Wer es schafft, die komplexen Reflexionsdaten von Ultrabreitbandsensoren auszuwerten, kann verschüttete Personen orten oder in einem Ambient-Assisted-Living-System ohne Elektroden die Herz- und Atemfrequenz einer Person erfassen. Prof. Ralph Welge berichtet über den Stand der Forschung.
Herr Professor Welge, wo stehen wir heute im Bereich Ambient Assisted Living, kurz AAL?
Funktionierende Systeme, die das Leben in der eigenen Wohnung technisch sinnvoll unterstützen, können nur durch einen interdisziplinären Ansatz entstehen. Technik, Soziologie und Ökonomie müssen hier zusammenarbeiten. Das klappt auch schon ganz gut, wie die vergangenen fünf bis sechs Jahre gezeigt haben. Fertige Systeme haben wir allerdings noch nicht.
Woran hapert es?
Wir können zwar schon auf Lösungen aus der Gebäudesystemtechnik oder aus der Telemedizin zurückgreifen. Ein Beispiel dafür wäre eine Waage, die aufgenommene Vitaldaten wie das Gewicht erfasst und via Bluetooth weitergibt. Was noch vor uns liegt, sind aber Anpassungen an die Anforderungen von AAL und vor allem auch die Integration von vorhandenen und noch zu entwickelnden Sensoren in ein Gesamtsystem.
Welche Anpassungen sind gemeint?
Ein technisch erprobtes System aus der Gebäudeautomatisierung kann man nicht einfach in eine Privatwohnung übertragen. Es muss zum Beispiel für einen Bewohner schnell installiert, beim Mieterwechsel aber auch wieder entfernt werden können, ohne alle Wände aufzubrechen. Und es muss für einen älteren Menschen einfach handhabbar sein, obwohl eine Vielzahl von Sensoren vernetzt sind und zusammenarbeiten.
Sie wollen ganz verschiedene Sensoren und neue Sensortypen zusammenführen. Was soll dadurch erreicht werden?
Zweierlei. Je mehr Sensoren zusammenspielen, desto bessere Rückschlüsse lassen sich auf die Situation in der Wohnung und vor allem auf den Gesundheitszustand der betroffenen Person ziehen – ohne zu weit in deren Privatsphäre einzudringen. Wir können zwar heute aus den Daten eines Gebäudemanagementsystems schließen, dass sich ein Bewohner ungewöhnlich verhält, nicht aus dem Bett aufsteht oder irgendwo am Boden liegt. Das sind für einen Notruf aber recht undifferenzierte Daten, und da wollen wir weitergehen. Der zweite Punkt ist der, dass für den Bewohner das AAL-System wahrscheinlich umso angenehmer ist, je weniger er aktiv dafür tun und bedenken muss. Daher wollen wir auch quasi unsichtbare Sensoren nutzen, die aus der Ferne agieren. Unser spezieller Ansatz hierfür sind die Ultrabreitbandsensoren.
Was genau ist das Ziel Ihrer Forschung?
Wir verwenden Hardware, also Sensoren, die an der TU Ilmenau entwickelt wurden. Unsere Aufgabe ist es, die Auswertung der Messdaten so zu optimieren, dass wir damit die Herzfrequenz oder die Atemfrequenz einer ruhenden Person erfassen können. Der Sensor ist zum Beispiel in die Rückenlehne eines Sessels integriert oder in den oberen Bereich des Bettes, wo sich der Oberkörper befindet. Der Bewohner merkt von der Messung nichts, dennoch sind immer aktuelle Vitaldaten vorhanden.
Wie kommen Sie an diese Vitaldaten?
Ein schlagendes Herz ändert seine Ausdehnung in einem Ausmaß, das sich über Ultrabreitbandsensoren erfassen lässt, über eine Distanz von bis zu 30 Zentimetern. Auch der Brusthub beim Atmen reicht für diese Messung aus. Selbst wenn sich die Person nicht in einem leeren Raum befindet: Der Einfluss der Möbel lässt sich rechnerisch eliminieren.
Beeinflussen die Messungen auf Distanz den menschlichen Körper?
Das ist nicht zu vermuten. Aber im Rahmen unseres Projektes wird gerade ein Unbedenklichkeitsgutachten erstellt, und es wird auch eine ethische Bewertung stattfinden.
