Nach Bänderrissen stabilisieren Bandagen die betroffenen Gelenke, Korsette helfen bei Fehlstellungen der Wirbelsäule. Als äußere Hilfsmittel tragen diese so genannten Orthesen dazu bei, dass geschädigte Körperteile heilen – im Gegensatz zu Prothesen, die geschädigte Bereiche vollständig ersetzen sollen.
Harte Bestandteile in den für solche Bandagen verwendeten Materialien führen jedoch oft zu schmerzhaften Druckstellen und können Hautentzündungen auslösen. Darüber hinaus sind sie umständlich an- und auszuziehen, oft schwer oder unästhetisch. „Harte Materialien können gerade bei älteren Patienten dazu führen, dass sie auf eine eigentlich notwendige Behandlung mit Orthesen verzichten“, sagt Materialwissenschaftler Dr.-Ing. Michael Timmermann von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel (CAU). Seiner Ansicht nach könnten so genannte dehnungsversteifende Materialien den Tragekomfort deutlich erhöhen: „Diese Art von elastischen Materialien ist sehr flexibel. Werden sie über einen bestimmten Punkt hinaus gedehnt, versteifen sie automatisch und verhalten sich dann wie feste Materialien.“
Bisherige sich versteifende Materialien sind für Orthesen nicht einsetzbar
Zwar existieren solche Materialien bereits, zum Beispiel in speziellen Schutzkleidungen. In Orthesen sind sie jedoch bisher nicht einsetzbar. Dafür sind sie zu weich, versteifen nur, wenn sie extrem schnell gedehnt werden oder können nicht in ihren Ursprungszustand zurückkehren.
Timmermann hat aber nun im Rahmen seiner Doktorarbeit bei Prof. Christine Selhuber-Unkel, Leiterin der Arbeitsgruppe Biokompatible Nanomaterialien an der Technischen Fakultät, eine biologisch inspirierte Lösung entwickelt. Nach dieser Methode werden elastische Materialien so strukturiert, dass sie sich versteifen, sobald sie gedehnt werden. Anschließend kehren sie in ihren Ursprungszustand zurück. Damit sollen sich nicht nur bequemere Orthesen herstellen lassen, sondern auch flexible Bauteile für die Soft-Robotik.
Silikon, reversibel versteift durch parallele Lamellen
Anwenden lässt sich das beispielsweise auf Silikon, das sich, einmal richtig strukturiert, reversibel und geschwindigkeitsunabhängig versteifen kann. Durch gezielte Bearbeitung entstehen im Material parallel verlaufende Lamellen. Wird es gedehnt, zum Beispiel auseinandergezogen, kommen die Lamellen miteinander in Kontakt, und die Struktur versteift sich. Durch eine gezielte Variation der Lamellenform im Hinblick auf Länge, Dicke oder den Abstand der Lamellen zueinander, lassen sich Zeitpunkt und Grad der Versteifung genau bestimmen.
Chemische Zusatzstoffe wie Gleitmittel sind nicht erforderlich, um das Verfahren auf elastische Materialien anzuwenden. Die Eigenschaften werden auch nicht von äußeren Faktoren wie Luftfeuchtigkeit oder Temperatur beeinflusst. „Man kann das Ausgangsmaterial also relativ frei wählen, je nachdem, wofür es nachher eingesetzt werden soll“, erläutert Timmermann.
Die Idee zur Entwicklung des Verfahrens kommt aus der Natur: Als Reaktion auf eine externe Verformung versteifen sich Zellen zu einem gewissen Grad, um sich so selbst zu schützen. Beispiele sind Zellen in den Wänden von Blutgefäßen, die sich durch Pulsschläge immer wieder ausdehnen. Zellen bestehen aus einer speziell angeordneten internen Struktur, dem so genannten Zytoskelett. Dieses Netzwerk aus Polymerfasern sorgt für die mechanische Stabilität der Zelle.
Stressfasern in der Zelle als Vorbild
Werden Zellen immer wieder gedehnt, beispielsweise als Teil des Bindegewebes, passen sie sich an, indem sie so genannte Stressfasern bilden: Proteine verbinden Polymerfasern untereinander, stabilisieren sie so, und die Zelle versteift sich. Im Rahmen seiner Promotion untersuchte Timmermann, wie sich diese Vorgänge im Inneren der Zelle auf elastische Materialien übertragen lassen.
Bisherige Robotik-Systeme basieren auf der klassischen Kombination von starren Achsen und Gelenken. Würde die Strukturierungsmethode für elastische Materialien im Bereich Soft-Robotik eingesetzt, ließen sich auch flexible Bewegungen ermöglichen, ähnlich den Tentakeln von Tintenfischen. „Dafür müssen sich Robotik-Systeme sehr frei und gleichzeitig sehr gezielt bewegen können. Hier könnte unsere Struktur mit ihrem wahlweise flexiblen oder steifen Verhalten einen hilfreichen Beitrag leisten“, hofft Timmermann.
Sein langfristiges Ziel ist es, eine Software zu entwickeln, die für jede Einsatzmöglichkeit dehnungsversteifender Materialien die passende Kombination aus Ausgangsmaterial und geometrischer Struktur ermittelt. Das Ergebnis könnte per 3D-Druckverfahren passgenau hergestellt werden.
„Zunächst bin ich aber auf der Suche nach Kooperationspartnern aus dem Bereich Orthopädie und Industrie, um gemeinsam eine Orthese zu entwickeln, die den Tragekomfort bei Patientinnen und Patienten erhöht“, so der Materialwissenschaftler. Auch an Industriepartnern für Soft-Robotik-Anwendungen ist er interessiert. Ein Patent für das Material hat er bereits erteilt bekommen. (op)
Weitere Informationen
Unter dem Titel „Strainstiff“ wurde das Vorhaben vom Europäischen Forschungsrat mit einem so genannten Proof-of-Concept-Grant in Höhe von rund 150 000 Euro gefördert. Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sollen damit schneller in die Anwendung gebracht werden.