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„Stellen Sie Produkte und Produktion in Frage“

Zukunft der Automatisierung: Ohne geht‘s nicht – aber bitte mit neuen Ideen
„Stellen Sie Produkte und Produktion in Frage“

Automation kann nicht länger teurer Ersatz für noch teurere Arbeitskräfte sein. Dafür müssen aber noch viele umdenken, sagt Prof. Thomas Bauernhansl vom Fraunhofer-IPA. Radikale Ideen sind bei diesem Prozess nicht ausgeschlossen.

Herr Professor Bauernhansl, Automatisierung ist in der Industrie verbreitet und hoch entwickelt. Was ist zu verbessern?

Trotz aller Fortschritte sieht es heute so aus, dass sich eine Automatisierung, mit der vermeintlich zu teure Mitarbeiter ersetzt werden sollen, nicht rechnet. Das gilt, solange ein Roboter samt Peripherie so kostspielig ist, dass die entsprechende Arbeitskraft in vielen Teilen der Welt günstiger zu haben ist. Interessant wird es wieder, wenn man der Automatisierung neue Aufgaben zuweist, sie einem qualifizierten Mitarbeiter ergänzend zur Seite stellt. Wenn es dann noch gelingt, die Investitionskosten zu senken, kommen wir einen großen Schritt voran. Und in genau dieser Richtung wollen wir zukünftig am IPA arbeiten.
Ist es einfach, Industriepartner für Low-Cost-Entwicklungen zu gewinnen?
Für diesen Bereich interessieren sich in der Tat eher Newcomer in der Branche, während es für manch etablierten Anbieter interessanter erscheint, komplexe, sehr flexible, aber auch teure Systeme weiterzuentwickeln. Dabei kann eine günstige Lösung durchaus technisch fortschrittlich sein. Mensch und Roboter werden ja in Zukunft enger zusammenarbeiten müssen. Warum sollte man dafür nicht zum Beispiel eine Gestensteuerung verwenden, wie sie in der Unterhaltungselektronik in großen Stückzahlen eingesetzt wird? Eine Kostenersparnis ergibt sich hierbei nicht aus einem Verzicht auf Technik, sondern daraus, dass die erforderlichen Komponenten für andere Branchen in hohen Stückzahlen hergestellt werden.
Sie haben an anderer Stelle betont, dass eine ganzheitliche Sicht auf die Fabrik für die Weiterentwicklung der Produktion entscheidend sei. Was ist damit gemeint?
Wer ein Unternehmen leitet, muss es als ganzes System betrachten. Allein Technologie und Automatisierung zu optimieren, bringt genauso wenig wie der einseitige Blick auf die Menschen im Betrieb. Alles zusammen kann aber nur betrachten, wer interdisziplinär arbeitet und denkt. Sie brauchen also Mitarbeiter, die in einer Person möglichst viel Verständnis für Prozesse, Organisation, Technologien und IT vereinen. Diese können zwischen den Disziplinen moderieren und die Experten führen. Solche Generalisten muss man allerdings erst entwickeln und sie im Unternehmen entsprechende Erfahrungen machen lassen, was leicht an die zehn Jahre dauern kann.
Ist die Zukunft denn planbar?
Nein, inzwischen nicht mehr. Und weil es die Kontrolle in dem Sinn, wie wir sie kennen, nicht mehr gibt, ist Überblick besonders gefragt. Die Industrie plant heute vielfach noch auf Basis der Erfahrungen aus den letzten Jahren. Für den Monat, das Quartal, das Jahr oder strategisch auf Jahre hinaus. Das wirtschaftliche Umfeld hat sich jedoch so gewandelt, dass das nicht länger zum Erfolg führt. Letztlich nicht einmal dann, wenn man mit drei bis fünf Szenarien vom Worst Case bis zum Best Case versucht, sich ein Bild aller Eventualitäten zu verschaffen. Realistischer wäre es, sich bei jeder Entscheidung darauf einzustellen, dass die Produktion vor allem eins sein sollte: flexibel. Und damit sind wir wieder bei Generalisten, die wir als Enterprise-Architekten bezeichnen.
Ist eine anpassungsfähige Produktion denn bezahlbar?
Wandlungsfähigkeit kostet natürlich Geld. Das ist meiner Ansicht nach aber gut investiert. Wenn Sie selbst mit immensem Aufwand nicht mehr verlässlich planen können, ist eine wandlungsfähige Produktion nichts anderes als eine Versicherung: Bei unerwarteten Ereignissen ist man froh, dass man sie hat und unter widrigen Bedingungen noch Geld verdient. Die Bedeutung des Themas haben übrigens viele Unternehmen erkannt und widmen sich ihm jetzt auch wieder, nachdem die Hektik des Aufschwungs schwindet.
Wie wichtig ist Technologie für die weitere Entwicklung?
Nicht zu unterschätzen. Energie, Rohstoffe, Arbeitskräfte, wir müssen überall mit knappen Ressourcen rechnen. Da muss man jede Produktion und im Grunde auch jedes Produkt in Frage stellen. Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, bekannte Lösungen zu verbessern, sondern müssen neue suchen. Ein Beispiel: Selbst in Brasilien kann man eine Fabrik ohne energiezehrende Klimaanlage bauen, wenn man sich traut, auf Zisterne und Verdunstungskälte zu setzen. Man kann abfallfrei Winkelringe aus Blech herstellen, wenn man nicht nur den bekannten Stanzprozess verbessert, sondern Laserbearbeitung in Biegetechnologien integriert und eine neue Verfahrenskombination schafft. Mein ehemaliger Arbeitgeber Freudenberg hat damit den Deutschen Innovationspreis 2011 gewonnen.
Welche zukünftigen Entwicklungen erwarten Sie für die Automatisierung in der Gesundheitsbranche?
In einer so weit gefächerten Branche muss man mit dem Generalisieren vorsichtig sein. Dennoch lässt sich sagen, dass bisher der Fokus der Medizintechnik-Unternehmen auf ihren Produkten lag – nicht unbedingt auf einer Optimierung ihrer Produktion. Daher gibt es noch Nachholbedarf, sei es in der Lieferkette oder auch bei Ideen wie Lean Production. Andere interessante Felder sind Roboter, die das Pflegepersonal unterstützen, und Sensorsysteme, die gebrechlichen Menschen zu Hause Sicherheit geben können. Die Laborautomatisierung bietet ebenfalls Chancen. Da gibt es große Potenziale, wenn man bereit ist, sich von gewohnten Abläufen in einem Labor mit vielen Arbeitskräften zu verabschieden.
Gibt es aus Ihrer Sicht im internationalen Life-Science-Umfeld Vorreiter in der Automatisierung ?
Bisher hat sich meines Erachtens noch kein ausgesprochenes Vorbild etabliert, obwohl der Wettbewerb zunimmt. Zukünftig wird vor allem Südostasien ein Treiber sein. China und Indien brauchen dringend Lösungen, um die wachsende Bevölkerung auch im Gesundheitsbereich zufriedenstellend zu versorgen. Hier wird es innovative Lösungen geben, und sie werden sich auf Europa auswirken. Daher ist Globalisierung ein strategisches Thema, das jetzt angegangen werden muss. Was sonst passiert, sieht man an einigen Beispielen im Maschinenbau. Unternehmen, die heute von chinesischen Investoren übernommen werden, haben vor ein paar Jahren den Fehler gemacht, den asiatischen Markt zu vernachlässigen.
Was wollen Sie am IPA zukünftig für die Branchen Medizin und Life Science tun?
Das Institut bekommt ab Mai eine neue Struktur. Ansprechpartner für Industrieunternehmen werden die Leiter branchenorientierter Geschäftsfelder sein. Eins davon ist die Medizin und Biotechnologie, das Dr. Urs Schneider leitet. Er wird für neue Projekte ein Team von Fachleuten zusammenstellen, die in unseren vier Hauptbereichen angesiedelt sind und Themen von Bioproduktion und Laborautomatisierung über Reinigungsvalidierung bis hin zu besseren technischen Lösungen für die beschleunigte Rehabilitation abdecken. Wo die Fragestellung über unsere Kompetenz hinausreicht, unterstützen uns andere Fraunhofer-Institute.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Über das Fraunhofer-IPA in Stuttgart: www.ipa.fraunhofer.de Der Suchbegriff „Stabwechsel“ führt zu einer Seite, auf der Prof. Bauernhansl mit seinem Werdegang vorgestellt ist.

