Wollten Sie immer schon wissen, was gerade in Ihrem Gehirn vor sich geht? Dann könnten Erkenntnisse aus aktuellen Projekten zur Gehirnforschung helfen: Was im Großen von Wissenschaftlern genutzt wird, um die elektrische Aktivität in gesunden Gehirnen zu simulieren und so besser zu verstehen, haben Forscher des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung zu einer App eingedampft: Mit einem kommerziellen Neuroheadset werden Messdaten erfasst, und der kleine Bildschirm eines Smartphones zeigt, was hinter Ihrer Stirn und unter dem Haupthaar gerade los ist.
„Wir haben diese App namens Brain Modes entwickelt, um der Öffentlichkeit ganz konkret zeigen und erklären zu können, was wir tun und warum wir das tun“, erläutert Prof. Petra Ritter. Sie leitet die Arbeitsgruppe Brain Modes an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie der Charité in Berlin. Was sie mit Brain Modes demonstrieren möchte, bewegt sich an der vordersten Front der Hirnforschung und folgt auf lange Sicht dem Ziel, neurologische Erkrankungen besser behandeln zu können.
Jahre der internationalen Forschung haben laut Ritter große Mengen an Daten ergeben, die viel Detailwissen dazu liefern, was im Gehirn passiert – wo ungefähr 80 Milliarden Nervenzellen arbeiten und in Netzwerken interagieren, die sich über das gesamte Gehirn erstrecken. Manche molekularen biochemischen Schritte sind schon gut verstanden, zum Teil reichen die Erkenntnisse sogar so weit, dass sich ableiten lässt, was eine bestimmte biochemische Veränderung in den Nervenzellen insgesamt bewirkt. „Wir haben aber Daten aus vielen weiteren Ebenen, Messungen aus einzelnen Nervensträngen oder Hirnregionen, Bildgebung zur elektrischen Aktivität im Gehirn oder entsprechende Messdaten aus EEGs“, sagt Ritter. Was noch fehle, sei das Zusammenführen all dieser Daten zu einem Gesamtkonzept, mit dessen Hilfe die Funktionsweise des Gehirns beschrieben und verstanden werden kann.
Modell soll Zusammenhänge
erkennbar machen
„Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt – aber auf gutem Weg, unter anderem mit Hilfe von Computersimulationen die Zusammenhänge besser zu verstehen“, erläutert die Wissenschaftlerin. Auf europäischer Ebene arbeiten rund 200 Institutionen im Human-Brain-Projekt zusammen, um das Geschehen zu ergründen – Ritter und ihre Gruppe sind, zusammen mit internationalen Partnern, Teil dieses Ansatzes. Ihr Bereich ist das Virtual Brain: Daten aus allen Ebenen der Gehirnforschung werden in höchst leistungsfähige Rechner eingespeist. Diese sollen mögliche Zusammenhänge analysieren und die Forscher zu Modellen bringen, die erklären , wieso und wie eine bestimmte Änderung auf einer Ebene zu bestimmten Konsequenzen auf einer anderen Ebene des Gehirns führt.
„Immer, wenn es uns gelingt, einen solchen Zusammenhang in der Simulation zu entdecken, haben wir die Möglichkeit, das aktuelle Modell durch Messungen an echten Gehirnen zu prüfen“, sagt Ritter. Wenn im Computer also Schritt A zu Effekt B führt und das Modell stimmt, sollte sich das auch so nachweisen lassen. Entsprechende Tests werden üblicherweise zunächst am Tiermodell durchgeführt. Selbst im positiven Fall heißt das aber noch nicht, dass das Modell genau das tut, was in einem tierischen oder menschlichen Gehirn passiert. Doch es weist den Weg zu Experimenten, mit denen man die jeweilige Annahme überprüfen kann. „Das hilft uns schon sehr viel weiter“, sagt Ritter, „denn wir müssen dann nicht mehr – wie bisher häufig – im Nebel stochern, sondern können gezielt Tests entwerfen.“
Dabei geht es beim Virtual Brain nicht darum, ein universelles künstliches Gehirn zur Verfügung zu haben oder das Gehirn eines einzelnen Individuums möglichst exakt im Rechner nachzubilden. „Verschiedene menschliche Gehirne haben sehr viele Gemeinsamkeiten – aber doch auch so viele Unterschiede, dass es nicht reicht, ein allgemeingültiges Simulationsmodell zu haben. Um zu sinnvollen Aussagen für eine medizinische Behandlung zu kommen, müssen wir vielmehr einen allgemeingültigen Rahmen haben, in den wir individuelle Daten einspielen.“
Bei Epilepsie zeigt Simulation Ansatzpunkte für die Therapie
