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Im Notfall handeln, statt zu grübeln

Gebrauchstauglichkeit: Nur Anwender können sagen, ob ein Produkt seinen Zweck gut erfüllt
Im Notfall handeln, statt zu grübeln

Ingenieure formulieren Normen und entwickeln sichere Medizintechnik. Das heißt aber nicht, dass der Anwender diese im Alltag auch in der Eile fehlerfrei bedienen kann. Experten zeigen, wie es mit Rat und vor allem Tat besser geht.

Dämmriges Licht am Patientenbett, Schläuche und Kabel kringeln sich, Eile ist geboten. Die Nadeln für die Infusion sind gelegt, die Schläuche angeschlossen, jetzt noch schnell den Hahn öffnen, und der Kranke ist mit lebensrettenden Medikamenten gut versorgt. Vorausgesetzt, der Dreiwege-Hahn, der mehr zu tasten als zu sehen ist, funktioniert genauso wie die anderen, die im Krankenhaus im Umlauf sind.

Genau das aber ist leider nicht sicher: Denn je nach Hersteller und Produkt muss zum Öffnen mal ein langes Ende des Hahns in Schlauchrichtung gedreht werden, mal sollen zwei kurze Enden den richtigen Weg weisen, mal ist das Funktionsprinzip nur anhand der Beschriftung verständlich. Und wenn’s dumm läuft, sind – aus preislichen Gründen – in einem Krankenhaus mehrere Sorten Hähne im Einsatz.
Dieser für Patienten gefährliche Zustand ist keine Ausnahme und wird von Fachleuten, die sich mit der Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten befassen, seit geraumer Zeit angeprangert. Warum können die Zahlen auf Tastaturen von Telefon, Computer und an den Bedienfeldern aller Medizingeräte nicht nach einem international einheitlich festgelegten Muster angeordnet sein? Dann laufen flinke Finger nicht Gefahr, in der Hektik einen Zahlendreher zu verursachen. Warum verwenden Hersteller das gleiche Symbol – oder auch das rote Licht – sowohl für die Funktion „Ein“ als auch „Aus“? Und was nützt es, wenn zwar 1 000 Symbole international definiert sind, deren schiere Zahl aber den Anwender überfordert, weil er sie sich leider nicht merken kann?
Prof. Dr. Uvo Hölscher vom Zentrum für Medizintechnik und Ergonomie an der Fachhochschule Münster findet diesen Zustand sehr bedauerlich. „Wir haben zwar heute schon viele Normen für Medizinprodukte, die eingehalten werden. Daher kann man die meisten Produkte technisch mit Recht als sicher bezeichnen“, sagt er. „Nur ist schon lange die Zeit gekommen, Sicherheit auch dadurch zu schaffen, dass wir die Bedienfehler reduzieren.“
Zwar gibt es Normen, die vorschreiben, dass sich der Hersteller mit der Gebrauchstauglichkeit zu befassen hat. Darin sind die zu erreichenden Ziele genannt. Wie man dahinkommt, bleibt im Einzelfall immer festzulegen. Die Norm allein hilft also nicht bei konkreten Fragen zur Gestaltung, zumal „diejenigen, die die Medizinprodukte gestalten und dabei die Normen umsetzen, nicht die gleichen sind, die nachher das Gerät bedienen“, erläutert Hölscher.
Wie aber soll man dann zu besseren Geräten kommen? Für wissenschaftlich untermauerte Vorschläge zur Gebrauchstauglichkeit, die man für Medizinprodukte verallgemeinern könnte, gibt es laut Hölscher noch zu wenig gesicherte Daten. Forschung sei hier dringend erforderlich, betont er. Leider bevorzuge die Forschungsförderung aber stärker die Entwicklung neuer Diagnose- und Behandlungsverfahren als die Verbesserung der Sicherheit bestehender Verfahren. Darüber hinaus mangele es an ausgebildeten Ergonomen – ein Umstand, der heute schon sowohl die Medizintechnik- als auch die Automobilbranche betreffe.
Zur Untätigkeit ist dennoch kein Hersteller verdammt, der mit der Gebrauchstauglichkeit seiner Produkte weiter vorankommen will: Nutzen- und Tätigkeitsanalysen sollen helfen, die Ergonomie und damit die Sicherheit möglichst früh im Entwicklungsprozess zu berücksichtigen. Dazu raten die Mitglieder des Fachausschusses Ergonomie der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik (DGBMT) im VDE.
Erfahrungen damit haben Unternehmen bereits in Projekten gesammelt, unterstützt zum Beispiel von den Gebrauchstauglichkeitsexperten der Tübinger wwH-C GmbH. Diese nutzen als Testfeld einen eigens dafür in einer ehemaligen Fabrikhalle eingerichteten OP-Bereich – nach Angaben der Betreiber „das weltweit größte Usability-Labor für Medizinprodukte“ mit komplett eingerichtetem OP-Trakt plus Intensivstation, in denen unter anderem Nutzerstudien und Workflowanalysen durchgeführt werden.
Bei der Entwicklung des Operationsmikroskops OPMI VARIO 700 hat die Jenaer Carl Zeiss Meditec AG diese Möglichkeiten genutzt und damit den traditionellen Austausch mit den Anwendern noch erweitert. Laut Produktmanager Markus Lanski sollte durch das Projekt in Tübingen das komplexe Mikroskop-System, das von vielen medizinischen Disziplinen genutzt wird, an möglichst viele Anforderungen der zukünftigen Anwender angepasst werden. „Wie weit wir diese mit einem Prototypen schon erfüllen, wollten wir während der Entwicklung so früh wie möglich ermitteln“, sagt Lanski, „idealerweise unter realitätsnahen Bedingungen“.
Die Räumlichkeiten der wwH-c sind seiner Meinung nach dafür sehr gut geeignet. Dort finden die Ärzte auf rund 400 m² eine Arbeitsumgebung vor, die der gewohnten gleicht. Somit müssten sich die Testpersonen nicht auf neue Gegebenheiten umstellen, „sondern verhalten sich völlig authentisch und können somit sehr wertvolles Feedback aus der tatsächlichen Praxis vermitteln“, fasst Lanski zusammen. Eingeladen hatte Carl Zeiss Meditec für dieses Projekt erfahrene Chirurgen verschiedener Disziplinen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern, die mit klinischen Pflegekräften aus Tübingen zusammenarbeiteten und dabei einen der ersten Prototypen des Operationsmikroskops nutzten.
Alles, was bei solchen Tests an Lob oder auch Vorschlägen von den Probanden geäußert wird, können die Auftraggeber der Untersuchung live durch eine Glasscheibe beobachten. „Wir konnten sehen, wie verschieden Vertreter unterschiedlicher Disziplinen mit dem System arbeiten und wo es Knackpunkte gibt“, so Lanski. Und was für den Produktmanager besonders wichtig ist: „Die technische Ausstattung des Experimental-OP ermöglicht die Aufzeichnung der gesamten Erprobung.“ So stehen die gesammelten Erfahrungen sowohl im bewegten Bild als auch im Abschlussbericht jederzeit nachhaltig zur Verfügung.
