Bisher war die chirurgische Ausbildung auf mehreren Ebenen eine Herausforderung: Angehende Mediziner haben nur wenig Zeit zum Üben. Erfahrene Chirurgen, deren Zeitplan oft eng getaktet ist, müssen sie betreuen. Nur selten sind Übungen an menschlichem Gewebe möglich. Tiergewebe einzusetzen, ist oftmals anatomisch nicht korrekt und wirft ethische Fragen auf. Das Üben an lebenden Patienten kommt nicht in Frage. Dafür ist das Risiko zu hoch, dass etwas schief geht oder nicht den medizinischen Anforderungen entspricht.
Ein Team aus Ingenieuren und Medizinern aus dem Forschungskonsortium Cyber Valley hat nun medizinische Lehrmittel entwickelt, die in Zukunft die Ausbildung von Chirurgen unterstützen könnten. Eine Reihe künstlicher Organe – eine Leber, eine Niere und eine Harnblase – soll als Trainingsplattform dienen. Die Forschenden haben die künstlichen Organe so entwickelt, dass man sie leicht nachbauen kann. So könnten sie auf der ganzen Welt bei der Ausbildung eingesetzt werden.
Künstliche Organe, cyber-physische Nachbildungen
Bei den künstlichen Organen handelt es sich um so genannte cyber-physische Nachbildungen: Ein physisches System ist mit virtuellen Eigenschaften kombiniert. Die Beschaffenheit des Gewebes, die Anatomie, die haptische Wahrnehmung, sogar das Aussehen der winzigen Blutgefäße sind natürlichen Organen sehr ähnlich. Zusätzlich messen Sensoren eine Reihe von Parametern:
- die Feinmotorik der Chirurgen,
- wie sie ein Endoskop durch ein Organ navigieren,
- ob sie eine Nadel an der vorgesehenen Stelle richtig eingestochen haben oder
- die Zeit, die benötigt wurde, um alle Tumore zu lokalisieren.
Einen Open-Source-Algorithmus, der auch in selbstfahrenden Autos Objekte unterscheidet, trainierten die Forschenden neu darauf, Karzinome oder Nierensteine zu erkennen. Sobald das Endoskop das Ziel erreicht hat, können die Trainierenden eine Biopsie simulieren und versuchen, die Genauigkeit und Schnelligkeit mit jeder Trainingseinheit zu verbessern. Während des ganzen Vorgangs werden Daten gesammelt, die selbst bei einem echten chirurgischen Eingriff an Patienten nicht zur Verfügung stünden.
„Wenn wir uns das Forschungsgebiet des maschinellen Sehens oder der Spracherkennung ansehen, sind dort die Daten sehr reichhaltig und strukturiert“, sagt Dr. Tian Qiu, Leiter der Cyber-Valley-Forschungsgruppe Biomedizinische Mikrosysteme an der Universität Stuttgart. „Im Bereich der Biomedizin, insbesondere bei Operationen, ist jedoch die Datenerfassung sehr schwierig.“ Wie lässt sich die Qualität eines chirurgischen Eingriffs quantifizieren? Eine echte Operation findet in einer Umgebung statt, in der die Erfassung von Daten in Echtzeit fast unmöglich ist.
KI-basierte Hardware für die Medizin als Spezialgebiet
Die Stuttgarter Gruppe, die sich auf die Entwicklung KI-basierter Medizin-Hardware spezialisiert, entwickelt Werkzeuge, die große Datenmengen in der Biomedizin sammeln, um daraus zu lernen und minimal-invasive chirurgische Werkzeuge und Verfahren zu verbessern. Das Team arbeitet mit Medizinern der Universitätskliniken in Freiburg und Tübingen zusammen. Das Ziel: Eines Tages könnten auch von künstlicher Intelligenz (KI) gestützte Trainingsmethoden assistieren. Durch den Einsatz von Daten könnten cyber-physische Systeme den chirurgischen Probelauf zum Beispiel mit Informationen darüber ergänzen, wie sich ein Tumor am besten von gesundem Gewebe entfernen lässt.
„Da wir den Bereich der Biomedizin mit künstlicher Intelligenz verbessern wollen, kombinieren wir physische Systeme mit virtuellen Eigenschaften“, erläutert Tian Qiu. „So können wir Daten über chirurgische Fähigkeiten sammeln.“ Erfahrene Chirurgen legen den Grundstein. Deren Fähigkeiten werden mit denen angehender Mediziner verglichen. „In jeder Trainingseinheit visualisieren wir die Daten der Auszubildenden, beurteilen, wie die Operation durchgeführt wurde, und bewerten, welche Fähigkeiten verbessert werden müssen.“
Organ-Phantome ermöglichen bessere Erkenntnisse
Bereits veröffentlicht ist das Beispiel einer künstlichen weichen Leber, anhand derer sich beurteilen lässt, wie gut eine endoskopische Inspektion und Tumorbiopsie in den hohlen Gallengängen, die sich durch die Leber ziehen, durchgeführt wird. „Unsere Organ-Phantome bieten viel objektivere Auswertungen und Rückmeldungen, viel besser als zum Beispiel Virtual-Reality-Simulatoren“, sagt Xiangzhou Tan, der als Arzt des Universitätsklinikums Tübingen medizinische Expertise in die Gruppe einbringt.
Die Handhabung eines Endoskops, eines langen und dünnen Instruments mit kleiner Kamera an der Spitze, mit dem Hohlräume im Inneren von Organen untersucht werden, ist ein weiterer wichtiger Teil der Ausbildung. „Ein von uns entwickelter Prototyp kann messen, wie gut das Endoskop gesteuert wird“, erklärt Do Yeon Kim, Doktorandin und Ingenieurin in der Gruppe. „Wir können sicherstellen, dass nichts übersehen wird und alle Tumore in einer angemessenen Zeit entdeckt werden.“ Die Leistung der Auszubildenden wird anhand der Schwellenwerte erfahrener Ärzte gemessen. „Man könnte sagen, wir haben einen Flugsimulator für Chirurgen geschaffen.“ (op)
Über Cyber Valley
Das Forschungskonsortium Cyber Valley wurde Ende 2016 in der Region Stuttgart-Tübingen gegründet. Den beteiligten Partnern aus akademischen Einrichtungen und privatwirtschaftlichen Unternehmen geht es um Forschung und Innovation in den Bereichen maschinelles Lernen, Robotik und Computer Vision. Jedes Jahr kommen neue, multidisziplinäre Initiativen hinzu.
cyber-valley.de