Am Anfang stand ein Seminar: „Medizintechnik in Entwicklungsländern“. Einer der Teilnehmer war vor gut vier Jahren Fabian Jodeit, der bei dem Gedanken Feuer fing, Medizinprodukte so zu entwickeln, dass sie haargenau in einen der „Emerging Markets“ passen. Im weiteren Verlauf verbrachte er einige Zeit in Äthiopien, um die dortigen Verhältnisse selbst kennenzulernen, zu beschreiben und in seiner Masterarbeit eine für die Anforderungen in dieser Gegend der Welt geeignete Sprunggelenkprothese zu entwickeln. Heute fließen seine Erfahrungen im größeren Zusammenhang in ein neuartiges Arbeitsgebiet am Lehrstuhl für Medizintechnik der TU München ein: Zusammen mit dem stellvertretenden Lehrstuhlleiter Dr. med. Markus Eblenkamp treibt Jodeit die Initiative Medtech Oneworld voran.
Inhaltsverzeichnis
1. Von wegen schlecht ausgebildete Ansprechpartner
2. Äthiopien: Kein Niemandsland in Sachen Medizinprodukte
3. Lokale Partner an Entwicklung und Fertigung beteiligen
4. Studierende haben Interesse an der Arbeit für Emerging Markets
5. Lehrstuhl für Medizintechnik, TU München
6. Global Health an der TU München
Allen Beteiligten geht es darum, international stärker zu kooperieren: Forscher aus München arbeiten in Projekten ganz unterschiedlicher Art mit Experten aus Unternehmen und Bildungseinrichtungen in anderen Ländern zusammen. Der Gedanke, die Welt als Ganzes zu sehen und nicht in erste, zweite, dritte Welt aufzuteilen oder Industrieländer von Entwicklungsländern zu unterscheiden, steht über allen Projekten – ob es nun um die additive Fertigung mit Partnern in Singapur geht, um Soft Robotics in Zusammenarbeit mit dem MIT in Boston oder Entwicklungen mit eher handwerklich geprägten Betrieben und Colleges wie in Äthiopien.
Von wegen schlecht ausgebildete Ansprechpartner
„Man darf nicht davon ausgehen, in Äthiopien vor allem auf schlecht ausgebildete Ansprechpartner zu treffen. Das ist definitiv falsch“, berichtet Jodeit von seinem Aufenthalt. Daher vermeidet er nach Möglichkeit heute den Begriff Entwicklungsland und spricht lieber von den Emerging Markets, weil das die Situation treffender beschreibe. Natürlich sei vieles anders, als man es von daheim gewohnt sei. Es gebe zum Beispiel nicht immer Strom, um eine Maschine zu betreiben oder auch nur den Laptop zu laden – mit dem man dann aber in ein gut verfügbares Internet einsteigen könne. Nicht alle Werkstoffe seien jederzeit verfügbar, und auch die maschinelle Ausstattung für ihre Bearbeitung sei nicht immer auf dem modernsten Stand. „Aber man kann lernen, damit umzugehen und zu guten Ergebnissen zu kommen.“
Darüber hinaus brauche man sich mit Blick auf einen Emerging Market nicht nur auf die jetzige Situation einzustellen und für geeignete Produkte zu sorgen. Perspektivisch sei es vielmehr wichtig zu sehen, dass für die kommenden Jahre das größte Bevölkerungswachstum nicht mehr in Asien, sondern in Afrika erwartet werde. Dort solle sich parallel mit den steigenden Patientenzahlen auch die Wirtschaft weiterentwickeln. „Es gibt heute schon einen Mittelstand, der Interesse an Medizinprodukten und einer Versorgung hat, die deutlich über das Überleben hinausgeht“, sagt der Ingenieur. Die finanziellen Möglichkeiten reichten zwar vielleicht nicht für eine Hightech-Prothese, wie sie heute in Europa Standard sei, aber für eine gute Lösung durchaus.