Je mehr Optionen es für einen Test gibt, desto sorgfältiger müssen die Untersuchungen zur Gebrauchstauglichkeit natürlich geplant sein, um zu sinnvollen Ergebnisse zu kommen. So lief das erwähnte Projekt zum Operationsmikroskop – von der ersten Besichtigung der Versuchsräume bis zum Abschlussbericht – über einen Zeitraum von etwa fünf Monaten.
Die Mitarbeiter von Carl Zeiss Meditec haben in dieser Zeit das Testprozedere zusammen mit den wwH-c-Experten definiert. „Den Fragebogen zu definieren, den die Probanden ausfüllen sollten, nahm relativ viel Zeit in Anspruch“, erinnert sich Lanski. Dieser Aufwand sei aber gut investiert gewesen, da die Qualität der Ergebnisse stark von der Vorbereitung abhänge. Schließlich sollte nicht nur die erreichte Gebrauchstauglichkeit für das aktuelle Produkt bewertet werden. Es sollten auch Rückschlüsse für konkrete Verbesserungen möglich sein sowie das Übertragen der Erfahrungen auf die Entwicklung weiterer Produkte.
Wenn es der Hersteller wünscht, unterstützen ihn die Tübinger bei der Auswertung der Testdaten nach einer Useprob genannten Methode. Sie wurde im Rahmen einer Dissertation entwickelt. Deren Ziel: Methoden, mit denen die Gebrauchstauglichkeit in anderen Branchen bewertet wird, sollten auf ihre Eignung für Medizinprodukte geprüft, verglichen und zusammengeführt werden. Durch die Kombination werden möglichst viele Probleme erkannt. Die solcherart erhobenen Daten können auch für das in der Medizintechnik vorgeschriebene Risikomanagement nach ISO 14971 genutzt werden. „Mit der Useprob-Methode ist all das zu erreichen“, erläutert Arvid Braumann, Usability-Fachmann bei wwH-c. Am Ende wird das getestete Produkt auf einer zehnstufigen Skala eingeordnet, die von „sehr gut“ bis zu „nicht normkonform“ und damit ungenügend reicht. „Wir haben intern Medizinprodukte untersucht, die vor 2009 auf den Markt kamen und heute noch im Umlauf sind“, berichtet Braumann. „Den heutigen Vorgaben für die Gebrauchstauglichkeit wurden bei weitem nicht alle gerecht.“
Seit 2009, seit der Novellierung des MPG, wird ohne eine Usability-Studie kein Produkt zu klinischen Prüfungen nach DIN ISO 14155 und MEDDEV 2.7.1 zugelassen. Dennoch hat sich das Thema Gebrauchstauglichkeit in der Medizintechnik laut Braumann noch nicht überallhin ausgebreitet – trotz des möglichen Einflusses auf die Patientensicherheit. „Es gibt natürlich Hersteller, die sich intensiv damit befassen und nicht nur die Hauptfunktionen, sondern alles optimieren, womit der Nutzer zu tun bekommt“, sagt der Tübinger. Die Regel sei das – im Gegensatz zur Automobilindustrie, die dafür „richtig Geld ausgebe“ – aber nicht.
Man höre sogar von Unternehmen, die sich nicht einmal die Mühe machten, Probanden aus der Anwenderzielgruppe zu suchen, sondern eine Sekretärin oder Mitarbeiter aus dem technischen Umfeld in den eigenen Räumen zum Produkttest bitten. Und auch wenn die DIN EN IEC 62366 und DIN EN IEC 60601-1-6 manchem nicht weit genug ins Detail gehen: Ein solches Vorgehen entspricht den Normen nicht und ruft bei Mitarbeitern der zuständigen benannten Stelle nur ein Kopfschütteln hervor.
Mit dem Wissen, das sich mit der bei wwH-c oder auch anderen Dienstleistern wie zum Beispiel der Use-Lab GmbH in Steinfurt vorhandenen Ausrüstung und Erfahrung sammeln lässt, können medizinische Produkte und Bedienkonzepte aber so gestaltet werden, dass sie den internationalen Standards wie auch den Anforderungen des Usability Engineerings entsprechen. Klaus Epple, der die Abteilung Forschung und Entwicklung bei der Cardiobridge GmbH leitet, hat diesen Schritt gewagt, obwohl das Hechinger Unternehmen nur sieben Mitarbeiter beschäftigt. Die Benutzerschnittstelle einer Herz-Katheterpumpe galt es so zu verbessern, dass viele unterschiedlich ausgebildete Anwender aus der Notfall- und Intensivmedizin gut damit klarkommen. „Unser erster Ansatz war zu sehr von der Denkweise von uns Ingenieuren geprägt“, berichtet Epple. Viele Zahlen, viele Darstellungen auf einem Bildschirm und zu kleine Icons schadeten der Übersicht und erschwerten das Verständnis. Am Ende des Projekts waren solche Elemente verschwunden, wurden durch große Bilder, Animationen oder gar Videos ersetzt. „Wir haben gelernt, dass die Bediener von uns nur die wichtigsten Informationen wollen und diese auf einen Blick erfassen möchten“, so Epple. Die technischen Details kommen erst an zweiter Stelle. „Das haben wir in der Studie erkannt und inzwischen auch in der Entwicklung umgesetzt.“
Den Medizinern sind solche Bestrebungen sehr willkommen. Carl-Zeiss-Meditec-Produktmanager Lanski berichtet: „Die teilnehmenden Ärzte waren sehr angetan von den Einrichtungen in Tübingen, aber auch von unserem Einsatz und dem Bestreben, Systeme anwenderfreundlich zu gestalten.“ Die Möglichkeit, direkten Einfluss auf die weitere Gestaltung des Systems nehmen zu können, hätten sie „extrem positiv“ wahrgenommen.
Auch dem Patienten in uns allen leuchten die Argumente für eine verbesserte Gebrauchstauglichkeit zweifellos ein. Für alle, die stirnrunzelnd die Frage nach den Kosten stellen, haben die Ergonomie-Experten der DGBMT zum Schluss noch zwei gute Nachrichten. Wenn die Geräte einfacher zu bedienen sind, sei das nicht nur ein Wettbewerbsvorteil im direkten Vergleich, betonen sie. Beim Hersteller würden auch die Kosten für Anwenderschulungen sinken. Und denen, die für die Beschaffung im Krankenhaus zuständig sind, gelte es vor Augen zu führen, dass ergonomisch optimierte Produkte über ihren Lebenszyklus so viel günstiger sind, dass sich höhere Anschaffungspreise in jedem Fall rechnen.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Zum Experimental-OP: www.wwh-c.de Dort wird am 17.3. ein eintägiges Seminar zur Gebrauchstauglichkeit von Medizin- produkten angeboten. Zur DGBMT (Fachausschuss Ergonomie und Gebrauchstauglichkeit): www.dgbmt.de Zum Dienstleister Uselab in Steinfurt: www.use-lab.com Zu Carl Zeiss Meditec: www.meditec.zeiss.de  Zu normenkonformer Software für Medizinprodukte: Beitrag Seite 52 in dieser Ausgabe Zu unserem Dossier Gebrauchstauglichkeit: www.medizin-und-technik.de/ dossiergebrauchstauglichkeit
Probanden live beobachten – oder später auf dem Video-Mitschnitt