Ein Beispiel dafür, was auf diesem Weg zu erreichen sein könnte, ist die Behandlung von Patienten, die an Epilepsie leiden. Knapp einem Drittel von ihnen kann mit Medikamenten nicht geholfen werden. Wenn sie einen Anfall erleben, beginnt dieser mit einer ungewöhnlichen Aktivitätssteigerung an einer Stelle im Gehirn, die sich netzartig ausbreitet. Mit einer Operation könnte die Ausbreitung der ungewöhnlichen Aktivitätssteigerung gebremst werden. Das „Ausbreitungsnetz“ ist laut Ritter aber im Detail bei jedem Individuum unterschiedlich, und bisher ließe sich nur sehr eingeschränkt feststellen, wie es aussieht. Mit dem Computermodell sei es möglich, Orte, an denen die Reizweiterleitung durch einen Eingriff unterbrochen werden könnte, zu vergleichen – und dann den Ort zu wählen, der bei genau diesem Menschen die besten Erfolge verspricht. „Zu diesem Ansatz läuft nach viel versprechenden präklinischen Ergebnissen nun eine klinische Studie in Frankreich.“
Weil Hirnforschung im Detail schnell sehr komplex wird, soll die aus der Simulationssoftware der Forscher abgeleitete Brain-Modes-App helfen, Interessenten am eigenen Leib vorzuführen, was aus Gehirndaten heute ablesbar ist. „Das Interesse ist in der Regel sehr groß“, berichtet Ritter, die ihre Arbeiten zum Beispiel im Rahmen der langen Nacht der Wissenschaften in Berlin demonstriert hat. Das Spektrum der emotionalen Reaktionen sei dabei breit. „Es gibt Leute, die unsere Arbeit unheimlich finden und befürchten, dass wir mit den Messwerten aus der App etwas über sie erfahren könnten, was geheim bleiben soll.“ Diese Gruppe würde die App nicht einmal ausprobieren. Andere seien fasziniert – und nach dem Ausprobieren manchmal enttäuscht, wenn sie erwartet hatten, dass schon viel mehr zu erkennen sein müsste als zum Beispiel eine Stimmung oder das Steuern eines einfachen Spiels. Kommerziell verfügbar ist die App übrigens bisher nicht.
Im Grunde geht es aber weder ums Spielen noch ums „Gedankenlesen“. Ritter betont: „Wir wollen vor allem eine Diskussion in Gang setzen – nicht allein unter Fachleuten, sondern auch unter Politikern und in der Öffentlichkeit – und zwar eine Diskussion darüber, wo wir mit dem Projekt hinwollen. Aber auch darüber, wie weit wir gehen, was erlaubt und was verboten sein soll.“
Auch wenn die bisherigen Ergebnisse Enthusiasten noch enttäuschen, bringe die Arbeit mit den leistungsfähigsten Rechnern schnelle Fortschritte. Prof. Ritter ist optimistisch: „Ich glaube, dass wir in fünf bis zehn Jahren für Patienten schon viel mehr tun können.“ Bisher gebe es aber so gut wie keine Vorgaben oder Gesetze, wofür erhobenen Daten verwendet werden dürfen. „Meine persönliche Grenze wäre dort, wo der Einsatz der neuen Technik nicht dem Wohl der Menschen dient.“ Wo genau die Grenze verlaufen soll, müsse in einer Diskussion in der Gesellschaft geklärt werden.
Brain-Modes-App auf der Messe
Über den Stand der Hirnforschung und der Simulation im Virtual Brain können Sie sich auf der Medtec Europe in Stuttgart Ihre eigene Meinung bilden: Setzen Sie ein Neuroheadset auf und schauen Sie Ihrem Gehirn beim Arbeiten oder Entspannen zu, steuern Sie mit Ihrer Gehirnaktivität ein einfaches Spiel – und diskutieren Sie mit den Fachleuten des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung über Einsatzmöglichkeiten dieser Technologie.
Das Ziel der Forschungsarbeiten, an denen auch die Wissenschaftler um Prof. Petra Ritter mitarbeiten, ist die medizinische Nutzung der Erkenntnisse. Aber auch kommerzielle Anwendungen sind denkbar. So interessiert sich Google für die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Gehirnaktivitäten und dem individuellen Musikgeschmack gibt – der sich, sobald man ihn ermitteln kann, für Empfehlungen nutzen ließe. Die Aufmerksamkeit aus dem militärischen Bereich gilt der Frage, ob sich Leistungszustände über die Hirnaktivität erkennen lassen und sich Möglichkeiten bieten, bei Erschöpfung gezielt zu stimulieren. „Es gibt Studien aus Deutschland, die dieser Annahme widersprechen“, sagt Prof. Ritter. „Aber in den USA wird an diesem Thema geforscht.“
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am Stand von medizin&technik:
Halle 10, Stand C54