Europäische Forscher und Mediziner aus Baltimore arbeiten an einer Plattform, die die Diagnose „daheim“ erleichtern oder erst ermöglichen soll. Robert Bollinger, Professor und Direktor der Johns Hopkins School of Medicine, erläutert die medizinischen und technischen Hintergründe.
Herr Prof. Bollinger, was ist das Ziel der Zusammenarbeit zwischen der Johns Hopkins School of Medicine und dem Forschungszentrum Imec?
Unsere Vision ist, einen Siliziumchip zu entwickeln, der zahlreiche Krankheiten diagnostiziert und Labortests für weniger als zehn US-Dollar in weniger als zehn Minuten ausführt – auch zu Hause. Er soll für Menschen überall auf der Welt verfügbar sein. Diesen Chip nennen wir iLab.
Warum braucht die Medizin diesen Chip?
Im globalen Kontext ist die größte Herausforderung der verbesserte Zugang zu Diagnose und Versorgung. Derzeit ist er für die meisten Menschen auf der Welt stark eingeschränkt, weil ihnen das Geld dafür fehlt oder Krankenhäuser oder Gesundheits-Dienstleister zu weit entfernt sind. Deshalb sind alle Initiativen, die den Zugang zu guter Versorgung und Diagnose verbessern, sehr willkommen, insbesondere für chronische Erkrankungen wie Diabetes.
Ist iLab dann vor allem für Entwicklungs- und Schwellenländer oder dünn besiedelte Gegenden interessant?
Nein. Auch bei neuen Infektionskrankheiten wie SARS oder Vogelgrippe und für die Behandlung bestimmter Arten von Krebs müssen neue Wege zur frühen Erkennung gefunden werden. Auch die Auswahl der für jeden Patienten am besten geeigneten individuellen Behandlungsmethoden erfordert Tests. Beim heutigen Stand der Technik bedeutet das allerdings sehr hohe Kosten. Die Ergebnisse aus dem iLab-Projekt könnten dieses Problem lösen.
Muss die Technik dafür entwickelt werden?
Nein, wir stoßen nicht an die Grenzen heutiger Detektoren und brauchen auch keine neuen Biomarker. Aber wir miniaturisieren und integrieren verfügbare Technologien und Testverfahren auf einer Plattform, die sich in Massenstückzahlen mit Standardverfahren der Chipfertigung fertigen lässt. Wenn wir das schaffen, ist es ein gewaltiger Durchbruch im Vergleich zur heutigen Diagnostik.
Sie haben mehrere Anwendungen genannt. Womit werden Sie beginnen?
Wir haben eine Reihe von Krankheiten ausgewählt – unter anderem HIV-Infektionen, was uns an die Grenzen des mit dem iLab Machbaren führen wird. Erforderlich sind dafür die Detektion und das Auszählen von Viren, die Identifizierung von Proteinen, die Quantifizierung von metabolischen Prozessen und das Erkennen und Trennen von Zelltypen.
Wie sieht ein iLab aus?
Wir planen Test-Kits im Format eines USB-Sticks. Damit lässt sich an der Fingerspitze ein Blutstropfen entnehmen, den das eingebaute iLab analysiert. Anschließend wird der Stick in ein Smartphone gesteckt, um die Testergebnisse – ohne persönliche Anwesenheit – an den Arzt zu übermitteln. Was das nützt, zeigt das Beispiel HIV. Wenn heute jemand diese Diagnose bekommt, ist die erste Frage, welche Medikation für diese Person am besten geeignet ist. Die vielen Tests, die vor dem Festlegen der Medikation erforderlich sind, und auch die Tests, die den Erfolg der Behandlung belegen sollen, werden mit dem iLab einfacher verfügbar. Selbst für Infizierte in Indien, Uganda oder Südafrika, für die ein Zugang zu Tests heute äußerst schwierig ist. Auch für das staatliche Gesundheitswesen sinken die Ausgaben. HIV ist aber nur ein Beispiel. Ähnliche Vorteile gelten auch für andere Krankheiten.
Wie beeinflusst die iLab-Idee die medizinische Forschung?
Denkbar ist eine grundlegende Änderung in der Pharmazeutik. Die Entwicklung neuer Medikamente ist sehr kostenintensiv, vor allem wegen der klinischen Versuchsreihen mit Hunderten oder Tausenden von Menschen, die regelmäßig untersucht werden müssen. Die neue Technologie könnte die klinischen Tests stark beschleunigen und optimieren. Ähnliches gilt für die Entwicklung individuell angepasster Medikamente, die mit spezifischen Proteinen bei bestimmten Patienten gut anschlagen.
Wie ist die Kollaboration von Johns Hopkins und Imec angelegt?
Wir werden die Bausteine des iLab als Plattform für Produkte mit diagnostischer Funktion gemeinsam entwickeln. Gleichzeitig sind wir im Gespräch mit potenziellen Partnern, die während der ersten drei Jahre in das Forschungsprojekt investieren wollen. Das werden führende Unternehmen der Biotech-Industrie sein, die uns beim Etablieren neuer diagnostischer Methoden unterstützen, ihre eigenen Produkte auf Basis unserer Plattform definieren und diese den Patienten zur Verfügung stellen. Wir schaffen also ein für Imec und Johns Hopkins geeignetes Ökosystem, das eine neue Generation von Produkten marktreif macht.
Kann der Chip das Gesundheitswesen verändern?
Das ist möglich. Es gibt das Konzept des ‚point-of-singularity‘, das ich sehr interessant finde. Das ist der Punkt, an dem man genug über Prävention und Gesundheit weiß, um die Lebensqualität und Gesundheitserwartungen nachhaltig zu verbessern. Dazu gehört, dass man das biologische Alter von 25 oder 30 Jahren und dessen Gesundheitsstatus über 60 bis 70 Jahre aufrechterhält. Um diesen Punkt zu erreichen, müssen wir aber mehr über die Mechanismen des Alterns lernen. Bisher wissen wir vor allem, dass dabei die Individualisierung wichtig ist. Es braucht also individuelle und frühe Prävention, Diagnose und Behandlung. Darum wird sich jeder selbst kümmern, eigene Krankheiten diagnostizieren und viele Beschwerden zu Hause therapieren. Eine Einweisung in eine Klinik erfolgt nur im Notfall. Ein Tool wie iLab ist ein Schritt in diese Richtung.
- Ulrich Mengele Fachjournalist in München
- Weitere Informationen Im europäische Nanoelektronik- Forschungszentrum Imec (Interuniversity Microelectronics Centre) im belgischen Leuven arbeiten mehr als 2000 Ingenieure und Wissenschaftler an neuen Technologien und smarten Applikationen. www2.imec.be Johns Hopkins Medicine, ein Teil der Johns Hopkins University im US-amerikanischen Baltimore, ist ein Unternehmen mit einem Umsatz von 6,7 Mrd. Dollar. www.hopkinsmedicine.org/som/ Die Zusammenarbeit der Partner im iLab-Projekt startete im Jahr 2013 und ist auf einen Zeitraum von 3 Jahren angelegt.
- Diagnose-Kits
- Miniaturisierung
- Kombination von Diagnose und Telekommunikation
- Individuelle Therapie
- Point-of-singularity
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