Gerade einmal 3 % des Kunststoff-Verbrauchs in Deutschland entfallen auf Produkte für die Medizintechnik. Doch auch wenn diese Zahl von Plastics Europe, dem Verband der Kunststofferzeuger, klein ist, heißt dies keineswegs, dass das Innovationstempo bei Werkstoffen für diese Branche gering ist. „So etwas wie ‚medizinische Kunststoffe’ gibt es allerdings nicht“, stellt Mike Freudenstein klar, Director Marketing Healthcare beim Distributor und Compoundeur Albis Plastic. „Ein Kunststoff wird auch im Medizin- oder Pharmabereich in erster Linie auf Grund seiner technischen Eigenschaften ausgesucht.“
„Im Prinzip können Medizinproduktehersteller jeden polymeren Werkstoff verwenden, solange dieser die Anforderungen nationaler und internationaler Regulierungsvorschriften erfüllt“, bestätigt Dr. Katharina Neumann, Leiterin der Abteilung Materialchemie beim Kunststoffverarbeiter Raumedic. So haben sich Kunststoffverarbeiter und OEMs bislang auf die EU-Verordnung 2017/745 (MDR), die ISO 10993 oder USP Class VI in Bezug auf Biokompatibilität verlassen. „Problematisch wird es allerdings dann, wenn von sogenannten Medical-Grade-Qualitäten gesprochen wird, da es für den Begriff keine eindeutige, verbindliche Definition gibt.“
Werkstoffhersteller, die aktiv die Medizinbranche ansprechen, haben daher für sich Strategien entwickelt, um bestimmte Anwendungen zuzulassen und andere auszuschließen. „Die Bandbreite der ‚Regeln’, die dabei zur Anwendung kommen, ist groß“, sagt Siobhan Bastiansen, Market Manager Medical Plastics beim Hamburger Distributor Velox. „Häufig beruhen Einschränkungen weniger auf der erwarteten Leistungsfähigkeit des Polymers in der Zielanwendung als auf der Unternehmenskultur und Entscheidungen der Rechtsabteilung.“
Einige typische Einschränkungen lauten: Der Werkstoff ist nicht für den medizinischen Einsatz zugelassen, erlaubt nur Hautkontakt, erlaubt keinen direkten Kontakt mit Flüssigkeiten, die in den Blutkreislauf gelangen, darf maximal 24 Stunden oder darf maximal 29 Tage innerhalb des Körpers verbleiben. „Der Kunde – ob Verarbeiter oder OEM – steht in Sachen Kunststoffe für den Healthcare-Bereich vor einem nahezu undurchdringbaren Dickicht. Unsicherheit und Zweifel bei der Materialauswahl sind häufig die Folge“, stellt Freudenstein fest.
Richtlinie Medical Grade Plastics schafft Klarheit
Zumindest in Deutschland wird nun Klarheit über die Definition von Medical Grade Plastics geschaffen – und zwar unter dem Dach des VDI, der dafür vor zwei Jahren einen Richtlinienausschuss gebildet hat, an dem sich unter anderem auch Raumedic und Albis beteiligt haben. Die Richtlinie VDI 2017 „Medical Grade Plastics“ soll bis Ende des Jahres in der finalen Fassung vorliegen. „Eine eindeutige Begriffsdefinition lässt für die Zukunft eine verbesserte Auswahl von Werkstoffen zur Herstellung von Medizinprodukten erwarten. Das bringt vor allem für die Produktentwicklung große Vorteile mit sich“, freut sich Raumedic-Expertin Neuman.
