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Gipsverband: Wer ihn erfunden hat und was heute geht

Medizinprodukte-Porträt Gipsverband
Vom Gipsverband bis zur Orthese

Vom Gipsverband bis zur Orthese
Platz fürs Autogramm - aber das nur nebenbei: Ein Gipsverband verschafft dem gebrochenen Knochen die Ruhe zum verheilen (Bild: dudek/stock.adobe.com)
Er gilt bei einfachen stabilen Brüchen seit langem als Goldstandard, der Gipsverband. Hält er doch sicher den Knochen in Position, damit dieser in Ruhe wieder zusammenwachsen kann. Doch längst ist nicht mehr nur Gips als Grundstoff für den stabilen Verband im Einsatz, sondern auch Kunststoff oder – ökologisch – sogar Holz. In manchen Fällen kann ihn eine Orthese ersetzen.

Anke Biester
Wissenschaftsjournalistin aus Memmingen

Manch einer kennt es noch aus Kinder- oder Jugendtagen: Arm gebrochen? Also Krankenhaus, röntgen, Gipsverband drauf – und später dürfen alle Freunde auf der weißen Fläche etwas schreiben oder malen. Die Deko schadet dem eigentlichen Zweck der harten Schale ja nicht: die Knochenfragmente nach dem Bruch in ihrer Lage zu halten, damit sie in Ruhe wieder zusammen wachsen. Zum Glück ist das bei vielen Brüchen der Fall, und dann bleibt dem Betroffenen eine Operation erspart.

Die Idee hat sich lange bewährt. Bereits der ägyptische Arzt Abu Al-Qasim verwendete um das Jahr 1000 einen Gipsverband aus einer Mischung von Branntkalk und Eiweiß, um damit Brüche ruhig zu stellen. Erst im 19. Jahrhundert kam seine Methode nach Europa und in vielen Abwandlungen zum Einsatz. Den einfach zu handhabenden Verband von heute erfand 1852 der niederländische Arzt Antonius Mathijsen. Dazu streute der Armeearzt Gipspulver in Mullbinden ein und feuchtete diese unmittelbar vor Gebrauch mit Wasser an.

Ruhigstellen von Knochenbrüchen: vom Kunstharz zum Holz

Seit den 1960er Jahren kommen bei längeren Behandlungen statt des Minerals Gips allerdings überwiegend Kunststofffasern mit Kunstharz zum Einsatz. Sie heißen Cast(verband) oder Kunststoffgips. Ihr Vorteil: sie härten schneller, sind leichter und besser resistent gegen Nässe. Auf der anderen Seite sind sie teurer als Gips und in der Herstellung sowie Entsorgung nicht umweltverträglich.

Seit den 2000er Jahren kommt aus Finnland eine nachhaltige Alternative in Form von Stützverbänden und Orthesen mit Holz und biobasierten Kunststoffen. Das Material ist im warmen Zustand formbar und erhärtet mit dem Erkalten in kürzester Zeit. Sein Vorteil: Auch wenn es schon hart ist, lässt es sich durch erneutes Erwärmen noch nachbearbeiten. Dadurch kann der Arzt einen perfekten Sitz formen. Auch die Nachkontrolle per Röntgen klappt mit diesem Material besonders gut, weil es Röntgenstrahlen durchlässt.

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Einen ähnlichen Weg gingen 2019 Fraunhofer-Forscher mit einem Stützverband aus Polymilchsäure, kurz PLA. Die entwickelten damit eine alltagstaugliche, preisgünstige Rezeptur. Ein weiterer Vorteil auch dieser Variante: durch Erwärmen lässt sich die erhärtete Schiene erneut formen und anpassen. Das Material eignet sich ebenfalls für den 3D-Druck und individuelle Orthesen. Nach dem Gebrauch lässt sich das Material industriell kompostieren.

