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Musterpatienten am Tropf der EU

Kohäsionspolitik: Litauen, Lettland und Estland modernisieren Gesundheitswesen mit europäischer Hilfe
Musterpatienten am Tropf der EU

Nach dem tiefen Absturz in die Krise rappeln sich die baltischen Länder wieder auf. Sie punkten mit starkem Wirtschaftswachstum und investieren weiter in die Modernisierung ihrer Gesundheitssysteme. Noch benötigen sie dazu die Hilfe der EU.

Die Spritze ohne Nadel soll den baltischen Markt erobern. „Die Erfahrung war gut, das Interesse war sehr, sehr groß“, sagt Andy Rösch, der Vorstandsvorsitzende der Berliner Injex Pharma AG, nach der ersten Teilnahme an der diesjährigen Medbaltica. Neben der Baltmedica in der litauischen Hauptstadt Vilnius ist die Messe in der lettischen Hauptstadt Riga das wichtigste Aushängeschild der Medtech-Branche in den baltischen Ländern. Rösch freut sich über die erfolgreiche Markteinführung der nadelfreien Injektion im Baltikum: „Das ist einer der bestentwickelten osteuropäischen Märkte.“

Europas Musterschüler: So wurden die baltischen EU-Länder gerne genannt, bevor sie die Wirtschaftskrise gehörig aus dem Konzept warf. Mit den guten Noten fürs Wirtschaftswachstum war es vorbei. Estland minus 14,3 %, Litauen minus 14,8 % und Lettland minus 17,7 % – doch auch die traurige Statistik für das Jahr 2009 gehört schon wieder der Vergangenheit an. Die Länder haben sich aufgerappelt und profilieren sich als Europas Klassenbeste: Laut EU-Kommission wird das Wirtschaftswachstum im Baltikum 2013 zwischen 3,5 % (Litauen) und 3,8 % (Estland) liegen. Besser ist derzeit keiner.
Boom und Krise der Länder an der östlichen Ostseeküste spiegelt sich auch auf dem Gesundheitsmarkt wider. Alle drei baltischen Staaten sind bei medizinischen Geräten überwiegend auf Importe angewiesen. Zwischen 81 % und 82 % des Bedarfs an Medizintechnik kommt aus dem Ausland. 2011 lag der deutsche Importanteil in Litauen bei 19,1 %, in Estland bei 26,9 % und in Lettland sogar bei 28,0 %. Nicht alles bleibt vor Ort: Die baltischen Länder sind auch Drehscheibe für den Export in die GUS-Staaten.
Starkes Wirtschaftswachstum gepaart mit starkem Bedarf, das verspricht ausländischen Herstellern gute Aussichten auf dem baltischen Gesundheitsmarkt. Der ist allerdings keineswegs einheitlich. Überhaupt sind die Unterschiede zwischen den drei nordosteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten größer, als es scheinen mag – von der Sprache über die Mentalität bis zum Geschäftsgebaren. Auch die Gesundheitssysteme sind nicht gleich weit entwickelt.
Primus ist Estland. Das an Russland grenzende nördlichste und mit 1,3 Mio. Einwohnern auch kleinste Land des Baltikums hat sich früher als Lettland und Litauen daran gemacht, sein Gesundheitswesen nach dem Ende der Sowjetherrschaft zu modernisieren. Schon zu Beginn der 1990er-Jahre wurde das Krankenhauswesen umstrukturiert, kleinere Kliniken wurden in größere integriert oder zusammengelegt. Von 120 Kliniken ist nur die Hälfte übrig geblieben, die Bettenzahl wurde um rund 60 % reduziert.
Den Patienten hat das nicht geschadet. Im Gegenteil. Im Nachbarland Lettland sterben zehn Mal mehr Menschen nach chirurgischen Eingriffen als in Estland: Dies ergab eine Studie, die im September in der Fachzeitschrift Lancet veröffentlicht wurde. Als mögliche Ursache wird der Mangel an Intensivbetten vermutet. Aktuell folgt der Fortschritt im estnischen Gesundheitswesen einem nationalen Gesundheitsplan für die Jahre 2009 bis 2020. Als Ziele nennt Germany Trade and Invest (gtai), die Bundesgesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing, unter anderem eine Hundert-Prozent-Rate bei der Krankenversicherung. Zugleich soll sich die durchschnittliche Lebenserwartung bei den Frauen von 80,8 (2010) auf 84 Jahre und bei den Männern von 70,6 (2010) auf 75 Jahre erhöhen. Auch in Litauen und Lettland ist die Lebenserwartung von Männern mit 68 beziehungsweise 68,6 Jahren (2010) um zehn Jahre geringer als die von Frauen. Beide Länder liegen derzeit mit Rang 26 und 31 weit hinten im Euro Health Consumer Index. Estland gehört auf Rang 18, vier Plätze hinter Deutschland, zum Mittelfeld.
