Der Halteknopf im Bus, die Tasten im Fahrstuhl oder die Schutzscheibe am Anmeldetresen in der Arztpraxis: Täglich kommen wir mit einer Vielzahl von Oberflächen in Kontakt. Spezielle Beschichtungen aus Kunststoff verleihen ihnen bestimmte Eigenschaften, zum Beispiel zum Schutz vor Viren. Was genau durch die verschiedenen biomedizinischen Beschichtungen passiert, zeigt jetzt ein Team aus der Materialwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU).
Beschichtungsmaterialien für Oberflächen untersucht
Dazu arbeitete es zusammen mit dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, dem Nanotechnology Research Centre Ägypten und dem National Cancer Institute der Universität Kairo. Das Team der CAU verglich sechs Beschichtungsmaterialien für biomedizinische Anwendungen. Es untersuchte konkret die Wechselwirkungen der Materialoberflächen im Kontakt mit Atemwegsviren, Krebszellen und Bindegewebszellen. „Wir haben uns zum Beispiel angeschaut, wo Schlüsselproteine, wie das Spikeprotein des Coronavirus, auf Materialoberflächen andocken und auf welche Art die Oberfläche antiviral wirkt“, sagt Materialwissenschaftler Torge Hartig, Erstautor der Studie. Für antivirale Beschichtungen gegen Coronaviren konnte das Team zeigen, dass sich solche Interaktionen auch am Computer berechnen lassen. Dadurch kann es die Vielzahl der in Frage kommenden Materialien eingrenzen.
Die Herstellungsmethode macht den Unterschied
Möglich wurde diese detaillierte Untersuchung erst durch die Methode, mit der das Kieler Team die Beschichtungen herstellt. Über viele Jahre erforschten sie bereits die sogenannte initiierte chemische Gasphasenabscheidung, kurz „iCVD“ (Initiated chemical vapor deposition) und entwickelten sie weiter. „Damit können wir transparente Beschichtungsfilme herstellen und ihre Schichtdicke hochpräzise zwischen 10 Nanometer und 10 Mikrometer einstellen. Ihre Oberfläche ist ultraglatt, extrem gleichmäßig und weist keine störenden Defekte auf“, sagt Hartig.
Das ist deshalb so entscheidend, weil beim Kontakt mit Beschichtungen normalerweise zahlreiche Faktoren eine Rolle spielen. Bei konventionellen Polymerbeschichtungen können zum Beispiel die Struktur ihrer Oberfläche, chemische Prozesse, Lösungsmittelrückstände oder Materialdefekte die Wechselwirkungen mit Viren oder Zellen beeinflussen. „Mit unserer Technologie stellen wir so reine Beschichtungen her, dass sich bis auf chemische Prozesse alle anderen Faktoren ausschließen lassen. Wir können dadurch die eigentlichen Wechselwirkungen zwischen Beschichtung und Viren oder Zellen fundamental untersuchen“, so Hartig weiter. Der Forscher promoviert über biomedizinische iCVD-Beschichtungen.
Beschichtungen mit Fensterhersteller getestet
Den Herstellungsprozess für ihre Beschichtungen können die Materialwissenschaftler sehr gut steuern. Dadurch lassen sich ihre funktionalen Eigenschaften gezielt vorhersagen und festlegen – zum Beispiel, um die hohen Anforderungen in biomedizinischen Umgebungen zu erfüllen. „Wir können Produkte zur Zellkultivierung so beschichten, dass die Zellen besser daran haften und sich leichter kultivieren lassen“, nennt Dr. Stefan Schröder ein Anwendungsbeispiel. Er leitet die iCVD-Aktivitäten des Lehrstuhls. Da ihre Methode ohne Lösungsmittel und mit wenig Chemikalien auskommt, ist sie außerdem deutlich umweltfreundlicher als herkömmliche, nasschemische Beschichtungsverfahren.
Desinfektion mit Licht: Selbstreinigende Oberflächen schützen vor Viren
Ihre Erkenntnisse haben die Kieler Materialwissenschaftler gemeinsam mit einem Fensterhersteller aus Süddeutschland in die Praxis umgesetzt. Das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz förderte diese Kooperation. „Wir haben mehrere antivirale Beschichtungen verglichen und die beste auf Fensterglas aufgebracht“, so Schröder. Große Glasfassaden lassen sich damit zwar noch nicht ausstatten, „aber kleine Flächen, die viel Kontakt ausgesetzt sind, wie Touchdisplays in Krankenhäusern und Rettungswagen, Filter in Atemmasken oder EC-Geräte an der Supermarktkasse“, sagt Schröder, der ebenfalls über das iCVD-Verfahren promoviert hat.
Eigenes Unternehmen geplant
Ein Team des Lehrstuhls will die Erkenntnisse aus der iCVD-Forschung der vergangenen Jahre im industriellen Maßstab anwenden und bereitet derzeit eine Ausgründung vor. Das Exist-Forschungstransfer-Programms des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz, das von der Europäischen Union kofinanziert wird, unterstützt sie dabei. „Unser Ziel ist es, besonders hochwertige Beschichtungen mit maßgeschneiderten Eigenschaften für Medizin und Industrie herzustellen“, sagt Hartig. Er stieg noch während seiner Promotion in das Gründungsvorhaben „conformally“ ein. Das können neben antiviralen beispielsweise auch wasserabweisende oder isolierende Eigenschaften sein – oder sogar eine Kombination daraus.
Kontakt:
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Prof. Franz Faupel
Lehrstuhl für Materialverbunde
Telefon: +49 (0)431 880 6225
E-Mail: ff@tf.uni-kiel.de
www.tf.uni-kiel.de/matwis/matv
Dr. Stefan Schröder
Lehrstuhl für Materialverbunde
Telefon: +49 (0)431 880 6232
E-Mail: ssch@tf.uni-kiel.de
https://doi.org/10.1002/admi.202470002
www.uni-kiel.de