Usability im Selbstversuch
Sie wollen selbst ausprobieren, was der Chirurg noch sieht, wenn er minimal invasiv operiert? Wie sehr er auf sein Fingerspitzengefühl und die ergonomische Auslegung der Instrumente angewiesen ist? Dann besuchen Sie den Stand von medizin&technik auf der Messe Medtec Europe in Stuttgart.
Dort sind die wwH-c-Fachleute zu Gast, mit OP-Tisch, Gerätewagen, Simulatoren und der im Operationssaal typischen Bekleidung. Sie als Messebesucher stellen sich bei uns selbst an den Tisch und machen Ihre eigenen Erfahrungen. Probieren Sie aus, welcher Griff und welches Tastenfeld für Sie spontan einfacher zu nutzen ist, finden Sie den richtigen Knopf – und diskutieren Sie mit den Experten, was für Ihr Medizinprodukt vielleicht optimierbar wäre.
An jedem der Messetage bekommen Sie zu drei Terminen darüber hinaus die Möglichkeit, auch OP-Kittel, Haube, Mundschutz und Handschuhe anzulegen. Das Gefühl dafür, was sich gut benutzen lässt, verändert sich dadurch erheblich, betonen die Experten. Dieses besonders realistische Szenario wird jeden Tag um 11 Uhr, um 13 Uhr und um 15 Uhr geboten.
Besuchen Sie uns und machen Sie sich schlau in Sachen Gebrauchstauglichkeit! Halle 8, Stand 8243
Ein gemeinsames Angebot von medizin&technik und der wwH-c GmbH.