Musterpatient Estland hängt in Sachen Modernisierung der medizinischen Infrastruktur wie die beiden südlichen baltischen Republiken am Tropf der EU. Im Zuge der Kohäsionspolitik, der Umverteilung zwischen reicheren und ärmeren Ländern, flossen und fließen in der laufenden Finanzierungsperiode von 2007 bis 2013 beträchtliche Mittel ins Baltikum. Estland, das erste Euroland im Baltikum, erhält zweckgebunden 180 Mio. Euro, Lettland 207 Mio. Euro und Litauen 268 Mio. Euro. Die Gelder sollen medizinischen Fortschritt ermöglichen, den die Länder aus eigener Kraft noch nicht schultern könnten.
Zum Ende der Finanzierungsperiode fällt bei vielen Projekten der Kauf von Medizintechnik an. Daher bieten sich gute Chancen für den Export in einen kleinen, aber vielversprechenden Markt. Dank der EU-Harmonisierung gibt es für Hersteller aus den übrigen EU-Ländern keine größeren Hürden zu überwinden, Hauptsache ist die CE-Kennzeichnung. Länderspezifische Regelungen kommen hinzu, etwa eine Registrierungspflicht, die seit März 2011 für medizinische Anlagen besteht, die nach Estland eingeführt werden.
Ausschreibungen erfolgen in der jeweiligen Landessprache – ein Grund, weshalb viele Firmen mit lokalen Vertriebspartnern zusammenarbeiten. So verfügt etwa die Erbe Elektromedizin GmbH, Tübingen, in den baltischen Ländern über ein ganzes Netzwerk an Handelspartnern und Distributoren. „Da alle drei Länder EU-Mitglieder sind, hält sich der bürokratische Aufwand in Grenzen“, sagt Christoph Schach, International Sales Manager bei Erbe. Gefragt seien insbesondere Hochfrequenz-Chirurgiegeräte und Zubehör für die Allgemeinchirurgie, Gastroenterologie, Urologie, Gynäkologie und Pneumologie. Steigenden Bedarf an Medizintechnik sieht Schach aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft. Bereits jeder dritte Balte ist über 50 Jahre alt. Tendenz steigend.
Die EU-Fördergelder fürs Baltikum sieht man wie bei Erbe auch bei Dräger in der Hansestadt Lübeck als Chance. „Daran können wir partizipieren“, betont Melanie Kamann, die Pressesprecherin der Drägerwerk AG & Co. KGaA: „Alle drei Länder orientieren sich gerade in der Medizintechnik an westlichen Standards, was uns als Premium-Hersteller zugutekommt.“ Allerdings sei die eigene Wirtschaftskraft der drei Staaten doch sehr verschieden, was sich auch in den Verkaufszahlen widerspiegele. „Wir passen unsere Strategien individuell an die Bedürfnisse und Rahmenbedingungen der einzelnen Länder an“, sagt Kamann. Dräger liefert unter anderem Anästhesiegeräte, Intensivbeatmungsgeräte und medizinische Versorgungseinheiten in die drei baltischen Ostseeländer und ist auch in das litauische Programm zur Verbesserung der perinatalen und neonatalen Gesundheitsfürsorge eingebunden. Es soll der überdurchschnittlich hohen Säuglings-Sterberate entgegenwirken.
Bei allen Anstrengungen der baltischen Länder, ihre Gesundheitssysteme zu modernisieren und effizienter zu gestalten, spielt doch der Sparzwang eine Rolle. Allerdings entwickeln sich die nach 2008 gekürzten Budgets aktuell trotz des erneuten Wirtschaftsaufschwungs unterschiedlich. „Während die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit in Litauen nochmals um 4,4 Prozent und in Lettland sogar um 7,7 Prozent sinken sollen, ist in Estland eine Erhöhung um 7,8 Prozent geplant“, schreibt gtai-Korrespondent Torsten Pauly im Branchenbericht.
Folgen der Sparpolitik spüren auch die exportierenden Firmen. Christoph Schach spricht von einem Trend, dass sich bei gleich bleibender Anzahl der Projekte die Anzahl der Ausschreibungen in den baltischen Staaten erhöhe. „Das hat zur Folge, dass die einzelnen Ausschreibungsvolumen deutlich niedriger sind“, sagt der zuständige Sales Manager bei Erbe. Neuanschaffungen würden des Öfteren nur getätigt, wenn ältere Geräte nicht mehr repariert werden können.
Wie mustergültig die baltischen Länder die Modernisierung ihrer Gesundheitssysteme fortsetzen können, hängt auch von den Entscheidungen in Brüssel ab. Aber EU-Förderprojekte seien endlich und das Investitionsvolumen werde zurückgehen, gibt man bei Dräger zu bedenken: Eine Investitionspolitik bezüglich der eigenen Infrastruktur, finanziert mit eigenen Haushaltmitteln, werde daher mittelfristig die größte Herausforderung aller drei baltischen Staaten sein.
Bettina Gonser Freie Journalistin in Stuttgart
Gute Chancen für Export in vielversprechenden Markt
Weitere Informationen Zur Bundesgesellschaft für Außenwirtschaft: www.gtai.de Zum Gerätehersteller Dräger: www.draeger.de Zum Gerätehersteller Erbe: www.erbe-med.com Zum Spritzenhersteller Injex: www.injex.com Zu den wichtigen Messen: Medbaltica in Riga: 18. bis 21.09.2013, www.bt1.lv Baltmedica in Vilnius: 26. bis 28.09.2013, www.litexpo.lt
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