Wir wären 2020 schon bereit gewesen, die pandemiebedingte Verschiebung des MDR-Geltungsbeginns auf den Mai 2021 hätten wir nicht gebraucht“, sagt Peter Stein, Vice President QA/RA bei der Erbe Elektromedizin GmbH in Tübingen. Auf eine Verschiebung zu spekulieren und sich darauf doch nicht verlassen zu können, wäre keine gute Strategie gewesen. Zeitdruck? Das schien für das Unternehmen wegen der guten Vorbereitung also erstmal kein Thema zu sein. Es gab einen ausgeklügelten und, wo erforderlich, mit der zuständigen Benannten Stelle abgestimmten Zeitplan, welche Produktgruppen bewertet werden sollten, um die gesetzlichen Übergangsregelungen einzuhalten.
Rund 65 Produktgruppen gab es bisher bei Erbe Elektromedizin. Jedoch nur 44 sollen nach den Vorgaben der MDR weitergeführt werden. Gemäß ENDN-Codes waren diese geschickt zu zwölf Gruppen zusammengefasst, zu denen der Hersteller eine Technische Dokumentation bei der Benannten Stelle vorlegen muss. Zwölf Akten – sobald eine freigegeben ist, können eine ganze Reihe von Produkten, die der entsprechenden Gruppe zugeordnet sind, ebenfalls zertifiziert werden. Innerhalb der Übergangsregelungen sollte all das abgewickelt sein.
Mangelnde Kapazität bei den gemäß MDR Benannten Stellen
Schon im Sommer 2020 hat der Tübinger Hersteller chirurgischer Systeme daher die ersten zwei Akten vorgelegt, im Herbst 2020 folgte das MDR-Audit. Soweit lief alles bestens. „Doch bis Mai 2022 war nicht eine der eingereichten Akten freigegeben“, sagt Stein. Der Kontakt mit dem Notified Body sei bestens, aber aufgrund mangelnder Kapazitäten könne der Zeitplan dort einfach nicht eingehalten werden. Ende Mai 2022 kam dann die erhoffte Rückmeldung: Freigabe der ersten Akte und Ausstellung des MDR Zertifikates
Das Warten schmerzte die Tübinger vor allem deshalb, weil zu den eingereichten Produktgruppen auch Neuentwicklungen vorgesehen sind. Keine davon kann auf den Markt kommen, solange die Akte für die übergeordnete Produktgruppe nicht freigegeben ist. „Den Umsatzanteil von Produkten, die wir aus dem Portfolio nehmen, wollten wir mit neuen Produkten ausgleichen.“ Das kann nun aber dauern: ein halbes oder ein ganzes Jahr länger, so ist es bisher angekündigt. 16 Entwicklungsprojekte hängen vom Fortschritt bei der Aktenbewerttung ab. Die Produkte seien quasi fertig, es fehle nur der letzte Schritt der Zertifizierung. Konsequenz? „Wir werden unsere neuen Produkte zunächst in den USA einführen. Europa ist dann erst viel später dran.“
Bei der Interpretation der Medical Device Regulation dazulernen
Dabei sei die Zusammenarbeit mit der Benannten Stelle durchaus fruchtbar: Beide Seiten lernten in Sachen Organisation und „Interpretation der MDR“ dazu. Als Beispiel nennt Stein das Einreichen der Akten an sich. Zu den ersten Akten seien noch eine Reihe von Fragen gekommen, etwa 80 an der Zahl. Davon hätten sich etwa 30 auf die Prozesse im Unternehmen bezogen und daher auch im Audit geklärt werden können. So mussten sich alle Beteiligten immer wieder in Sachverhalte hineindenken.
„Für die folgenden Akten haben wir daher das Vorgehen geändert und gleich einen ganzen Tag Zeit eingeplant, um fragliche Dinge in Teams mit den Ansprechpartnern von der Benannten Stelle mündlich zu klären“, berichtet Stein. So bekommt die Benannte Stelle im Nachgang ein Protokoll von Erbe, das die schriftlichen Antworten auf alle offenen Punkte enthält. „Auf diese Weise läuft das alles viel besser“, sagt der Vice President QA/RA.
Mehr Pragmatismus und mehr Mut bei der Auslegung der MDR
Was sich noch verbessern ließe, wäre laut Stein eine abweichende Handhabung der Vorgaben für Bestandsprodukte. „Dass für neue Produkte mehr Daten geliefert werden sollen, ist in Ordnung und nachvollziehbar. Aber für die Bestandsprodukte müsste man mit den vorhandenen Daten zurechtkommen.“ Aus seiner Sicht ist das eine Frage der Auslegung der MDR, die man zwischen Herstellern, Benannten Stellen und der Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) genauer diskutieren sollte. „Meiner Meinung nach fehlen da noch ein bisschen Pragmatismus und Mut.“ Aber Stein hofft, dass sich da noch Sichtweisen aufbrechen lassen und man gemeinsam zu anderen Interpretationen kommen könne, auch ohne an der Verordnung an sich etwas zu ändern. (op)
Waldhörnlestraße 17
72072 Tübingen
Tel.: +49 (0)7071-755-0
E-Mail: info@erbe-med.com