Beste Qualität, höhere Produktivität und mehr Nachhaltigkeit. Das sind Aspekte, mit denen sich Unternehmen, die in Deutschland fertigen, von ihren Wettbewerbern abheben können. Aber: „Die Lohnkosten in der deutschen Industrie lagen im Jahr 2022 gut 44 Prozent über dem EU-Durchschnitt“, sagt Prof. Christian Brecher, Inhaber des Lehrstuhls für Werkzeugmaschinen am Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen. Daraus sowie angesichts der zahlreichen qualifizierten Baby Boomer, die in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen, ergeben sich laut Brecher Aufgaben für die Wissenschaft. „Wie können wir die Standortbedingungen für die Industrie in Deutschland noch besser gestalten?“, fragt der Wissenschaftler. „Wie kann man den Menschen dabei einbinden und versuchen, Schritt für Schritt besser als die anderen zu sein, so dass die Lohnkosten zu rechtfertigen sind?“
Im Exzellenzcluster Internet of Production den Weg in die Zukunft der Industrie ebnen
Mit solchen Fragen beschäftigen sich Experten aus 35 Lehrstühlen und Forschungseinrichtungen in Aachen in einem Verbund: Im Exzellenzcluster IoP – Internet of Production – arbeiten Maschinenbauer wie der Cluster-Sprecher Prof. Brecher mit anderen Fachleuten interdisziplinär zusammen. Sie wollen mit ihren Projekten den Weg in die industrielle Zukunft ebnen. Ihr gemeinsames Ziel: Sie entwickeln gemäß dem Konzept von Industrie 4.0 ein komplexes Netzwerk aus Maschinen, Software, Datenspeichern und Menschen, die Daten in Echtzeit austauschen und damit intelligent arbeiten – und wollen damit weiter gehen als bisher.
Um die anfallenden Datenmengen, „Big Data“ also, handhabbar zu machen, haben die Wissenschaftler eine intelligente Aufbereitung entwickelt. „Wir sprechen hier von unserem Konzept des Digitalen Schattens“, sagt Brecher. Das heißt: Die Datenwelt werde soweit abgespeckt, dass nur eine minimale Menge an Daten verarbeitet wird. Nur das, was gebraucht wird, um zum Ziel zu kommen. Das funktioniere mittlerweile „in Echtzeit“.
Gemeinsames Modell für unterschiedliche Maschinen
Modelle, Prozesse und Technologien dafür haben die Forscher schon entwickelt. Zunächst gab es für jeden Maschinentyp eigene Modelle. Dann aber war der Punkt erreicht, an dem man sich fragen musste: was lässt sich verallgemeinern, was lässt sich übertragen. „Sonst ist die Technologievielfalt unbeherrschbar“, fasst Christian Brecher zusammen.
Heißt: Man braucht nun ein gemeinsames Modell für ganz unterschiedliche Maschinen. „Das ist ambitioniert“, sagt Brecher. „Aber wenn wir das hinbekommen, wäre das ein Riesensatz nach vorne.“ Zwei Institute erarbeiten das derzeit beispielhaft an einer Fräsmaschine und einer Kunststoffspritzgießmaschine. Beide haben unterschiedliche Steuerungen, Prozesse und Sensoren.
Doch die Wissenschaftler denken jetzt schon weiter, wollen mit „Look ahead Funktionen“ ganz neue Wege der Qualitätsüberwachung ermöglichen. Dabei geht es darum, sehr gute Informationen auf Knopfdruck verfügbar zu haben: welche Produktivität wird insgesamt gerade erreicht, wo gibt es ein Problem oder wo entsteht gerade eins.
Beim Automatisieren hatte man den Mitarbeiter ausgeblendet
Der Mitarbeiter soll von Anfang an und stärker als bisher seinen Platz in solchen Überlegungen bekommen. Als in den 90iger Jahren die computergestützte Fertigung eingeführt wurde, habe man beim Automatisieren diesen Aspekt eher ausgeblendet. „Das hat am Ende nicht funktioniert“, sagt Brecher. Darum seien jetzt die Fachrichtungen Psychologie und Arbeitswissenschaft von Beginn an im Cluster IoP dabei.
Prof. Verena Nitsch, die an der RWTH Aachen das Institut für Arbeitswissenschaften IAW leitet, begründet den interdisziplinären Ansatz mit einem Beispiel aus der Automobilindustrie. Ein Autobauer habe im Produktionsprozess extrem viel automatisiert und standardisiert. „Trotzdem stellte man überrascht fest, dass Autos aus verschiedenen Standorten sich in der erzeugten Qualität unterscheiden.“ Wie konnte das sein, wo doch alles standardisiert und automatisiert, also in beiden Werken exakt gleich war? Am automatisierten Teil der Produktion konnte es nicht liegen. Der neuralgische Punkt mussten die menschlichen Entscheidungen im Rahmen der Prozesse sein.