Wenn Sie das schlagende Herz erfassen können: Was lässt sich noch darstellen – eventuell sogar als Bild?
Die bildliche Wiedergabe von Menschen hinter Mauern ist aktuell technisch nicht realisierbar und wird sich in naher Zukunft auch nicht verwirklichen lassen. Man kann aber Personen orten, die unter Trümmern verschüttet sind, und es wird auch daran gearbeitet, grob die Körperhaltung von Menschen zu erfassen.
Ist die Messung grundsätzlich auf Ruhepositionen beschränkt?
Nein. Aber wenn wir die dynamischen Veränderungen mit einbeziehen, wird die Auswertung so komplex, dass sie mit heutiger Software nicht zu bewältigen ist. Solche Aufgaben müssen wir in die Zukunft schieben.
Lässt sich denn so ein komplexes Einzelsystem in eine AAL-Lösung integrieren?
Wenn wir die passenden Möglichkeiten zur Auswertung entwickelt haben, die direkt im Gerät stattfindet, gibt der Sensor über Ethernet seine Ergebnisse ans Gesamtsystem weiter. Das Zusammenspiel mit anderen Elementen ist dann eine Frage der Standardisierung.
Ist eine Standardisierung in Sicht?
Es gibt schon Projekte dazu, ein weiteres startet im Juli und soll in zwei Jahren zu einem Vorschlag für einen Standard führen. Es gibt im Grunde ja noch keinen Markt für AAL. Daher ist das Ziel, dem entstehenden Markt von vornherein einen Standard mitzugeben. Ohne ihn wäre übrigens der Aufwand für AAL-Lösungen aus wirtschaftlicher Sicht kaum tragbar, da die Anpassung verschiedener Elemente viel zu viel Zeit und Geld kosten würde.
Wann gibt es marktfähige Systeme?
Es laufen derzeit eine Reihe von Forschungsprojekten, die in zwei bis drei Jahren zu Prototypen führen sollten, und die über reines Gebäudemanagement oder reine Telemedizin hinausgehen: Sie sollen vielmehr beides vereinen. Hier sind immer auch Anwender als Partner dabei, wie bei uns der Paritätische Wohlfahrtsverband Niedersachsen, die klare Ansagen zu den Anforderungen machen. Bis aber serienreife Produkte entstanden sind, wird es noch weitere zwei bis drei Jahre dauern.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Zur Universität: www.leuphana.de Zum Projekt AAL@Home: www.leuphana.de/ralph-welge/forschung-projekte/aalhome.html
Ultrabreitbandsensoren: So funktioniert’s
Um mit Ultrabreitbandsensoren zu arbeiten, werden Wellen mit einer Frequenz zwischen 500 MHz und 4,5 GHz ausgesendet. An jedem dielektrischen Übergang – also zum Beispiel dort, wo Haut und Luft aneinandergrenzen oder wo unter der Haut ein anderer Gewebetyp folgt – läuft ein Teil der Wellen weiter, ein anderer Teil aber wird reflektiert. Die Reflektionen lassen sich erfassen und aus ihrer Laufzeit Entfernungsinformationen errechnen. Je nachdem, wieviele Antennen ein System nutzt, kann darüber hinaus zum Beispiel die Position eines Menschen im Raum bestimmt werden oder sogar seine Körperhaltung. Die Software für komplexe Auswertungen dieser Art steht jedoch noch am Anfang ihrer Entwicklung.
Die bei diesem Verfahren erforderliche Strahlungsenergie ist gering und beträgt nach Angaben der Experten nur ein Tausendstel dessen, was man bei einem Mobiltelefon misst. Entwickelt wurden die Ultrabreitbandsensoren an der TU Ilmenau, wo auch weitere Projekte zur Verbesserung der Sensortechnik laufen. Von der Bauart her ist eine kostengünstige Produktion bei großen Stückzahlen denkbar. Verbesserungsbedarf besteht aber noch beim Energieverbrauch, der vor allem dadurch zustande kommt, dass eine gewisse Rechnerleistung für die geräteinterne Datenauswertung erforderlich ist, sowie bei der Baugröße.
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