Usability und die Nutzer
Die Gebrauchstauglichkeit (engl. Usability) von Medizinprodukten beeinflusst die Patientensicherheit und gilt heute als Qualitätsmerkmal. Spätestens seit 2008 sind im Rahmen der CE-Zertifizierung von Medizinprodukten die Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit zu beachten, die in den Normen DIN EN IEC 60601-1-6 und DIN EN IEC 62366 beschrieben sind. Das soll eine sichere, effiziente und intuitive Verwendung der Produkte ermöglichen und unerwünschte Ereignisse verhindern, die Gesundheit oder Leben von Patienten und Bedienern gefährden könnten. De facto besteht die Forderung allerdings schon seit Erscheinen der Risikomanagement-Norm DIN EN ISO 14971 im Jahr 2000.
Solche unerwünschten Ereignisse werden nach Beobachtungen von Prof. Uvo Hölscher und seinen Mitarbeitern heute in zwei Dritteln der Fälle durch Bedienfehler verusacht. Technische Probleme lösen nur ein Drittel solcher Vorkommnisse aus. Speziell für die Medizintechnik haben die Münsteraner Forscher um Hölscher diese Verteilung anhand einer anonymisierten Umfrage in Krankenhäusern und aus den Statistiken des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukt (BfArM) ermittelt – auch wenn die Abgrenzung zwischen einem durch technische oder durch Bedienfehler verusachten Ereignis manchmal schwierig ist. Die gleiche Verteilung sei aber auch typisch für Chemieanlagen und Einrichtungen in anderen hochtechnisierten Bereichen.

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Details über Projektdauer, Kosten und Fördermittel sowie dazu, wie Cardiobridge die Bedienoberfläche seines Gerätes verändert hat, erfahren Sie exklusiv in zwei Interviews mit Arvid Braumann und Klaus Epple in unserem Online-Magazin.
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