Daten von Menschen und Maschinen vernetzen
Was Nitsch zu einem sensiblen Thema führt: Wenn Mensch und Maschine vernetzt werden, wenn von der realen Produktion ein virtuelles Abbild in Echtzeit entstehen soll, dann braucht man Daten auch von den Menschen. Wie weit kann und will man dabei in Deutschland gehen?
„Da ist China natürlich proaktiver“, stellt Nitsch fest. Kamerabasierte KI-Systeme sammelten dort Daten. „Zu Recht fragen wir uns alle: Wollen wir das in Deutschland?“, sagt die Arbeitswissenschaftlerin. „Wir wollen mehr Daten, und wir brauchen mehr Daten. Wann gehen wir zu weit? Wann überwiegen die Nachteile gegenüber den Vorteilen?“ Niemand solle auf Schritt und Tritt überwacht werden oder negative Konsequenzen befürchten müssen.
Einfluss des Mitarbeiters aus anonymisierten Daten ableiten
Reduzierte, anonymisierte Daten sollen helfen. Daran arbeitet das IoP im Rahmen eines World Wide Labs. Dort geht es darum, Probleme in der Produktion früh zu erkennen und Lösungen zu finden – um schnell eingreifen zu können, wenn irgendwas schieflaufe. Ein Ansatzpunkt dafür könnten physiologische Daten der Mitarbeiter sein – die Herzratenvariabilität zum Beispiel, um eine Vorhersage treffen zu können, wie aufmerksam der Mensch gerade ist. Der Gedanke dabei: Bei nachlassender Aufmerksamkeit könnten Fehler schlechter entdeckt werden. Dadurch drohten Stillstände in der Produktion, schlimmstenfalls sogar Unfälle. Wann Menschen an bestimmten Plätzen sein müssten, damit die Produktion reibungslos laufe, könnte anhand von Positionsdaten von Mitarbeitenden erkennbar sein. Bei der Erfassung solcher Daten spielen laut Nitsch Persönlichkeits- und Mitbestimmungsrecht sowie ethische Fragestellungen eine entscheidende Rolle.
Ein weiterer Aspekt ist das wertvolle Know-how erfahrener Mitarbeiter, das sich Unternehmen sichern möchten, bevor die Mitarbeiter in Rente gehen. Klassisches Beispiel: Mit einem prüfenden Blick kommt ein Meister zu einem Urteil darüber, ob ein Bauteil gut oder schlecht ist. „Wie hat der das jetzt gemacht?“, fragt sich der jüngere Kollege. Das IoP-Cluster geht der Frage nach, wie sich dieses individuelle Fachwissen mit einem digitalen Ansatz beschreiben und damit sichern lässt– also möglicherweise mit dem Einsatz von Daten, die von künstlicher Intelligenz analysiert und mit Merkmalen versehen werden.
Vom erfahrenen Meister oder von der Maschine lernen
„Der Mensch ist sehr gut in der Erkennung von Mustern“, erklärt die Arbeitswissenschaftlerin Nitsch. „Und wenn die Maschinen genau darauf trainiert werden, diese Muster zu erkennen, dann kann die Maschine auch lernen, diese Entscheidungen zu bewerten und mögliche Lösungen für den Entscheider vorschlagen.“ Die nächste Generation von Mitarbeitenden könnte dann wieder von der Maschine lernen. „Aber am Ende würden immer noch Menschen die Entscheidung treffen müssen.“
Aufgrund der Automatisierung werde die Industrie in einigen Bereichen künftig weniger Arbeitskräfte brauchen. Diese wenigen würden dann aber qualifizierter sein, so Arbeitswissenschaftlerin Nitsch. Daraus wiederum ergäbe sich eine Reihe positiver Effekte: „Die verdienen dann besseres Geld, in besseren Jobs, sie bezahlen mehr Steuern, davon profitiert das Land, davon profitieren die Unternehmen.“
Während die Arbeit im Cluster IoP noch läuft, soll es in der aktuell angestrebten zweiten Projektphase der Exzellenzstrategie von 2026 an um einen anderen Schwerpunkt gehen. Angedacht haben die Aachener im dann folgenden „Internet of Sustainable Production“ vor allem, die Frage der Nachhaltigkeit in der Produktionstechnik anzugehen. In allen Dimensionen: wirtschaftlich effizient, sozial verträglich und zudem ökologisch tragfähig soll die Produktion sein.
