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Industrie 5.0: Produktiver und gesünder mit Daten der Mitarbeiter

Industrie 5.0
Industrie 5.0: Produktiver und gesünder mit Daten der Mitarbeiter

Industrie 5.0: Produktiver und gesünder mit Daten der Mitarbeiter
Prof. Verena Nitsch leitet das Institut für Arbeitswissenschaften IAW an der RWTH Aachen und ist mit ihrem Team am Exzellenzcluster Internet of Production IoP ­beteiligt (Bild: RWTH Aachen)
Gesund und sicher, zufrieden und produktiv sollen künftig Mitarbeiter an die Arbeit gehen. Dies ist eine Vision, die mit Industrie 5.0 und einem intensiveren Blick auf die Menschen in der Produktion erreicht werden soll. Laut Arbeitswissenschaftlerin Prof. Verena Nitsch funktioniert das nur, wenn erhobene Daten sinnvoll genutzt werden – und nicht bei Führungskräften landen.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Frau Professor Nitsch, welche Rolle hat der Mitarbeiter heute und künftig in der automatisierten Produktion?

Lassen Sie uns als erstes festhalten: Es gibt noch Menschen in der Produktion. Angesichts mancher Videos zur Automatisierung könnte man ja meinen, dass inzwischen quasi alles von Maschinen erledigt wird. Aber in der Montage zum Beispiel stimmt das so nicht, dort wird immer noch viel manuell erledigt. Und auch wenn es darum geht, die Verbindung zwischen zwei automatisierten Prozessen herzustellen, sind Menschen eingebunden. Das wird sich in Zukunft sicher etwas anders darstellen, es werden mehr Aufgaben automatisierbar sein. Die Technik macht große Fortschritte, was Sensoren, Bilderkennung und KI angeht. Die Menschen bekommen dann aber ganz andere Aufgaben. Um diese zu erledigen, sind neue Kompetenzen erforderlich. Menschen, die heute diese Technologien entwickeln, tragen die Verantwortung dafür, dass das, was kommt, eine besonders hohe Gebrauchstauglichkeit hat. Da sehe ich auf jeden Fall noch Handlungsbedarf.

Industrie 4.0 soll die Produktion effizienter, günstiger und mit Blick auf die Qualität besser machen. Welchen Beitrag kann der Mensch dazu leisten?

Wir müssen über das Konzept von Industrie 4.0 hinausdenken, denn es hat die Maschinen und die Prozessautomatisierung in den Vordergrund gestellt. Der inzwischen eingeführte Begriff Industrie 5.0 soll hingegen betonen, dass wir mehr auf den Menschen schauen müssen. Die zukünftigen Mitarbeiter in der Produktion werden vermehrt Datenanzeigen verstehen müssen, Werte und Ausgaben interpretieren. Eine Maschine hat ja ihre Grenzen bei der Auswertung, kann einen Fehler mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten melden – und darauf müssen Menschen angemessen reagieren. Sie werden eventuell den Verdacht auf einen Fehler überprüfen müssen und den Prozess auch weiterlaufen lassen, wenn sich der Verdacht nicht bestätigt. Es wird so zwar weniger manuell gearbeitet, aber wir brauchen dann dennoch eine Form von Ergonomie. Wir sprechen von kognitiver Ergonomie, zu der wir kommen müssen.

Roboter lernen, sich bei der Montage nach dem Mitarbeiter zu richten

Wie kommt die Industrie zu mehr kognitiver Ergonomie?

Die Verantwortung dafür liegt, wie gesagt, bei den heutigen Entwicklern, die sich bislang vorwiegend mit Prozessen und Bauteilen befassen. Das wird sich ändern müssen. Für Unternehmen, die neue Technologien auswählen, ist das ein wirklich wichtiger Punkt. Je weniger Aufwand Entwickler für die Gebrauchstauglichkeit betreiben, desto mehr Zeit und Geld steckt ein Unternehmen, dass die Technologie anwenden will, in Schulungen und Weiterbildungen für seine Mitarbeiter.

