Motorisierte Prothesen sind mittlerweile Stand der Technik, wenn Patienten mit Amputationen an der oberen Extremität versorgt werden. Bislang erlauben solche Prothesen allerdings nur einzelne Funktion zur gleichen Zeit anzusteuern. So kann die Prothese nur nacheinander geöffnet oder gedreht werden – nicht aber beides gleichzeitig, so wie wir es von gesunden Händen gewohnt sind.
Jetzt ist es Göttinger Forschern gelungen, ein innovatives Verfahren zu entwickeln und erstmals im Alltag zu testen, mit dem mehrere Funktionen der Hand gleichzeitig und unabhängig voneinander benutzt werden können. Entstanden ist das Verfahren aus einer Zusammenarbeit der Arbeitsgruppe Applied Rehabilitation Technology Lab (Art-Lab) an der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie der Universitätsmedizin Göttingen mit Prof. Dario Farina vom Imperial College London.
Einer der Anwender des neuen Prothesenverfahrens, Jörg Othmer, sagt: „Für mein Gehirn ist das neue Verfahren wie Weihnachten und Ostern an einem Tag. Ich kann jetzt zwei Dinge auf einmal machen. Das System lernt für mich und macht, was ich möchte. Es dient mir sozusagen. Das bringt mir eine neue Lebensqualität.“
Bei dem neuen Verfahren werden die schwachen elektrischen Signale der Muskulatur im Armstumpf von acht im Prothesenschaft integrierten Elektroden aufgenommen. Die Signale werden verstärkt und an einen ebenfalls im Schaft integrierten Mini-Computer geschickt. Auf diesem interpretiert ein Algorithmus des maschinellen Lernens die Signale – der zuvor auf den jeweiligen Patienten trainiert wurde. Er kann so aus den acht erfassten Signalen die Absicht des Patienten ableiten und entsprechende Steuersignale an die Prothesenmotoren schicken.
Hand gleichzeitig
drehen und schnell öffnen
Der Prototyp erkennt dabei nicht nur die Art der Funktion, sondern auch die vom Patienten gewünschte Geschwindigkeit der Bewegung – und zwar unabhängig für jede der beteiligten Funktionen. So ist es beispielsweise möglich, die Hand langsam zu drehen und gleichzeitig schnell zu öffnen.
Wie zuverlässig die Steuerung ist, die auf dem maschinellen Lernen beruht, haben die Forscher in einer Studie gezeigt, die sie im Wissenschaftsmagazin „Science Robotics“ im Juni 2018 veröffentlichten. Darin kommen sie auch zu dem Schluss, dass ihre Steuerung konventionellen Steuerungsverfahren überlegen ist. Eine weitere, zweimonatige Evaluierungsphase im normalen Umfeld eines Anwenders belegt zudem, dass das Verfahren auch alltagstauglich ist.
„Unser Verfahren ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, sagt Erstautor Dr. Janne Hahne vom Art-Lab. „Es eröffnet den Patienten neue Bewegungsoptionen, die ihnen den Alltag deutlich erleichtern und ein verbessertes Lebensgefühl verschaffen.“
Bisherige Ansätze mit maschinellem Lernen hatten oft Probleme mit der Zuverlässigkeit. So führt eine Änderung der Armposition, etwa beim Greifen eines Objekts über Kopfhöhe, dazu, dass sich die Signalmuster ändern. Dabei kam es zu Fehlsteuerungen. Auch andere Einflüsse, wie das Neuanlegen des Schaftes oder sich ändernde Hauteigenschaften können die Zuverlässigkeit beeinträchtigen. Dies könnte ein häufiges Neutrainieren des Algorithmus erforderlich machen, was die Akzeptanz bei den Nutzern deutlich reduzieren würde.
Für die Studie der Göttinger Forscher haben fünf Personen mit Amputation oder angeborener Fehlbildung im Unterarmbereich das Verfahren getestet. Der Einfluss der Armposition war dabei überraschend gering, und die Steuerung blieb über mehrere Tage stabil, auch ohne Nachtrainieren des Algorithmus. Im direkten Vergleich war diese Steuerung den konventionellen Verfahren überlegen.
Inzwischen konnte das Göttinger Forscherteam um Prof. Dr. Arndt Schilling, der das Art-Lab leitet, die Alltagstauglichkeit der Steuerung in einer Langzeitstudie an einem Prothesenträger über zwei Monate im normalen Alltag zeigen. Dabei blieb die Steuerung nicht nur stabil, ohne dass ein Nachtrainieren erforderlich wäre. Durch die zunehmende Übung mit der neuen Steuerung verbesserte sich die Performance sogar weiter. (op)