Ihr Stichwort
  • Low-Cost-Automatisierung
  • Roboter ergänzen Mitarbeiter
  • Generalisten lenken den Betrieb
  • Prozessoptimierung in der Medizintechnik
  • Andere Ansprechpartner am IPA

  • Fraunhofer-IPA – neu organisiert
    Ab Mai 2012 arbeitet das Fraunhofer-IPA in Stuttgart mit einer neuen Struktur. Neue Projekte werden in fünf branchenbezogenen Geschäftsfeldern angesiedelt: Automotive, Maschinenbau, Elektronik/Mikrosysteme, Energiewirtschaft und Medizin/Biotechnologie. Die Fachleute des Instituts organisieren ihre Arbeit aber in vier technischen Hauptbereichen: Organisation/IT, Automatisierung und Peripherie, Oberfläche und Prozesstechnologien. Die Mitarbeiter im Bereich Prozesstechnologien werden sich zum Beispiel mit den neuesten Technologien befassen, die im Bereich Materialien und Leichtbau auftreten. Da geht es unter anderem um nanoskaligen Kohlenstoff, generative Verfahren und die Bearbeitung von Multi-Material-Mix-Werkstoffen. „Schließlich kann man nicht einfach bohren wie gehabt“, erläutert Prof. Bauernhansl, „wenn der Bohrer zunächst Aluminium, dann Stahl und schließlich noch Kohlefaser-Material zu durchdringen hat.“
    In ihrer Produktionsakademie bieten die Stuttgarter zukünftig berufsbegleitende Fortbildungen an, mit dem Ziel, die neuen Strukturen und Herausforderungen in der Produktion mithilfe von Qualifizierungskonzepten zu unterstützen. Das soll Mitarbeiter als systemische interdisziplinäre Moderatoren qualifizieren und sie so dem Idealbild des Enterprise-Architekten näher bringen.
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