Erst Internet of Production, dann folgt die Nachhaltigkeit
„Ein Auto fahren wir heute zehn bis zwölf Jahre. Danach ist es für uns weniger interessant, hätte aber das Potenzial, viel länger leben zu können“, erläutert Brecher. Um dieses Potenzial zu nutzen, sei aber ein komplett anderes Produktdesign erforderlich: „Es muss reparierbar und upgradefähig sein, so dass ich manche Sachen austausche und sage: Ich kann viele Komponenten weiter nutzen und halte das Produkt trotzdem up to date, indem ich beispielsweise Softwareupdates nutze. Das kann man sich bei vielen Produkten vorstellen.“
Fertigung von Medizinprodukten: So lassen sich Energiekosten senken
Dagegen sei die Frage, wie lange zum Beispiel der Antrieb einer Produktionsmaschine hält, noch nicht beantwortet. Die Daten einzelner Maschinen bieten dazu zu wenig Informationsgehalt. Ob eine bestimmte Komponente unter diesen oder jenen Bedingungen noch tausend oder 10 000 Stunden hält, lässt sich statistisch nur einschätzen, wenn es Daten von unzähligen Antrieben gäbe – oder wenn man an einem Prüfstand für tausende von Stunden Versuche fährt, was nicht realistisch ist.
Weltweite Maschinendaten ermöglichen detailliertere Vorhersagen zur Wartung
Weltweit allerdings sind genug Maschinen im Einsatz, die die erforderliche Datengrundlage für solche Überlegungen liefern könnten – wenn diese Maschinen vernetzt wären. Das würde auch bei ganz anderen Fragen helfen: Etwa beim Vergleich von Prozessen, die in einem Land zu besseren Ergebnissen führen als in einem anderen. Man könnte voneinander lernen.
An der Stelle müssen die Aachener allerdings dicke Bretter bohren. Wer gibt schon freiwillig Produktionsdaten preis? Für Brecher ist es eine Frage von Risiko und Nutzen. Dass die Aachener Wissenschaftler mit Teilentwicklungen in Unternehmen gehen und den Nutzen demonstrieren, ist sicher hilfreich dabei, die Verantwortlichen zu überzeugen.
Auf die Frage, wann man denn das Internet of Production sehen könne, antwortet Prof. Brecher ehrlich: „Das ist für eine Hochschule und für uns ein zu großes Programm. Wir können ja nicht mal eben Google oder Amazon spielen.“
Im Exzellenzcluster gehe es um Grundlagenforschung, Impulse und Transfer. Christian Brecher sieht die Wissenschaft zehn bis 20 Jahre der Zeit voraus. Verena Nitsch unterstreicht, dass auch unerwartete Entwicklungen die Entwicklungen beeinflussen können – so wie sich das Homeoffice, nach Forschungen schon in den achtziger Jahren, erst mit der Corona-Pandemie durchgesetzt habe. (op)
Weitere Informationen
Das Exzellenzcluster Internet of Production IoP ist eines von bundesweit 57 Exzellenzclustern des Bundes und der Länder. In Summe werden all diese Cluster jährlich mit 385 Mio. Euro gefördert. Mit Beginn der zweiten Förderphase in 2026 soll die jährliche Fördersumme für bis zu 70 Exzellenzcluster auf insgesamt 539 Mio. Euro steigen.
(Bild: Monopoly919/stock.adobe.com)
Digitaler Zwilling – digitaler Schatten
Ähnlich, aber doch nicht das gleiche sind der digitale Schatten und der digitale Zwilling.
Ein mit dem Internet verbundenes Objekt oder ein Nutzer hinterlässt digitale Spuren, die auch als digitaler Schatten oder digitaler Fußabdruck bezeichnet werden. Im Bereich der Produktion, wenn es um Industrie 4.0 geht, ist mit dem digitalen Schatten die Gesamtheit von zum Beispiel Betriebs- und Zustandsdaten sowie Prozessdaten gemeint, ergänzt um solche Daten, die bei Entwicklung und Fertigung eines Produktes anfallen. Zum digitalen Schatten gehört also immer ein „Verursacher“ in der wirklichen Welt.
Wenn vom digitalen Zwilling die Rede ist, geht es um eine informationstechnische Abbildung von Objekten (oder, in der Medizin, auch von Menschen). Im Umfeld der Fertigung sind Daten, die man als digitalen Schatten bezeichnet, eine Basis, um zum digitalen Zwilling zu kommen. Typisch für diesen ist, dass er nicht nur vorhandene Daten verwendet, sondern auch Simulationsmodelle integriert. So lässt sich zeigen, was noch gar nicht existiert – oder was in Zukunft aus einem bestehenden Objekt werden könnte.