Durchschnittlich 32 kg Zucker isst in Deutschland ein Mensch pro Jahr. Umgerechnet sind das knapp 22 Teelöffel Zucker pro Tag. In der gesamten EU liegt der Jahreswert bei knapp 37 kg pro Kopf, Russland und die Schweiz schaffen es laut Statista sogar auf 44,6 und 49,2 kg Zucker pro Kopf. Die Folgen liefert eine Erhebung der Statistikbehörde Eurostat aus dem Jahr 2016: Jeder zweite Europäer ist zu dick, rund 35 % leiden unter Übergewicht und knapp 16 % sind sogar adipös mit einem Body-Mass-Index von 30 oder mehr.
Damit hat Europa ein dickes Problem, denn Übergewicht und Adipositas, also die Fettleibigkeit, erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes mellitus, aber auch für chronische Nierenleiden oder Beschwerden des Bewegungsapparates. Adipöse Patienten haben darüber hinaus ein höheres Risiko, eine Krebserkrankung oder einen Schlaganfall zu erleiden. Und sie gehören deshalb zu den Risikopatienten für die Zivilisationskrankheiten, die die Gesundheitssysteme Europas in den kommenden Jahren beschäftigen werden. Besonders viele fettleibige Menschen sind in Malta, Lettland, Ungarn und Großbritannien zuhause. Und die Deutschen sind dicker als der EU-Durchschnitt. Die Europäische Adipositas-Gesellschaft EASO befürchtet sogar, dass Übergewicht und Adipositas mit solch alarmierender Geschwindigkeit zunehmen, dass sie bis zum Jahr 2030 bereits die Mehrheit der Bevölkerung betreffen werden.
Ungesunder Lebensstil fördert Volkskrankheit Übergewicht
Bereits heute kostet Adipositas die EU jährlich geschätzte 70 Mrd. Euro, bedingt durch erhöhte Krankheitskosten und verlorene Produktivität. Schuld habe laut Experten der Europäischen Gesundheitsorganisation WHO vor allem der ungesunde westliche Lebensstil: zu viel ungesunde Ernährung, zu wenig Bewegung. Und damit beginnt das Problem bereits im Kindesalter. „In vielen Ländern der Europäischen Region leiden fast ein Drittel der Kinder im schulpflichtigen Alter an Übergewicht oder Adipositas“, so Dr. Zsuzsanna Jakab, WHO-Regionaldirektorin für Europa. „Deshalb müssen wir ihren Zugang zu gesunder Ernährung und Bewegungsmöglichkeiten verbessern.“ Mit dem Ziel, den gesundheitlichen Spätfolgen vorzubeugen.
Steigende Lebenserwartung, mehr Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht und Adipositas plus erhöhter Kosten- und Regulierungsdruck: Da kommen auf das Gesundheitswesen der Zukunft große Herausforderungen zu. Neben individuellen Präventionsmaßnahmen spielen Technologien bei der Lösung dieser Aufgaben eine wichtige Rolle. Aktuelle Studien der Unternehmensberatung Deloitte zeigen: Es braucht umfassende Anstrengungen, um Patienten, Ärzte und die Anbieter von medizinischen Produkten gleichermaßen anzusprechen. „Lösungsansätze sind der Paradigmenwechsel von einer volumenbasierten hin zu einer individuelleren Versorgung und Vergütung sowie die verstärkte Einbindung des Patienten“, sagt Dr. Sebastian Krolop, Partner und Leiter Life Sciences & Health Care bei Deloitte in Köln. „Aber vor allem neue technische Möglichkeiten eröffnen dem Gesundheitssektor attraktive Perspektiven.“
Bis 2021 werden die weltweiten Gesundheitsausgaben pro Jahr um über 4 % wachsen. Grund dafür ist unter anderem eine steigende Lebenserwartung, die dann bei 74,1 Jahren liegen wird, so ein Ergebnis des Global Health Care Outlook 2018 von Deloitte. Der Anteil der Über-65-Jährigen erhöht sich dann global auf 11,5 % – und trotz abnehmender Bevölkerungszahlen werden die Fallzahlen stationär behandelter Patienten von heute über 19 Millionen jährlich auf 22 Millionen im Jahr 2030 steigen.
