Kann es sich ein Medizinprodukt leisten, modisch oder gar chic wie ein Accessoire daherzukommen? Diese Frage haben Designer gestellt und kühn mit Ja beantwortet. Auch wenn das so vermutlich in keinem Pflichtenheft gestanden hätte, hat das Konzept einen Hersteller überzeugt.
Himmelblau. Grasgrün, sattrot, knallgelb. Ein buntes Kunststoff-Kästchen, das in der Hosen- oder Handtasche wie ein sehr flaches Brillenetui verschwindet und über eine App Blutwerte und Insulingaben ans Smartphone sendet. So haben sich Designer ein Set für Diabetiker vorgestellt – und es, weil es dann doch nicht ohne einen Stich auskommt, Cactus genannt. Mit ihren Entwürfen trafen sie bei einem Medizinproduktehersteller auf offene Ohren, und es sieht ganz so aus, als ob ein Produkt, das auf dem Cactus-Konzept basiert, bald auf den Markt kommen könnte.
Die Idee zu dem Projekt hatten Designer der Düsseldorfer Entwurfreich GmbH, die einen Schwerpunkt in der Medizintechnik-Branche hat. Geschäftsführer Simon Gorski sagt: „Wir haben uns die Freiheit genommen, ein Konzept ganz nach unseren Vorstellungen zu entwickeln – sind also zunächst ohne Vorgaben eines Auftraggebers gestartet.“
Die Düsseldorfer haben ihre Anforderungen an ein neues Insulin-Management-System für Diabetiker auf der Basis eigener Marktuntersuchungen definiert. Sie haben Diabetiker in ihrem Tagesablauf mit dem Fotoapparat begleitet und nicht nur die Anwendung der Medizinprodukte beobachtet, sondern auch Auffassungen, Werte und Lebensmuster der Anwender hinterfragt. Wie gliedert sich zum Beispiel die Erkrankung in den Lebensalltag ein? Wie werden die Teststreifen und Nadeln entsorgt? Wie groß ist die Scheu, eine „öffentliche“ Injektion durchzuführen? Warum genau wird dieser Schritt schamhaft vermieden? Und nicht zuletzt hatten sie erfasst, wie gut sich die vielen Kleinteile im Set handhaben ließen.
Beim Entwickeln einer zeitgemäßen, modernen und nach Möglichkeit auch besser gestalteten Lösung wurden Sicherheits- und Hygienestandards berücksichtigt sowie aktuellen Produkte der Marktteilnehmer analysiert. „Wir wollten ja nicht den hundersten anderen Injektionspen entwerfen, sondern etwas, das man auf jeden Tisch legen kann, ohne dass man es als Injektionssystem zur Behandlung von Diabetes erkennen würde“, betont Gorski.
Die Bestandsaufnahme ergab, dass die Ausrüstung für Diabetiker bisher in der Regel aus mehreren Produkten besteht. Was er misst, berechnet und spritzt, trägt er in ein Tagebuch ein. Laut Gorski ist der organisatorische Aufwand dafür recht hoch, und darüber hinaus gebe es eine Reihe von Fehlerquellen. „Für unser Cactus-Konzept haben wir alle Komponenten für die Regulation des täglichen Insulinspiegels in einem einzigen Produkt integriert und die Tagebuchfunktion elektronisch gelöst“, sagt Gorski.
In dem brillenetui-ähnlichen Gehäuse sind zwei Elemente verborgen, die sich auf jeweils einer Längsseite herausschieben lassen. Wird die Blutzuckermessung durch Aufschieben nach unten aktiviert, kann der Anwender alle Funktionen benutzen, die er braucht, um die benötigte Insulininjektion zu berechnen. Alle dafür erforderlichen Hilfsmittel sind in kleinen Fächern im Etui integriert. Nach der Messung selbst zeigt ein energieeffizientes E-Ink-Display die erforderlichen Rechenschritte und Hinweise an.
Steht das Ergebnis – die aktuelle Dosis – fest, wird die untere „Schublade“ geschlossen und die zweite am oberen Ende geöffnet. Darin ist, gut geschützt, der Insulinpen verstaut. Sobald dieser entnommen ist, werden drei im Etui verborgene Nadelaufsätze sichtbar. Sie können direkt aus dem Etui auf den Pen geschraubt werden. Die erforderliche Dosis wird an den Pen übertragen, und der Diabetiker löst per Knopfdruck die Injektion aus. Anschließend speichert die Elektronik im Gerät die Werte für die integrierte Tagebuchfunktion.
Bei Bedarf können alle Werte auf ein Smart-Phone oder ein I-Pad übertragen und angezeigt werden. Das soll dem Diabetiker die Übersicht erleichtern und kann auch beim Arztbesuch genutzt werden. Oder der Mediziner loggt sich von seinem Rechner aus ein, wird identifiziert und hat dann die Daten des Patienten vor sich.
Alle Komponenten für diese Funktionen finden im Etui Platz. Dass das alles auch von den Anwendern verstanden und bedient werden kann, haben Usability Tests gezeigt. „Natürlich muss der Umgang mit unserem System erlernt werden“ sagt Gorski. Es sei aber in seiner Anwendung keinesfalls komplizierter als bisherige Systeme, „und es führt den Diabetiker durch den Prozess, was bestehende Lösungen nicht machen“. Die Zahl der feinmotorischen Schritte sei bei dem neuen Konzept deutlich reduziert. „Den schwierigsten aller Prozesse, das Aufbringen und Entfernen der Injektionsnadel, haben wir durch das geführte Aufschrauben einer Nadel auf den Pen erleichtert.“
Die Gestaltung haben die Düsseldorfer explizit näher am Accessoire als am Medizinprodukt angesiedelt. Die Entwickler sehen ihr Konzept als „bewusstes und modisches Statement“, das nicht an Belastungen und Krankheit erinnern soll, sondern eher „die Individualität des Anwenders visualisiert“. Oder, wie es Gorski auf den Punkt bringt: „Ein Medizinprodukt muss Vertrauen und Zuverlässigkeit visualisieren. Das heißt aber nicht, das man nur Weiß und Grautöne einsetzen darf.“ In der psychologischen Wahrnehmung sei es wichtig, dem Unwohlsein, das mit Stich, Messung und Injektion einhergeht, durch eine positive Produktwahrnehmung entgegenzuwirken. „Cactus sagt durch Farb- und Formgebung deutlich und laut, dass eine Diabeteserkrankung nichts Schlimmes ist.“ Damit werde auch die „Zielgruppe von Morgen“ angesprochen, in der Diabetes vermehrt früher auftreten werde als, wie heute typisch, im Alter über 50.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
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