Daten von Maschinen werden heute erfasst. Sie möchten Daten von Mitarbeitern erfassen. Was ist das Ziel?

Wenn wir über Industrie 5.0 sprechen und die Rolle des Menschen in der Produktion, müssen wir mehrere Ziele parallel erreichen. Natürlich muss die Produktivität stimmen. Aber wir müssen auch versuchen, zu Systemen zu kommen, die resilient gegen Störungen sind, wie sie etwa eine Pandemie oder der demographische Wandel bringt, und die nachhaltig sind. Mit Blick auf die Mitarbeiter geht es darum, diese in einer Arbeitsumgebung zu beschäftigen, in der sie nicht nur produktiv, sondern auch sicher, gesund und zufrieden sind. Um das zu erreichen, sind zunächst Daten erforderlich, die uns zeigen, unter welchen Bedingungen Sicherheit, Gesundheit und Zufriedenheit zu kurz kommen.

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Der Automatisierung in der Produktion gehört die Zukunft. Die Weichen dafür werden jetzt gestellt – und weil mit Industrie 5.0 der Mensch in den Fokus gerückt werden soll, ist die intuitive Gebrauchstauglichkeit der neuen Technologien ein wichtiges Thema
(Bild: FotoArtist/stock.adobe.com)

Welche Art Daten wäre dafür sinnvoll?

Wenn ein Mensch in der Produktion zum Beispiel Prüfaufgaben erledigt, muss er aufmerksam sein. Dass die Aufmerksamkeit nachlässt, könnte sich über Eye-Tracking-Systeme in Kombination mit der Messung der Herzratenvariabilität zeigen. Zu solchen Fragen laufen derzeit eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten.

Was ließe sich mit den Daten und einer Auswertung dann erreichen?

Wir könnten einem Mitarbeiter Impulse geben, wenn ein entsprechendes System ihm signalisiert: Du brauchst eine Pause. Es hat sich gezeigt, dass Menschen ihre eigene aktuelle Verfassung meist nicht sehr gut einschätzen. Das System könnte sie unterstützen, damit sie lernen, auf ihren körperlichen Zustand richtig zu reagieren. Oder sie auffordern, vom Bildschirm öfter aufzustehen und sich zu bewegen.

Wer würde solche Daten sehen?

Meiner Meinung nach darf nur die betroffene Person selbst ihre eigenen Informationen sehen. Sobald eine Führungskraft oder ein Coach Einblick in die Daten erhält, bewegen wir uns in einer elektronischen Leistungsüberwachung. Das ist eine kritische Angelegenheit. In den USA zum Beispiel gibt es solche Ansätze in Form von Bossware, also Software, die etwa die Clickhäufigkeit von Mitarbeitern im Homeoffice überwachen soll oder die Zeit, die sie für das Lesen von E-Mails brauchen. Abgesehen davon, dass es schon einen eigenen Geschäftszweig technischer Lösungen gibt, die helfen, diese Überwachung zu unterlaufen, habe ich noch von keiner Studie gehört, die belegt, dass diese Art von Überwachung die Produktivität gesteigert hätte. Wir wollen aber etwas anderes erreichen als Überwachung. Wir wollen die Gesundheit und Zufriedenheit der Mitarbeiter fördern – was sich dann positiv auf die Produktivität auswirkt. So oder so ist die Erfassung von Mitarbeiterdaten in Deutschland natürlich mitbestimmungspflichtig.

Wie lassen sich die Daten erfassen?

