Firmen im Artikel
Herr Singer, alle reden von Industrie 4.0. Ist das ein Marketinggag, oder wird „Big Data“ die Montage revolutionieren?
Wie auch immer Sie Industrie 4.0 interpretieren und definieren: Die intelligente Vernetzung und Nutzung von Daten aller Art wird die Fertigung und auch die Montage in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten drastisch verändern. Die Produktivität soll nach Expertenschätzungen durch Industrie 4.0 weltweit um 30 Prozent steigen. Viele Unternehmen digitalisieren ihre Wertschöpfungskette schon heute, und allein in der EU werden die Unternehmen – Prognosen zufolge – ihre Investitionen in diesem Bereich bis zum Jahr 2020 auf rund 140 Milliarden Euro jährlich steigern.
Wo sehen Sie die größten Chancen?
Durch die intelligent vernetzte und kontrollierte Fertigung, ich beziehe mich mal vor allem auf die Montage, werden Betriebe in jedem Fall die Qualität ihrer Produkte steigern können. Es werden weniger Fehler gemacht, damit wird speziell im Bereich Nacharbeit vieles optimiert, was wiederum Rückrufe reduziert und dem Ruf der Hersteller zuträglich sein wird. Durch mehr Sensorik, auch in Montagewerkzeugen und Maschinen, wird die Verfügbarkeit steigen, und andere Wartungs- und auch Abrechnungsmodelle werden möglich.
Zur Qualität: Wie viel Luft ist da noch nach oben?
Da wird sich noch einiges tun. Mit neuen und immer günstiger werdenden Sensoren, die direkt am oder im Bauteil verortet sind, kann sich dieses im Fehlerfall gleich bei dem Montagewerkzeug oder der Steuerung melden. Das senkt den Ausschuss deutlich und vermeidet Stichproben möglicherweise komplett – und damit auch Investitionen in teure Prüfeinrichtungen. Bauteile, auch Verbindungselemente, können sich selbsttätig an der Station anmelden, eine eindeutige Werkerführung sicherstellen, mit den Werkzeugen kommunizieren und die Dokumentation vereinfachen.
Die Schraube soll mit dem Werkzeug sprechen?
Das ist in der Tat ein Szenario, über das heute schon diskutiert wird. Wir haben ja in der Schraubmontage seit jeher das Problem, dass wir die Klemmkraft nur mittelbar bestimmen können, indem wir sie über das aufgebrachte Drehmoment „überschlagen“. Man könnte bei kritischen Anwendungen Schrauben mit Längensensoren ausstatten. Wenn die Schraube dann die Streckgrenze oder eine bestimmte Längung erreicht hat, würde sie das dem Werkzeug beziehungsweise der Steuerung mitteilen, den Schrauber stoppen und die Werte speichern. Das dürfte in gar nicht ferner Zukunft eine effiziente Möglichkeit zur Qualitätssicherung sein. Weitaus preisgünstiger und praktikabler jedenfalls, als die Längung im Nachhinein festzustellen.
Sie gehen also davon aus, dass eine Montagestation von morgen neue und mehr Sensoren haben wird?
Auf jeden Fall. Bei „Big Data“ geht es immer um die Vernetzung von Sensoren und Aktoren. Wenn mehr Sensorik Einzug hält, kann man nicht nur die Montage besser steuern, sondern auch fehlerhafte Montageschritte besser analysieren und den Prozess damit optimieren. Das alles senkt die Nacharbeit, steigert die Qualität und damit die Produktivität.
Was könnte Industrie 4.0 noch für Vorteile bringen?
Intelligente Software und Analysemethoden können bei neuen Produkten, Varianten oder Montageprozessen den Schulungsbedarf der Mitarbeiter drastisch reduzieren oder das Nachblättern in Montageanleitungen überflüssig machen. Und mit einer intelligenten Prozessüberwachung, wie sie heute zum Teil schon mit unserer Software Tools Net möglich ist, können wir sicherstellen, dass nur ordnungsgemäß montierte Teile die Station verlassen.
Was ergibt sich daraus für die Montage von Medizinprodukten?
Im Falle eines Fehlers, der bei einem Produkt oder innerhalb einer Serie in der Produktion oder „im Feld“ auftritt, kann der Anwender mithilfe der gespeicherten Daten nachweisen, welche einzelnen Produkte genau betroffen sind. Das senkt die Kosten, weil dann nicht alle Produkte zurückgerufen werden müssen. Mit der Dokumentation wiederum kommt der Hersteller seiner Nachweispflicht nach. Mit eindeutigen Barcodes und Seriennummern können jeder Fertigungsschritt und die Qualität jedes einzelnen gefertigten Produktes nachgewiesen werden. Dass zum Beispiel Atlas-Copco-Werkzeuge maschinenfähig sind, wird mittels einer Dakks-Kalibrierung nachgewiesen, die wiederum eine hohe Auditsicherheit bringt. Mit entsprechenden Zertifikaten werden Audits vereinfacht, was die Kosten senkt. Letzten Endes muss man sagen: Die Anwender haben den Prozess jederzeit unter Kontrolle und können im Fehlerfall, sobald die Software meldet, dass Drehmoment, Drehwinkel oder auch andere Messwerte die festgelegten Grenzen verlassen, sofort in die Produktion eingreifen.
Sie sprachen die Werkzeugverfügbarkeit und Wartungsmodelle an. Heute wird doch der nächste Wartungstermin auch schon oft vom Werkzeug bestimmt.
Das stimmt zwar, aber heute definiert sich der Wartungstermin nach der Anzahl der Verschraubungen oder nach der Zeit. Atlas-Copco-Werkzeuge haben schon jetzt zahlreiche Sensoren, etwa für die Drehzahl, das Drehmoment, zum Teil den Drehwinkel, aber auch Temperatur, Beschleunigung, den Energieverbrauch… In Zukunft wird man vielleicht die Messwerte eines speziellen Werkzeuges mit Daten ähnlicher Werkzeuge bei anderen Anwendern abgleichen, um die Wahrscheinlichkeit für einen Ausfall noch besser zu berechnen und Abweichungen vom Normalfall früher festzustellen. Nur darum geht es ja: Die Notwendigkeit einer Wartung so spät wie möglich, aber absolut rechtzeitig, festzustellen. Vielleicht werden Maschinenwartungen – unabhängig davon, in welcher Branche – künftig auch nicht mehr über Zeit und Ersatzteile abgerechnet, sondern es wird stattdessen die Verfügbarkeit bezahlt. Oder für die Investition in das Werkzeug wird ein bestimmter Ausstoß pro Station zugesichert. Da wird vieles denkbar.
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Bei Datensammlung, -analyse und Vernetzung sowie Prozessoptimierung im Sinne von Industrie 4.0 ist die Automobilindustrie heute Vorreiter. Die Medizintechnik kann sich an den Best Practices orientieren.