Etwa die Hälfte der Abiturienten in Deutschland ist kurzsichtig. Bei Kurzsichtigkeit (Myopie) wächst der Augapfel zu sehr in die Länge, das Bild wird dadurch vor der Netzhaut scharf abgebildet und man sieht in der Ferne unscharf. Kurzsichtigkeit ist also der Preis für eine gute Ausbildung: pro Jahr Ausbildung wird man im Mittel etwa eine Viertel-Dioptrie kurzsichtiger. Weltweit nimmt die Myopie zu, denn gute Ausbildung ist immer wichtiger. Was genau beim Lesen kurzsichtig macht, ist immer noch nicht klar erforscht.
Es liegt an der Signalverarbeitung
Andrea C. Aleman, Min Wang und Frank Schaeffel vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Tübingen haben nun einen unerwarteten Grund gefunden, warum Lesen kurzsichtig machen könnte. Es hat mit der Signalverarbeitung, besser gesagt, -verschaltung im Auge zu tun. Denn anders als eine Digitalkamera, die jeden Pixel ausliest, misst die Netzhaut hauptsächlich Unterschiede zwischen benachbarten „Pixeln“. Im Fall des Auges entsprechen die Photorezeptoren den Pixeln der Kamera. Doch anders als bei der Kamera sind die Photorezeptoren miteinander vernetzt – und vergleichen ihre Messwerte miteinander: Nur ein Unterschied in der Helligkeit wird an das Gehirn weitergeleitet. Die Sehinformation wird also massiv reduziert. Das ist aber notwendig , denn die Netzhaut verfügt zwar über rund 125 Millionen Sehzellen, eine hohe „Pixelauflösung“, aber der Sehnerv hat nur etwa über eine Million „Kabel“. So viel Information könnte er gar nicht weiterleiten.
Wie das genau funktioniert, ist fast schon wieder digital: Es gibt nämlich so genannte ON- und OFF-Zellen in der Netzhaut. Die ON-Zellen melden, wenn in ihrem Messbereich die Mitte heller und die Umgebung dunkler ist. Bei den OFF-Zellen ist es umgekehrt: Sie melden, wenn die Mitte ihres Messbereichs dunkler, und die Umgebung heller ist. Während unserer normalen Seherfahrung werden beide Typen ähnlich stark gereizt.
Beim Lesen feuern nur OFF-Zellen
Nicht so beim Lesen von Text, fanden die Forscher heraus. Mittels einer speziellen Software zeigten sie, dass beim Lesen zum Beispiel eines Buches, also von dunklem Text auf hellem Hintergrund, hauptsächlich die OFF-Zellen gereizt werden. Die ON-Zellen könnte man reizen, wenn man umgekehrt, hellen Text auf dunklem Hintergrund lesen würde. Von früheren Experimenten mit Hühnern und Mäusen war bereits bekannt, dass die Stimulation der ON-Zellen das Augenwachstum eher hemmen, Stimulation der OFF-Zellen es aber verstärken kann.
Spielt das vielleicht eine Rolle bei der Entwicklung von Kurzsichtigkeit?, fragten sich die Forscher und machten daher folgendes Experiment. Sie ließen die Probanden dunklen Text auf hellem Hintergrund lesen. Bereits nach 30 Minuten konnten sie mittels der optischen Kohärenztomographie (OCT) messen, dass in den Augen der Probanden die Schicht hinter der Netzhaut, die so genannte Aderhaut, dünner wurde. Ein dünne Aderhaut – das wussten sie aus früheren Forschungsergebnissen – weist auf ein Augenwachstum und damit eine sich entwickelnde Kurzsichtigkeit hin. Lasen die Probanden nun jedoch umgekehrt, hellen Text auf dunklem Hintergrund, trat dieser Effekt nicht auf, im Gegenteil: die Aderhaut wurde sogar dicker.
Kontrasteinstellungen am Bildschirm ändern
Um einer Kurzsichtigkeit entgegenzuwirken sollten wir also, so schlussfolgern die Forscher, einfach ab und zu den Textkontrast umkehren und hellen Text auf dunklem Hintergrund lesen. In Zeiten von viel PC-Arbeit, Smartphones und E-Book-Readern dürfte das kein Problem sein. Wann?, wie?, was?, also eine gute Strategie gegen diese Entwicklung von Kurzsichtigkeit, müssen die Forscher jedoch noch verifizieren – und planen dazu einen Studie mit Schulkindern. Wir können sicher aber schon jetzt von Zeit zu Zeit mal den Kontrast am Bildschirm umkehren. Wir wissen, wofür es gut sein kann. So schick Brillen auch aussehen…
www.nature.com/articles/s41598–018–28904-x