Nach Einschätzung von Freudenstein wird mit der Richtlinie nicht nur definiert, was Medical Grad Plastics sind, sondern auch, „was man folgerichtig bei der Auswahl eines solchen Materials an Serviceeigenschaften erwarten kann“. Welche Voraussetzungen müssen Medical-Grade-Kunststoffe demnach künftig erfüllen? Das wichtigste Schlagwort ist für Neuman Konstanz, „und zwar im Hinblick auf Rezeptur, Komponenten und Herstellprozess. Hier ist auch der Hersteller selbst gefordert, der beispielsweise eine gleichbleibende Rezeptur nachweisen können muss.“ Deshalb seien die Kunststoff-Hersteller angehalten, im Rahmen eines zertifizierten Qualitätsmanagementsystems auch ein Änderungsmanagement zu etablieren. „Das hat zur Folge, dass der Kunde informiert werden muss, wenn durch eine Rezepturänderung die Produkteigenschaften beeinflusst werden.“
Die Krux: Produktänderungen oder gar -streichungen sind im Kunststoffbereich genauso üblich wie bei anderen Materialen oder Artikeln. Doch Kunststoffverarbeiter und OEMs müssen sich auf langfristige Lieferfähigkeit und Planbarkeit verlassen können. „Ist erst ein Material sorgfältig ausgewählt und getestet, das all die komplexen Regularien für medizinische Kunststoffe und die Anforderungen für die gewünschte Anwendung erfüllt, können sich plötzliche Lieferausfälle oder unangekündigte Produktionsänderungen, bei industriellen Polymeren an der Tagesordnung, als fatal erweisen“, so Velox-Managerin Bastiansen.
Zu den thermoplastischen Werkstoffen, die speziell für die Medizintechnik-Branche entwickelt wurde, gehört unter anderem das Polyarylamid (Para) Ixef von Solvay, das seit dem Frühjahr auch von Velox vertrieben wird. Der Werkstoff ist prädestiniert für komplexe Formteile, die sowohl eine hohe Festigkeit als auch eine glatte Oberfläche erfordern. Selbst mit einem Glasfaseranteil von 50 % erzeugt er hochglänzende, glasfreie Oberflächen und kann mit seiner hohen Fließfähigkeit Kavitäten von gerade einmal 0,5 mm ausfüllen. „Die mechanischen Eigenschaften dieses Produkts machen es zum idealen Metallersatz, etwa bei Einweginstrumenten“, sagt Anja Floßbach, Product Manager für Ixef Para bei Velox. So fertigt das junge US-Medizintechnikunternehmen Reign Medical damit ein von der US-Aufsichtsbehörde FDA zugelassenes Einweg-System zum Klammern von Hand- und Fußknochen bei orthopädischen Eingriffen. Vor allem die Steifigkeit des Werkstoffs hat das Unternehmen überzeugt: „Damit halten selbst die kleineren Teile des Einsetzinstruments dem Druck der Klammern sowie den Verwindungs-, Stopf- und Axiallasten während der Fixation zuverlässig stand“, so Daniel Lanois, Entwicklungsingenieur für das Clench Staple System bei Reign Medical.
Große Nachfrage nach Flüssig- und Festsilikon
Einen Boom verzeichnet die Branche seit einiger Zeit beim Einsatz von Elastomeren. Der weltweite Markt für medizinische Silikonprodukte wird nach Erhebungen des US-Marktforschungsunternehmens Grand View Research bis 2025 voraussichtlich 596,8 Mio. US-$ erreichen und jährlich um durchschnittlich 6,6 % wachsen. Die Nachfrage nach dem Werkstoff steigt aufgrund seiner inhärenten thermischen und chemischen Stabilität, Hydrophobie, Beständigkeit gegen Sterilisationsverfahren und geringe Oberflächenspannung.
Insbesondere Flüssigsilikon (LSR) steht derzeit hoch im Kurs: Viele LSR-Materialien sind biokompatibel, einige wurden speziell für Implantate zugelassen. Produkte aus LSR sind temperaturstabil (in Hitze oder Kälte) und können harten Reinigungs- und Desinfektionschemikalien standhalten.