Äthiopien: Kein Niemandsland in Sachen Medizinprodukte
Dabei ist auch ein Land wie Äthiopien kein medizinisches Niemandsland. Auffällig sei, dass die bisherigen Bedürfnisse im Pharmabereich vor allem mit Produkten aus Indien gedeckt würden, während bei der Medizintechnik China die Nase vorn habe – auf der Suche nach neuen und perspektivreichen Absatzmärkten. Für Dr. Markus Eblenkamp ergibt sich die Rolle Indiens ganz logisch daraus, dass in dem riesigen Land schon heute Zielgruppen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen gleichzeitig existieren und angesprochen werden. „Dann ist der Schritt, die Lösungen auf ein anderes Land zu übertragen, leichter.“
Mit den aus China importierten Geräten sind die Anwender in Afrika allerdings laut Jodeit nicht immer glücklich. Diese seien zwar verhältnismäßig günstig anzuschaffen, aber nicht immer auf die Rahmenbedingungen im Einsatzland ausgelegt. „Da gibt es kein Netzwerk für die Beschaffung von Ersatzteilen, und wenn man ohne eine lokale Möglichkeit der Wartung auskommen muss, stehen die Geräte früher oder später in der Ecke und können nicht mehr benutzt werden“, sagt Jodeit.
Deutsche Medizintechnik habe hingegen einen sehr guten Ruf wegen der Qualität, die man von ihr erwartet. „Wenn es möglich ist, würde sich jemand aus der Mittelschicht für ein deutsches Produkt entscheiden und wäre auf seinen Besitz sehr stolz.“ Allerdings entsprechen die meisten Hightech-Geräte eben nicht den Anforderungen, die an sie im Subsahara-Bereich gestellt werden. Da wartet Entwicklungsarbeit auf die Hersteller. Und auch die Kommunikation im Land und die lokalen Faktoren müsse man kennen, da diese mindestens genauso wichtig seien wie die technischen. „Darauf müssen sich Unternehmen einrichten – und unser Ziel ist es, mehr mit den Herstellern zusammenzuarbeiten und passende Produkte in gemeinsamen Projekten entstehen zu lassen“, erläutert Jodeit.
Lokale Partner an Entwicklung und Fertigung beteiligen
Wobei mit „gemeinsam“ gemeint ist, dass auch lokale Hersteller und Fachleute aus dem Zielland am Projekt mitarbeiten. Es gehe weder um rein wissenschaftliche Kooperationen, wenn man vorankommen will, noch darum, in ein Land zu reisen, dann daheim nach dem ermittelten Bedarf ein Produkt zu entwickeln und herzustellen und dieses zu exportieren. „So, wie auch die deutsche Medizintechnik-Industrie zum Beispiel im Raum Tuttlingen aus einem handwerklich geprägten Milieu entstanden ist, brauchen wir in den Emerging Markets das Wissen der ansässigen Handwerker: Sie haben Erfahrung damit, welche Werkstoffe ihnen in guter Qualität zur Verfügung stehen und können damit umgehen, dass sie nur bestimmte Maschinen nutzen können“, fasst Eblenkamp zusammen.
Fabian Jodeit hat es unter den genannten Bedingungen in Kooperation mit den Einheimischen geschafft, eine Sprunggelenkprothese zu entwickeln. „Und wenn man zum Beispiel keine computergesteuerten Werkzeugmaschinen einsetzen kann, um eine Spritzgussform zu generieren, konzipiert man vielleicht eine Gussform in Blockbauweise, die auch ohne Hightech-Maschinen gefertigt werden kann.“
Das Ziel aller Projekte, die unter dem Dach der Initiative Medtech Oneworld laufen, ist es, dass sich die Beteiligten internationale Expertise erarbeiten. Im Sinne von Global-Health-Lösungen, die bisher von Ernährungsfragen und medizinischen Themen geprägt waren und sich am Grundbedarf orientierten, würden künftig auch die Ingenieurwissenschaften stärker gefragt sein. Sie könnten einen Beitrag zu mehr Lebensqualität leisten. „Und dafür bereiten wir uns mit den derzeitigen Projekten vor“, sagt Eblenkamp.
