Herr Heinz, was prägt die Arbeitskultur in der Medizintechnik – und wie verändert diese sich gerade?
In der Medizintechnik standen lange Zeit innovative Produkte im Vordergrund. Neue technische Möglichkeiten wurden in den Dienst des Kundennutzens gestellt. Der Markt fordert aber inzwischen vor allem bessere medizinische Leistungen bei niedrigeren Kosten – weil das entweder das hochentwickelte Gesundheitssystem erfordert oder weil die Teilhabe größerer Bevölkerungsgruppen möglich werden soll. Damit ändert sich die Rolle der Hersteller von Medizinprodukten: Statt nur Produkte zu liefern, werden wir zum Partner, mit dem der Kunde Fragen zum Gesamtsystem der Versorgung klären möchte. Um das leisten zu können, sind Veränderungen auf allen Ebenen des Unternehmens erforderlich.
Ist dieser Wandel etwas Einzigartiges?
Nein – ich denke, man kann das gut mit dem vergleichen, was vor etwa 15 Jahren in der IT-Branche passiert ist. Als Rechenleistung und Speicherkapazität selbstverständlich wurden, hatte derjenige Vorteile, der die Kunden gut beraten und ihnen Lösungen präsentieren konnte. In der Gesundheitsbranche stehen heute große Klinikketten im Wettbewerb und wollen die Qualität ihrer Leistungen verbessern und standardisieren. Dafür liefern wir nicht nur Geräte, sondern auch Know-how.
Was können Gerätehersteller konkret zur Verbesserung beitragen?
Für Kliniken zählt nicht mehr allein das Können eines einzelnen hochqualifizierten Mediziners. Um an jedem Standort eine sehr gute Versorgung bieten zu können, müssen Geräte in der Lage sein, zu einer Standardisierung auf hohem Niveau beizutragen. Darüber hinaus können wir eine Klinikkette schon bei der Entwicklung einer Gesamtlösung unterstützen. Ein Beispiel dafür sind die Patientendaten: Der klinische Workflow wird sich mehr am Menschen orientieren. Damit das funktioniert, müssen die Daten des Patienten beim Hausarzt ebenso verfügbar sein wie in allen Abteilungen der Klinik bis hin zur Reha. Diese Zusammenhänge gehen über Produkte weit hinaus.
Wie reagiert der Arbeitgeber Siemens Healthineers auf die Anforderungen?
Wir haben definiert, wo wir in dem breiten Feld des Gesundheitsmarktes spielen wollen – vielleicht auch mehr als bisher. Unsere Geräte für die In-Vitro-Diagnostik und für die Bildgebung liefern bereits eine Vielzahl von Daten. In Zeiten der Digitalisierung geht es darum, aus diesen Daten therapierelevante Informationen zu generieren. Am besten solche, die die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Therapie bewerten. Ein weiterer Punkt für uns sind minimal-invasive Chirurgie und Robotik. Das dritte Feld ist die molekulare Diagnostik, mit der sich Krankheiten früh erkennen lassen und ebenfalls geeignete Therapien ausgewählt werden können. Die Kompetenzen für diese Arbeitsfelder wollen wir bei Führungskräften und Mitarbeitern entwickeln.
Was erwarten Sie vor diesem Hintergrund von den Mitarbeitern?
Um tun zu können, was der Markt und unsere Kunden von uns erwarten, werden wir viel stärker projektorientiert arbeiten. Ein Kunde braucht jeweils viele unserer Kompetenzen. Die Fachleute müssen daher zusammenarbeiten, sich austauschen, im Team versuchen, auch höchst komplexe Probleme zu lösen. Da spielen medizinische, technische und IT-spezifische, aber auch kaufmännische und rechtliche Fragen hinein – und zwar von Anfang an. Die Mitarbeiter brauchen dafür technische Grundkompetenzen, aber auch Neugier, die Bereitschaft zu lernen, sich immer auf den neuesten Stand weiterzuentwickeln. Und sie müssen willens und in der Lage sein, in ihrem Projekt Entscheidungen zu treffen und zu verantworten.
Neugier und Eigenverantwortung – wollen das auch die Mitarbeiter?
