Noch nicht praxistauglich. So sieht der Berliner Bundesverband Medizintechnologie, BVMed, die neue EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR). Nach der Verschiebung im vergangenen Jahr steht der Geltungsbeginn der Medical Device Regulation inzwischen direkt vor der Tür: ab 26. Mai 2021 sollen die neuen Vorgaben umgesetzt werden. Der BVMed-Vorstandsvorsitzende Dr. Meinrad Lugan und Vorstandsvize Marc D. Michel sehen aber Handlungsbedarf. Sie weisen darauf hin, dass es nach wie vor zu wenige Benannte Stellen gebe, um neue Zertifizierungen abzuarbeiten – von den rund 20 000 Bestandsprodukten mit Altzertifikaten, die entsprechend der neuen Vorgaben ebenfalls den Benannten Stellen bis 2024 zur Prüfung vorgelegt werden müssen, gar nicht zu reden. Zu bürokratisch seien darüber hinaus die Vorschriften, heißt es seitens des Verbandes, und Klarstellungen zur MDR fehlten. „Es ist abzusehen, dass sich die Lage 2024 dramatisch zuspitzen wird.“ Insbesondere viele bereits lange am Markt befindliche Medizinprodukte würden es nicht rechtzeitig in die MDR schaffen. Lugan und Michel sprechen sich deshalb dafür aus, schnelle und pragmatische Lösungen zu finden und insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen besser zu unterstützen.
Benannte Stellen schneller notifizieren
Auch konkrete Schritte schlägt der Verband vor: So sei es hilfreich, Benannte Stellen schneller als bisher üblich zu notifizieren. Da während der Pandemie Reisen nur eingeschränkt möglich sind, sei es sinnvoll, auch in Deutschland Remote Audits zuzulassen. Während Frankreich, Irland oder die Niederlande pragmatisch vorgehen, seien Deutschland und Italien restriktiv – mit dem Ergebnis, dass es zu einer Wettbewerbsverzerrung im europäischen und internationalen Markt komme. Ein weiterer Aspekt, der in der Kritik steht: Die Datenbank Eudamed, das digitale Rückgrat der MDR, ist noch nicht funktionsfähig.
Um die Flut von Anträgen bei den Benannten Stellen zu entzerren, wäre aus Sicht des Verbandes eine verlängerte Übergangsfrist für Altzertifikate hilfreich – oder der Ansatz, „pragmatische Lösungen für bewährte Bestandsprodukte und Nischenprodukte zu etablieren“. Kurz gesagt soll sich die „MDR strategisch weiterentwickeln“, denn ein Stillstand habe fatale Folgen für die Patientenversorgung und für den mittelständisch geprägten Medizintechnik-Standort Deutschland, so der BVMed.
Klinische Daten für Bestandsprodukte: Schwer zu erheben
Die MDR bringe mit den erhöhten Anforderungen einen um gut das Zehnfache gestiegenen bürokratischen Aufwand und deutliche Kostensteigerungen mit sich. Das bedroht laut Marc D. Michel vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die Medizinprodukte herstellen. Gefordert seien beispielsweise klinische Daten, die nun erhoben werden müssen, sowie die Nachverfolgung des Medizinproduktes über dessen gesamten Lebenszyklus. Für Untersuchungen und Studien bei lang bewährten Produkten finde man aber weder Probanden noch Prüfärzte. Hinzu komme, dass positive Voten von Ethikkommissionen schwer zu erhalten sind, da klinische Prüfungen mit langjährigen Bestandsprodukten ethisch nicht vertretbar seien.
Pragmatische Lösungen für bewährte Bestandsprodukte könnte nbeispielsweise über das Instrument der „Anerkennung klinischer Praxis“ gefunden werden. Für Orphan Devices, also Nischenprodukte, die in geringen Stückzahlen hergestellt werden, für die aber der gleiche Aufwand betrieben werden müsse wie für Massenprodukte, fehlen Ausnahmeverfahren – die die Europäische Kommission nach dem US-Vorbild der „Humanitarian Device Exemption“ sowie der „Orphan Drug“-Regelungen in Europa schaffen könnte.
MDR-Umsetzung: Fördermittel für KMU sinnvoll
Für KMU schlägt der Verband spezielle Förderprogramme vor, die beispielsweise klinische Studien unterstützen. Diese Förderprogramme dürften sich nicht nur auf Neuentwicklungen und Innovationen beschränken, sondern müssten Bestandsprodukte einschließen.
Die bisher notifizierten Benannten Stellen, die ihre neuen Aufgaben schon wahrnehmen können, erleben mit vielen neu vorzulegenden Dokumenten jeweils eine Premiere – was deutlich mehr Prüfzeit für die ohnehin umfangreicheren Akten erfordere. Da die Anforderungen zum Teil nicht eindeutig oder ausreichend definiert seien, könne auch von einer Harmonisierung innerhalb der Bewertungen der Benannten Stellen noch nicht die Rede sein. Die unterschiedlichen Interpretationen führten zu unterschiedlichen Maßstäben bei den Zertifizierungen der Hersteller und Produkte.
Strategische Korrekturen an der MDR
Neben pragmatischen Lösungen sind laut des BVMed-Vorstandsvorsitzenden Lugan und und seines Stellvertreters Michel „regulatorische Korrekturen“ erforderlich. „Unser europäisches System muss Geschwindigkeit aufnehmen, bürokratische Hürden abbauen und zeitliche und finanzielle Berechenbarkeit für seine Medizinprodukte-Industrie bieten.“ Deshalb müsse die MDR rechtzeitig und vor allem strategisch weiterentwickelt werden, „damit der medizintechnische Fortschritt in Europa auch in Zukunft beim Patienten ankommt und wir unsere mittelständisch geprägte Medizintechnik-Branche stärken“.
Im Gespräch bleiben: MDR-Branchentag
Zum Geltungsbeginn organisiert der BVMed 2021 zum ersten Mal den MDR-Branchentag. Er soll auch in den kommenden Jahren dazu beitragen, das Gespräch zwischen den Akteuren weiterzuführen.
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