„Alle drei Sekunden erkrankt ein Mensch durchschnittlich an Demenz, schon heute kostet die Behandlung der Krankheit und ihrer Folgen weltweit Billionen“, so Krolop. Damit die Kosten nicht überhandnehmen, brauche es völlig neue Strategien, die das Gesundheitssystem deutlich smarter machten. Im Zentrum neuer Ansätze und Strategien sieht der Gesundheitsexperte innovative Technologien: „Erst sie erlauben einen Wechsel vom ‚Reparaturansatz‘ zu präventiver Versorgung.“
Smart Health und KI helfen bei Diagnose und Therapie
Basis dafür sind seiner Meinung nach Big Data, Mobile-Health-Anwendungen und die Fähigkeit, diese Informationen adäquat auszuwerten und zu nutzen. Aber auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin könnte helfen, Krankheiten früher zu erkennen, die Menschen besser, weil personalisierter, zu therapieren – und allein in Europa die prognostizierten Gesundheits- und Folgekosten binnen zehn Jahren um eine dreistellige Milliardensumme zu senken.
Der Weg dorthin sei jedoch schwierig, erklärt Michael Burkhart, Partner und Leiter des Bereichs Gesundheitswesen & Pharma bei der Pricewaterhouse Coopers (PwC) GmbH, Frankfurt: „Künstliche Intelligenz funktioniert nur auf Basis riesiger Datenbestände – und die müssen zunächst konsequent aufgebaut werden.“ Dennoch sei der potenzielle Nutzen von Künstlicher Intelligenz so gewaltig, dass es sich ohne Zweifel lohnen werde, diesen Weg zu gehen. Um herauszufinden, ob sich der Aufwand lohnt, haben sich die Marktforscher von PwC auf drei besonders verbreitete Krankheitsbilder konzentriert: Fettleibigkeit bei Kindern, Demenz und Brustkrebs. Beim Thema Übergewicht zeigen erste klinische Studien, dass sich mit Hilfe Künstlicher Intelligenz womöglich schon aus den Gesundheitsdaten von Zweijährigen ablesen lässt, welche Kinder einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, später an Fettleibigkeit zu leiden. Aktuell werden die typischen Risikofaktoren analysiert, um in einigen Jahren sehr viel genauer sagen zu können, inwieweit Übergewicht im Einzelfall mit dem Lebenswandel, den Ernährungsgewohnheiten oder der genetischen Disposition zu tun hat. „Das würde die Therapiemöglichkeiten signifikant verbessern“, so Burkhart. Und diese Erkenntnisse könnten es Ärzten und Eltern ermöglichen, das Problem viel früher anzugehen als das heute der Fall ist.
Ähnliche Fortschritte wie bei der Diagnostik von Übergewicht könnten sich bei Demenzerkrankungen ergeben. Bislang werden die meisten Fälle frühestens erkannt, wenn Menschen bei sich selber entsprechende kognitive Veränderungen feststellen. Dank Künstlicher Intelligenz dürften deutlich frühere Diagnosen möglich werden – und zwar häufig schon auf Basis regulärer Vorsorgeuntersuchungen. Eine klinische Studie aus den Niederlanden kommt zudem zu Schluss, dass sich Künstliche-Intelligenz-Verfahren mit herkömmlichen Diagnosemethoden wie der Magnetresonanztomographie kombinieren lassen. Auf diese Weise wurden beispielsweise Alzheimer-Erkrankungen in einem sehr frühen Stadium mit einer Genauigkeit von 82 bis 90 % festgestellt.
