unternehmen“, sagt Winfried Holz, Mitglied des Bitkom-Präsidiums. Dennoch gibt es auch noch viele Bedenken: Ein Hindernis sind für 72 % der Befragten die Investitionskosten. 56 % der Befragten führen außerdem die hohe Komplexität des Themas als Hindernis an und ebenso viele sehen den Mangel an Fachkräften als Problem.

Weltweiter Wettlauf
Analog zur Plattform Industrie 4.0 in Deutschland gibt es weltweit Bestrebungen, die Chancen der digitalen Produktion zu nutzen. Einige Beispiele:
  • USA: 2014 wurde in den USA das Industrial Internet Consortium (IIC) gegründet, dem 100 Unternehmen wie GE, IBM und Cisco angehören.
  • Schweiz: Im Juni 2015 haben vier Schweizer Industrieverbände die nationale Initiative „Industrie 2025“ gegründet, die der Wegbereiter für Industrie 4.0 im Alpenstaat sein soll.
  • Frankreich: Verschiedene Verbände, Forschungseinrichtungen und Gewerkschaften haben im April 2015 einen Verband zur „Industrie der Zukunft“ (Assocation pour l’industrie du futur) ins Leben gerufen. Auch ein Aktionsplan mit drei ersten konkreten Maßnahmen wurde vorgestellt.
  • Österreich: Der Verein „Industrie 4.0 Österreich – die Plattform für intelligente Produktion“ ist im Juni an den Start gegangen. Beteiligt sind unter anderem das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie.

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