Wir haben ein Forschungsinstitut beauftragt, das vor zwei Jahren 30 000 unserer Mitarbeiter und 5000 potenzielle Mitarbeiter aus den Bereichen Klinik, Beratung und IT zu ihren Erwartungen an den Arbeitgeber befragt hat. Dabei kam generationen- aber auch regionenübergreifend heraus, dass die Menschen heute eine sinnvolle Arbeit tun wollen, bei der sie selbst Entscheidungen treffen. Gewünscht wurde weiterhin ein Umfeld, in dem man sich weiterentwickeln kann und ein engmaschigeres Feedback zu den eigenen Leistungen bekommt. Ich denke, das passt gut zu dem, was wir in Zukunft bei Siemens Healthineers tun wollen.
Wie wird der Wandel umgesetzt?
Die Studie lief vor zwei Jahren. Wir haben danach Konzepte entwickelt, wie wir arbeiten und führen wollen, und diese in Pilotprojekten getestet – das Feedback war positiv, und so setzen wir die Konzepte jetzt um. Dazu gehört unter anderem, dass wir etwa 6700 Führungskräfte schulen. Ich erwarte natürlich nicht, dass sich eine Arbeitskultur von heute auf morgen ändern lässt – aber wir haben damit begonnen.
Ist der Fachkräftemangel für Siemens Healthineers spürbar?
Natürlich. Siemens Healthineers ist als großer und innovativer Player in der Branche bekannt und gilt gerade unter Mitarbeitern aus dem technischen Bereich als attraktiver Arbeitgeber. Dennoch gibt es spezifische Profile, für die es manchmal schwierig wird, geeignete Bewerber zu finden. Besonders ausgeprägt ist das bei applikationsspezifischen Aufgaben, wenn es darum geht, den Mediziner im optimalen Umgang mit einem Gerät zu beraten. Da es hier kaum Bewerber auf dem Markt gibt, haben wir begonnen, selbst auszubilden. Und beim Thema Digitalisierung setzt der Mangel an Fachkräften gerade ein. Hier versuchen wir, über Weiterbildungen und Kooperationen mit Hochschulen auf der ganzen Welt an Input und an Experten zu kommen.
Was erwarten Sie speziell von Nachwuchskräften?
Vor allem Neugier. Die Bereitschaft, immer weiter lernen zu wollen, spielt für uns eine ganz große Rolle. Aber auch die Leidenschaft dafür, in der Branche Medizintechnik tätig zu sein, die mit ihren Entwicklungen einen gesellschaftlichen Nutzen schafft, hat hohe Priorität. Und wir brauchen Mitarbeiter, die bereit sind, Verantwortung zu tragen – um so mehr, als wir in einer Industrie tätig sind, die sich gerade in Transformation befindet.
Wie gut sind Absolventen der Medizintechnik auf die Aufgaben bei Siemens Healthineers vorbereitet?
Grundsätzlich ist das Spektrum an Berufsbildern bei uns sehr breit. Unsere Mitarbeiter haben Physik studiert oder Ingenieurwissenschaften, Medizin oder BWL, vielleicht Informationstechnik oder Biologie und Chemie. Was gefragt ist, hängt natürlich von der jeweiligen Aufgabe ab. Was die Medizintechnik-Studiengänge für uns interessant macht, ist die Kombination der Wissensgebiete Technik und Medizin, die im Arbeitsalltag häufig eine Rolle spielt.
Was macht es aus Ihrer persönlichen Sicht so reizvoll, in der Medizintechnik-Branche tätig zu sein?
Dass wir mit unserer Arbeit einen offensichtlichen gesellschaftlichen Beitrag leisten, finde ich extrem motivierend. Da sich in der Branche gerade viel verändert, gibt es Möglichkeiten, Dinge neu zu gestalten. Und wir sind darauf angewiesen, über die reine Technik hinaus im Team Lösungen zu schaffen. Das zusammen macht für mich den Reiz der Arbeit in dieser Branche aus.
Weitere Informationen
Im Oktober hat Siemens Healthineers die neue Zentrale eingeweiht. In deren Architektur spiegelt sich die neue Arbeitskultur wider: Offenheit und flache Hierarchien sollen dadurch betont werden.