Studierende haben Interesse an der Arbeit für Emerging Markets
Seitens der Studierenden ist das Interesse an der Initiative Medtech Oneworld schon groß – es gibt weit mehr Anfragen zur Mitarbeit, als bisher Interessenten in Projekte eingebunden sind. Daher soll es im Sommer eine Global Health Challenge geben, bei der Teilnehmer aus den Ingenieurwissenschaften, der Medizin und der Informationstechnik drei Monate lang an Entwicklungsplänen arbeiten, die abschließend in Pitches vorgestellt werden – sowohl den Betreuern von der Hochschule als auch der Industrie. Wer hier mit seiner Idee besteht, hat eine Chance, dass diese in einem Projekt weiterentwickelt wird.
Fördermittel für solche Ansätze seien grundsätzlich vorhanden. Allerdings stellen sich die Wege dahin anders dar als gewohnt – internationale Projekte seien, so berichtet Eblenkamp, bisher zumeist auf Länder der EU gemünzt gewesen. Ziehe man den Rahmen größer, steige der Aufwand, sowohl für das Aufbauen der Kontakte als auch für das Auffinden passender Forschungsprogramme. Doch sieht er in diesem Weg für die Zukunft großes Potenzial – das sich mit den Ansätzen der Initiative Medtech Oneworld umsetzen lassen sollte.
Lehrstuhl für Medizintechnik, TU München
„Unser Schwerpunkt ist das Maschinenwesen“, sagt Dr. Markus Eblenkamp, stellvertretender Lehrstuhlleiter des Lehrstuhls für Medizintechnik an der TU München. 80 % der Mitarbeiter seien Ingenieure aus dem Bereich Maschinenbau. Der Lehrstuhl deckt unter anderem die Kunststoffverarbeitung an der Hochschule ab, hat aber einen starken Bezug zur Medizintechnik. Die vier Hauptbereiche sind:
KIassische Kunststoffverarbeitung
Für den Medizinbereich geht es hier um Modifizierungen von Werkstoffen, das Compoundieren oder den Einsatz von Additiven mit zum Beispiel antimikrobiellen Eigenschaften. Diverse Spritzgießmaschinen stehen für Projekte bereit.
Additive Fertigung mit Kunststoffen
Die Mitarbeiter beschäftigen sich vor allem mit filamentbasierten Verfahren, die zu festen und biokompatiblen Produkten führen können. Eine Ausgründung aus diesem Bereich ist das Unternehmen Kumovis, das eine Lösung für den 3D-Druck mit PEEK anbietet.
Zellbasierte Medizintechnik
Kompakte und additiv hergestellte Bioreaktoren mit hoher Funktionsdichte sind der Schwerpunkt der Experten für Zellbasierte Medizintechnik. Auch Smart Electronics werden hier eingesetzt.
IoT & Materials
Wie lässt sich Elektronik als Bestandteil in Kunststoffprodukte für die Medizin integrieren – so, dass die Elektronik dem Patienten nicht schadet, aber auch so, dass sie unter biologischen Bedingungen sicher funktioniert? Das beantworten Fachleute der Gruppe IoT&Materials.
Derzeit betreuen am Lehrstuhl für Medizintechnik etwa 15 festangestellte Mitarbeiter rund 100 Studienarbeiten jährlich.
Initiative Medtech Oneworld
Dieser übergreifende Arbeitsbereich etabliert sich seit gut vier Jahren am Lehrstuhl für Medizintechnik. Hier steht die internationale Zusammenarbeit im Vordergrund – mit den USA, Asien und Afrika, jeweils im Hinblick auf die marktspezifischen Anforderungen.
Global Health an der TU München
Durch zunehmende Vernetzung ist Gesundheit zu einem globalen Thema geworden. Das betrifft zum Beispiel die Verbreitung von Tropenkrankheiten durch Migration und Klimawandel und weit verbreitete antimikrobielle Resistenzen. Global Health ist ein multidisziplinärer Ansatz für Forschung, Lehre und Politikgestaltung, der unter anderem biomedizinische Wissenschaft mit Politik- und Sozialwissenschaften, Informatik und Ingenieurwesen verbindet.
An der Technischen Universität München (TUM) gibt es seit 2017 das Center for Global Health. Hier werden Forschungs- und Lehrprojekte zum Thema Global Health fachübergreifend zusammengeführt und ins Leben gerufen. Auch Medtech Oneworld trägt hierzu bei.