Biobasierter Kunststoff als Alternative zum Gips vermeidet Abfall

Gipsverband für viele Anwendungen

Doch zurück zum klassischen Gipsverband aus Kalkgips. Dieser wird heutzutage nicht direkt auf die nackte Haut gelegt. Als erste Schicht kommt ein so genannter Unterzug auf die Haut, meistens aus einem elastischen Baumwollmaterial. Dann folgt eine Polsterung, beispielsweise aus Watte, gegen mögliche Druckstellen. Erst danach ist die eigentliche Gipsbinde dran, die durch kurzes Eintauchen in kaltes Wasser „aktiviert“ wird. Der Arzt hat dann noch fünf bis zehn Minuten Zeit, bis der Gips anfängt hart zu werden. Bis er seine Endfestigkeit erreicht, braucht er jedoch rund 48 Stunden.

Aus Gips lassen sich Strukturen für verschiedene Aufgaben formen:

  • geschlossener Gips (Rundgips), der den gesamten Umfang einer Extremität umschließt,
  • gespaltener Gips oder Spaltgips, der als Rundgips angelegt und nach dem Härten aufgeschnitten wird, damit Platz für eventuelle Schwellungen bleibt, beispielsweise direkt nach einer Verletzung oder Operation,
  • eine Gipsschiene, die nur nur einen Teil der Extremität umfasst,
  • ein Gipskorsett oder auch Rumpfgips reicht vom Brustkorb bis zum Becken reicht und stabilisiert die Wirbelsäule.

Aber nicht nur als Therapie bei einfachen stabilen Knochenbrüchen können Gipsverbände eingesetzt werden: Als Hilfsmittel sind sie auch bei Zerrungen, Sehnen- und Bänderrissen sowie bei entzündlichen Knochen- und Gelenkprozessen, Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) und dem Klumpfuß nützlich.

Mit Orthesen Muskelschwund verringern

Was dem Knochen gut tut, ist übrigens für die Muskeln schlecht: das Ruhigstellen im Gipsverband. Muskeln schrumpfen als Folge von Untätigkeit. Unbewegt versteifen sich auch die Gelenke. Der Blutfluss ist unter dem Gips oft langsamer, was wiederum das Thromboserisiko steigen lässt. Daher ersetzen inzwischen häufig nach kürzester Zeit Orthesen den Gips oder kommen gleich an seiner Stelle zum Einsatz. Sie geben Halt, erlauben aber auch teilweise Bewegung. Später können Patienten sie über immer längere Phasen ablegen und dadurch ihre Muskeln früher wieder trainieren sowie ihre Gelenke bewegen.

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So oder so bleibt das Thema Gipsverband oder Orthese gefragt. Im Jahr 2019 registrierte das Statistische Bundesamt 688 403 Knochenbrüche. Das waren 14 % mehr als im Jahr 2009. Am häufigsten kam es zu Schenkelhalsfrakturen. Ein Hinweis auf die Ursache: in Deutschland leben immer mehr alte Menschen, und mit dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit zu stürzen. Viele Senioren leiden unter Osteoporose, was die Gefahr eines Knochenbruchs erhöht. Beim Schenkelhalsbruch allerdings hilft der Gips nicht, die Behandlung erfordert eine Operation.

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Gipsverband und Autofahren

Übrigens: Mit Gips selbst Auto zu fahren, kann auch mal keine gute Idee sein. Zwar verbietet kein Gesetz das Autofahren mit Gips oder Schiene – das zu tun, liegt in der eigenen Verantwortung. Jedoch legt die Straßenverkehrsordnung fest, dass Fahrende im Verkehr immer darauf achten müssen, niemanden zu gefährden oder zu behindern. Wer also aufgrund „körperlicher Mängel“ – und die können durchaus durch einen Gips oder eine Orthese vorhanden sein – einen Unfall verursacht oder jemanden verletzt, muss mit einer empfindlichen Geld- oder Freiheitsstrafe rechnen. Darüber hinaus kann er selbst bei unverschuldeten Unfällen ohne Versicherungsschutz dastehen. Das kann dann durchaus teurer werden als die Alternative: eine Fahrt mit dem Taxi.

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