Die Studie, die PwC aus ihren Umfragen entwickelt hat, zeigt aber auch, dass Künstliche Intelligenz kein Allheilmittel ist – auch weil bei vielen Krankheiten die Fortschritte in der Therapie fürs erste hinter den Verbesserungen bei der Diagnose zurückbleiben dürften. Zudem sind die prognostizierten Einsparungen zunächst an beträchtliche Investitionen geknüpft, etwa für den Aufbau von Datenbanken. „Darüber hinaus wird auch der Gesetzgeber gefordert sein. Denn der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin verlangt nach starken Eingriffen in die Regulatorik – etwa was Datenschutzbestimmungen angeht“, sagt Burkhart. Und, ein nicht zu unterschätzender Punkt: „Selbst wenn alle technischen, finanziellen und rechtlichen Hürden genommen werden, bleibt noch die psychologische Komponente. Künstliche Intelligenz wird teilweise zu völlig neuen Therapieverfahren führen – die Frage ist, ob die Menschen bereit sind, sich darauf einzulassen.“
Doch trotz dieser Bedenken ist PwC-Experte Burkhart überzeugt, dass die Zukunft der Medizin in der Künstlichen Intelligenz liegt: „In den vergangenen Jahrzehnten haben Gesundheitspolitiker immer nur ein eindimensionales Ziel ernsthaft verfolgt. Entweder sollte die medizinische Versorgungsqualität für den Einzelnen besser werden – oder für die Allgemeinheit kostengünstiger. Die Künstliche Intelligenz löst diesen Konflikt, indem sie diese Ziele zusammenbringt.“
Medizin der Zukunft braucht Künstliche Intelligenz
Damit Künstliche Intelligenz auch gelingen und der Medizintechnik von Nutzen sein kann, bedarf es der Kooperation von Entwicklern und Medizinern, die mit den lernfähigen Computerassistenten künftig zusammenarbeiten müssen. Die kognitiven Programme sollen die Mediziner beispielsweise bei Arbeiten unterstützen, die langwierig, monoton und immer wiederkehrend sind – etwa, wenn es darum geht, die Umrisse eines Organs auf einer CT-Aufnahme präzise zu bestimmen. Außerdem sind die Assistenten in der Lage, Informationen aus medizinischen Bilddaten herauszufiltern, die ein Mediziner beim bloßen Blick auf den Bildschirm kaum zu erkennen vermag. Das Besondere: Die Assistenten sind lernfähig. Je mehr Bilddaten sie im Laufe der Zeit prozessieren, umso präziser werden sie die Umrisse eines Organs auf einer Aufnahme erkennen.
„Indem wir die Software gezielt trainieren, machen wir sie mit der Zeit immer leistungsfähiger“, sagt Markus Wenzel vom Fraunhofer-Institut für Bildgestützte Medizin Mevis in Bremen, das aktuell solche KI-Systeme in enger Zusammenarbeit mit Medizinern entwickelt. Durch die Zusammenarbeit mit den Medizinern bekommt das KI-System die nötige Praxiserfahrung. Ein weiteres Projekt befasst sich unter anderem damit, die Behandlungsplanung einer speziellen Therapie gegen Lebertumoren mit Hilfe ausgefeilter Computeralgorithmen schneller und genauer zu machen
„Um fit für die Gesundheit 2030 zu sein, muss sich die Medizintechnik auch in Zukunft durch ein sehr hohes Innovationspotenzial auszeichnen“, prognostiziert Fuád Abuschuscha, Future Manager bei der Future Management AG (FMG) in Walluf. Das weltweite Marktvolumen wird von 371 Mrd. US-$ im Jahr 2015 auf 530 Mrd. US-$ im Jahr 2022 anwachsen, prognostiziert FMG. Treiber dieser Entwicklung sind die weiter wachsende Weltbevölkerung, der steigende Anteil älterer Menschen sowie die Millionen von Menschen, die jedes Jahr in die weltweite Mittelschicht aufsteigen und zunehmend höhere Anforderungen an die Gesundheitsversorgung stellen.
Abuschuscha sieht die Digitalisierung als eine der grundlegendsten Veränderungskräfte der europäischen Medizintechnikbranche: Sie könnte die Patientenversorgung revolutionieren und mittel- bis langfristig einer Kostenexplosion im Gesundheitssystem entgegenwirken. „Ein breites Spektrum an innovativen E-Health und E-Care-Lösungen bildet zudem die Voraussetzung, um Behandlungen weiter aus dem stationären in den ambulanten Bereich zu verlagern und den Weg zu einem selbstbestimmten Patienten zu ebnen“, ist der Zukunftsexperte überzeugt.
Für die Medizintechnikhersteller heißt es in Zukunft angesichts immer kürzerer Entwicklungszeiten mehr denn je, ihre Produkte schneller auf den Markt zu bringen. „In einem sich global verschärfenden Wettbewerb wächst auch eine neue Konkurrenz aus den Emerging Markets“, so Abuschuscha. „So genannte Good-Enough-Produkte, also einfachere Produkte, die bei ausreichender Qualität einen deutlichen Preisvorteil bieten, erzielen dort große Markterfolge, werden aber verstärkt auch von Unternehmen in den Schwellenländern selbst hergestellt.“ Eine große Herausforderung für die etablierten Unternehmen in den nächsten Jahren wird es sein, Standards und Schnittstellen im Bereich Smart Health zu schaffen, die eine hohe Interoperabilität bei gleichzeitig größerer Cybersicherheit bieten.