Wir suchen nach einfachen und günstigen Systemen, denken an Smartwatches oder Erweiterungen zu Smartphones. Geräte, die sehr viele Menschen haben und kennen, so dass die Hürde für die Nutzung gering ist. Und natürlich zählt auch der Aspekt, dass ein Unternehmen, dass solche Ideen umsetzt, keine zu hohen Investitionen einplanen muss. Die Datenerhebung muss gerade so gut sein, dass wir gesundheitsfördernde Maßnahmen anstoßen können. Wir reden da also weder von Medizinprodukten noch von eigens entwickelten teuren Geräten. Und: Die Messgeräte dürfen die Mitarbeiter weder stören noch beeinträchtigen. Niemand will zum Beispiel dauerhaft einen Brustgurt mit Messsystemen bei der Arbeit tragen.

Was, wenn potenziell gesundheitsgefährdende Messwerte auftauchen?

Diese Frage müssen wir natürlich stellen und beantworten. Um gemessene Daten im Hinblick auf die Gesundheit zu bewerten, müsste das System über Vorerkrankungen informiert sein. Ginge man diesen Weg, wären auch Empfehlungen für einen Arztbesuch denkbar. Aber das würde bedeuten, dass Menschen gläsern gemacht würden. Wie weit man da gehen will, muss man diskutieren.

Wie schützt man die Privatsphäre?

Wir haben bisher davon gesprochen, dass einzelne Mitarbeiter zu ihrer Situation Rückmeldungen erhalten – die auch nur sie selbst zu sehen bekommen. Wenn hingegen geplant ist, eine ganze Produktionseinheit ergonomischer oder produktiver zu gestalten, kann es sinnvoll sein, anders vorzugehen und die Daten vieler Mitarbeiter zu erheben und diese anonymisiert zusammenzuführen. Dabei muss selbstverständlich gewährleistet sein, dass Einzeldaten nicht zu einzelnen Personen führen können.

Und wenn Mitarbeiter der Datenerfassung nicht zustimmen?

Auch diese Option muss es geben, und ich denke, das wäre in Deutschland auch umsetzbar. Allerdings hoffe ich, dass wir Unternehmen, Mitarbeiter und Gewerkschaften mit Argumenten davon überzeugen können, dass die angedachten Systeme die Gesundheit fördern.

Wäre das in Deutschland denkbar?

Deutschland legt die EU-weit geltenden Vorgaben aus der DSGVO eher streng aus. Daraus ergeben sich zuweilen Hürden und Herausforderungen, wenn man bestimmte Technologien nutzen möchte. Ich sehe das aber auch als Innovationsanreiz: zu zeigen, dass es Lösungen gibt, die Nutzen bringen und DSGVO-konform sind.

Welchen zeitlichen Horizont sehen Sie für das Erfassen von Mitarbeiterdaten?

Technisch machen wir Riesenfortschritte, da erwarte ich weitere tolle Entwicklungen in den nächsten fünf Jahren. Auch Consumer-Produkte können da schon viel. Was den gesellschaftlichen Diskurs angeht, ist die Entwicklung schwer vorhersehbar, was in dieser Richtung gewünscht und akzeptiert wird. Da müssen wir die Vorteile der Technologie sicher deutlich machen.


Über das Exzellenzcluster IoP

Im Aachener Exzellenzcluster Internet of Production (IoP) arbeiten Fachleute an zukunftsfähigen digitalen Lösungen für die Fertigung. Big Data beispielsweise sind die Basis für einen digitalen Schatten, der mit möglichst wenig Daten relevante Informationen liefert, um die Produktion zu verbessern. Bisher werden an Maschinen schon große Mengen an Daten erhoben. Der Mensch bleibt in der Produktion aber auch in Zukunft unverzichtbar – über dessen Situation und genauen Einfluss auf die Fertigung ist jedoch noch wenig zu bekannt. Ohne Daten zu den Mitarbeitern, so sagen die Forscher, geht es aber nicht recht vorwärts. Das langfristige Gesamtziel der IoP-Forschungsarbeiten, an denen zahlreiche Institute beteiligt sind: produktive, resiliente und nachhaltige Produktionssysteme.

www.iop.rwth-aachen.de/go/id/gpfz/

Internet of Production: Digitalisierung, Mitarbeiterdaten inklusive

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