Der große Vorteil beim Spritzgießen mit LSR ist die Geschwindigkeit, mit der das Material aushärtet. Nach dem Aushärten ist das Material sehr flexibel, sodass sogar Geometrien mit Hinterschneidungen möglich sind, die ansonsten in der Kavität eingeschlossen wären. Ein Entformen ist nicht notwendig, um Teile aus den Kavitäten herauszuziehen. LSR hat zudem eine niedrige Viskosität, sodass dünnwandige Bauteile bei der Fertigung keine Probleme verursachen. Die ist aber gleichzeitig eine Herausforderung für Werkzeugbau und Produktion. „Die Fertigung von Werkzeugen für LSR-Spritzgießteile ist besonders anspruchsvoll. Da LSR eine Konsistenz von Honig bis Wasser besitzt, dürfen in den Werkzeugen nur sehr geringe Abweichungen von nicht mehr als bis 5 µm auftreten, um Leckagen zu vermeiden“, warnt Cordula Wieland aus dem Produkt- und Technologiemanagement beim Spritzgießmaschinenbauer Krauss Maffei. „Andererseits ist es durch die niedrige Viskosität möglich, die Oberflächenstruktur am Bauteil sehr exakt abzubilden. Jedoch ist das Material häufig zu dünnflüssig, um die enthaltene Luft aus dem Werkzeug zu verdrängen, weshalb oft ein Vakuum am Werkzeug angelegt wird.“
LSR: Wie Schwierigkeiten beim Verarbeiten überwunden werden
Auf Seite der Spritzgießmaschine kommt bei der LSR-Verarbeitung der Plastifiziereinheit eine große Bedeutung zu, da das Material nicht wie bei thermoplastischen Werkstoffen in der Kavität schwindet und mit Nachdruck präzise gefüllt werden kann, sondern sich durch die Vernetzungsreaktion in der Kavität ausdehnt. „Um jeden Schuss gleich zu füllen, muss daher sehr exakt eingespritzt werden“, so Wieland. Nach dem Spritzgießen steht in der Regel ein weiterer aufwendiger Verarbeitungsschritt an: In einem Temperofen wird mittels Hitze sichergestellt, dass die Vernetzungsreaktion vollständig abgeschlossen ist und der Artikel dauerhaft über die gewünschten physikalischen und chemischen Eigenschaften verfügt. In der Vergangenheit erhielten daher nur getemperte Medizinprodukte eine Klassifizierung der Aufsichtsbehörden.
Anwenderfreundlicher und effizienter in der Fertigung sind neue temperfreie LSR-Werkstoffe. Wacker Chemie hat dafür Elastosil LR 5040 im Programm. Diese Silikone besitzen nach der Vernetzung auch ohne thermische Nachbehandlung eine sehr gute Mechanik und enthalten nur wenige flüchtige Substanzen. Dadurch erfüllen sie die strengen regulatorischen Vorgaben für Silikonartikel, die bei sensitiven Anwendungen im Medizintechnikbereich gelten. Sie dürfen in Europa einen Flüchtigengehalt von höchstens 0,5 Gewichtsprozent aufweisen. Typische Anwendungsbeispiele für den neuen Werkstoff sind Trink- und Beruhigungssauger, Anti-Kolik-Ventile, Flaschenverschlüsse und Beatmungsmasken.
Da allerdings die Preise für LSR seit einiger Zeit deutlich gestiegen sind, suchen immer mehr Verarbeiter nach alternativen flexiblen Werkstoffen. So rückt Festsilikon (HTV) immer mehr in den Fokus. HTV ist vor allem in China beliebt für Gesundheitsprodukte wie Babysauger und Stillhütchen, die in Europa vorwiegend aus LSR hergestellt werden. „Gegenüber der Flüssigvariante verfügt HTV über eine noch höhere mechanische Stabilität und Produkte können mit geringerer Wandstärke ausgeführt werden“, sagt Wieland. Bei der HTV-Verarbeitung kommt es zunächst darauf an, das zähe Material ohne Lufteinschlüsse zur Plastifiziereinheit zu transportieren. Diese Aufgabe übernehmen Zuführeinheiten.
Qualitätsschwankungen stärker als bei Thermoplasten
Die Krauss-Maffei-Expertin weist auch darauf hin, dass die Qualität eines Silikon-Artikels durch das reaktive Verfahren unmittelbar von den Vorprodukten abhängt – und hier zeigen sich stärkere Schwankungen als bei den meisten Thermoplasten. So kann das Öffnen eines neuen LSR-Fasses Einfluss auf das Bauteilgewicht haben. Und bei den HTVs ist es sogar üblich, dass Verarbeiter batchweise eigene Mischungen anfertigen.