Weitere Informationen
Zu den Studien von Deloitte:
Zur Unternehmensberatung Pricewaterhouse Cooper (PwC):
Zu den Zukunftsforschern von Future Management:
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- Das Internet der Dinge wird das Gesundheitswesen revolutionieren. Von der Vernetzung medizinischer Geräte profitieren Ärzte, Patienten, Angehörige und Pflegepersonal. Prozesse können beschleunigt und die medizinische Versorgung verbessert werden.
- Durch den verstärkten Einsatz vernetzter medizintechnischer Geräte wächst die Menge der verfügbaren Gesundheitsdaten rasant. Big Data Analytics ermöglicht es, auch in unstrukturierten Daten Muster zu erkennen.
- Die Virtualisierung ist Grundlage für immer realistischere Einblicke in das Körperinnere des Menschen. Fortschritte bei bildgebenden Verfahren, 3D-Simulationen sowie Virtual- und Augmented-Reality-Anwendungen ermöglichen es, bessere Diagnosen zu stellen sowie Behandlungen durch Simulation zu planen und zu trainieren.
- Der medizinische 3D-Druck eröffnet verschiedene Anwendungsfelder, zum Beispiel: Ausbildung und Training an 3D-gedruckten Modellen, die Herstellung patientenindividueller Prothesen und Implantate sowie langfristig Bioprinting, das heißt, das Drucken von Blutgefäßen, Haut und Organen mithilfe von Stammzellen des Patienten.
- Sulatogenese fragt nach den Ursachen der guten Gesundheit. Das Interesse an gesundheitsfördernden Lebens- und Verhaltensweisen wächst. Immer mehr Menschen wollen mehr Eigenverantwortung für ihre Gesundheit übernehmen.
- Mensch-Maschine-Schnittstellen der nächsten Generation ermöglichen es Unternehmen, sich gegenüber ihren Wettbewerbern zu differenzieren. Trotz zunehmender Komplexität der Systeme kann mit neuen Mensch-Maschine-Schnittstellen eine intuitive Bedienbarkeit und damit auch Sicherheit und Kosteneffizienz in der Anwendung gewährleistet werden.
- Sensoren spielen in der Medizintechnik eine immer wichtigere Rolle. So ermöglicht die Sensorisierung neue Formen der medizinischen Versorgung, etwa im Bereich der Fernüberwachung. Neue und immer kleinere Sensoren verbessern zudem die Portabilität, die Präzision sowie die Leistungsfähigkeit und das Leistungsspektrum von medizinischen Geräten. Ein weiteres Einsatzgebiet ist die Prothetik.
- Automatisierung und Robotisierung ermöglichen zahlreiche Anwendungsfelder in der Medizintechnik, von der Produktion medizintechnischer Geräte selbst über die Automation von Prozessen im medizinischen Sektor bis hin zum Einsatz von Robotern zur Entlastung von Krankenhaus- und Pflegepersonal. Hochspezialisierte Roboter werden verstärkt auch im OP eingesetzt, zum Beispiel in der minimal-invasiven Chirurgie.
- Digitalisierung und Miniaturisierung sind die Basis für die zunehmende Dematerialisierung medizintechnischer Geräte. So genannte Embedded Systems machen selbst kleinste Produkte ‚smart‘ und bieten neue Anwendungsfelder, etwa portable Geräte für Gebiete mit schlechter medizinischer Infrastruktur.
- Die zunehmende Dematerialisierung medizintechnischer Geräte ermöglicht Modelle, so genannte Wearables und Implantables, die von Patienten und Gesundheitsorientierten zeitweise oder dauerhaft am oder im Körper getragen werden können. Beispiele sind Kontaktlinsen, die den Blutzuckerspiegel messen oder smarte Textilien, die Vitalparameter überwachen.
- Werkstoff-Innovationen bilden die Grundlage für die nächste Generation medizintechnischer Geräte mit neuen oder verbesserten Eigenschaften, unter anderem hinsichtlich Stabilität, Biokompatibilität, Hygiene oder Recyclingfähigkeit. Beispiele sind carbonfaserverstärkte Werkstoffe in der Prothetik, Magnesium für Implantate und Beschichtungen von Oberflächen.
- Eine stärkere Individualisierung in der Medizin soll die Patientenversorgung verbessern und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems ausbauen.