Alternativen zu LSR sind zudem thermoplastische Elastomere wie zum Beispiel die Thermolast M genannten Compounds von Kraiburg TPE, die für Anwendungen bis hin zum direkten Blut- und Medikamentenkontakt zugelassen sind. Der Hersteller gehört ebenfalls zu den Mitgliedern des Richtlinienausschusses für VDI 2017 „Medical Grade Plastics“. Das heißt, diese Werkstoffe besitzen alle Zertifikate der gängigen Biokompatibilitätszulassungen. Kraiburg TPE verpflichtet sich zur konstanten Einhaltung der beschriebenen Rezeptur und Fertigung. Eventuell notwendige Änderungen werden nach einem festgelegten Verfahren, dem Change Control Prozess, angekündigt und kontrolliert umgesetzt. Das Unternehmen gewährleistet nach Ankündigung einer Änderung eine mindestens 24-monatige Liefersicherheit und lässt sich seinerseits die Reinheit der verwendeten Rohstoffe von seinen Zulieferern garantieren. Aptar Pharma nutzt einen gemeinsam mit Kraiburg TPE neu entwickelten Thermolast M Werkstoff für den sogenannten Ophthalmic Squezze Dispenser, das bisher einzige von der FDA für konservierungsmittelfreie, flüssige Arzneimittel zugelassene Mehrfach-Dosiersystem. Die Konstruktion enthält keinerlei Metallteile im Medikamentenfluss und eignet sich daher auch für sehr empfindliche Rezepturen.
Eine neue Entwicklung sind auch Kunststoffe, die im Zwei-Komponenten-Spritzguss ohne Haftvermittler verarbeitet werden können. So hat Evonik auf der Deutschen Kautschuk-Tagung DKT im Juni das Thermoplast Polyamid 612 Vestamid DX9325 für die Verbindung mit dem Elastomer EPDM gezeigt. Als Beispiel war ein rotationssymmetrisches Kunststoff-Gummi-Verbundteil zu sehen.
Weitere Informationen
Zur Richtlinie VDI 2017 „Medical Grade Plastics“:
Zum Verarbeiter Raumedic:
Zum Maschinenbauer Krauss Maffei:
Zum Distributor Velox:
Bild: VDI
Richtlinie VDI 2017 „Medical Grade Plastics“
Die VDI-Gesellschaft Materials Engineering hat im April dieses Jahres die Richtlinie VDI 2017 „Medical Grade Plastics“ als Entwurf, dem sogenannten Gründruck, herausgegeben. Ein Ausschuss unter dem Vorsitz von Prof. Thomas Seul und seinem Stellvertreter Prof. Stefan Roth haben an der Erstellung dieser VDI-Richtlinie mitgewirkt; darunter beispielsweise Vertreter von Materialherstellern, Produktherstellern der Medizintechnik oder Benannten Stellen.
Die Richtlinie verfolgt das Ziel, die Anforderungen an den Werkstoff Kunststoff für den Einsatz in Medizinprodukten zu definieren und damit einen Standard zu erarbeiten, der von beiden Seiten gleichermaßen – also von Rohstoffproduzenten und Herstellern von Medizinprodukten – als Leitfaden genutzt werden kann. Durch die Richtlinie werden die Bereiche Entwicklung, Logistik, Beschaffung und Einkauf erfasst.
Der Fokus der neuen VDI-Richtlinie „Medical Grade Plastics“ liegt vor allem auf den Themen
- Rezepturkonstanz
- Liefersicherheit
- Änderungsmanagement und
- einer Qualitätsverbesserung als Schlüsseldokument für die Vereinbarungen zwischen Kunde und Lieferant.
Der weitere Zeitplan sieht so aus: Ende September endet die Einspruchsfrist. Die Veröffentlichung der finalen Fassung – also der Weißdruck – ist für Ende 2018 geplant. Alle fünf Jahre soll es dann eine regelmäßige Überprüfung geben.
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