Herr Filerman, was macht für Unternehmen der Medizintechnik-Industrie eine erfolgreiche Internationalisierung-Strategie aus?
Vor allem ein detailliertes Verständnis der Zielgruppen, Rahmenfaktoren und wichtigsten Akteure. Das beginnt mit der Struktur und Finanzierung des Gesundheitswesens sowie den regulatorischen Vorgaben und Genehmigungsprozessen, und endet nicht bei den Markteintrittshürden im jeweiligen klinischen Schwerpunktbereich. Auch muss das Unternehmen festlegen, wie es sich vor Ort aufstellen will – zum Beispiel im Hinblick auf Partnerschaften, Logistik und Vertriebsmodelle.
Wie können Start-ups die Herausforderungen meistern, die Wachstum und Internationalisierung mit sich bringen?
Ich empfehle allen, so früh wie möglich ein Mindset für die spätere Internationalisierung zu entwickeln. Auch ist es hilfreich, wenn Start-ups eine solide Grundlage im Heimatmarkt haben, bevor sie den Schritt ins Ausland wagen. Wer zuhause Schwierigkeiten hat, schafft es vermutlich auch im Ausland nicht. Der Eintritt in einen neuen Markt kann nicht nur viel Geld kosten, er erfordert auch die volle Aufmerksamkeit der Unternehmen. Was es zudem braucht, sind Flexibilität, Entschlossenheit und Ausdauer.
Welche Märkte sind für Medtech-Start-ups besonders attraktiv?
Ich würde sagen: Singapur, Indien, China, Südkorea, Japan und natürlich die Vereinigten Staaten. Diese Länder setzen nicht nur Schwerpunkte in der Gesundheitstechnologie und in den Biowissenschaften, sondern sind alle offen für Innovationen – insbesondere aus Deutschland. Denn Deutschland hat weltweit einen sehr guten Ruf in puncto Wissenschaft und Medizintechnik. Für Start-ups kann es vorteilhaft sein, mit der Internationalisierung in einem kleineren, aufgeschlossenen Markt wie Singapur zu beginnen: Das Medizintechnik-Start-up ApoQlar aus Hamburg beispielsweise startete dort seine globale Expansion und eröffnete erst später eine Niederlassung in den USA. Heute ist das Unternehmen, das 3D-Mixed-Reality-Lösungen für die Chirurgie entwickelt und vertreibt, in zahlreichen weiteren Märkten aktiv.
Warum sollten Start-ups die USA als Zielmarkt auf dem Radar haben?
Die Kaufkraft ist hoch, die Healthtech-Ausgaben sind die höchsten weltweit und es gibt viele klinische Probleme zu lösen, die große Teilmärkte und Möglichkeiten schaffen, weil die USA so groß sind. Die Region Boston bietet das weltweit führende Innovations-Ökosystem für Life Sciences, in dem deutsche Start-ups nahezu alles finden, was sie für ihre Entwicklung brauchen: führende Forschungseinrichtungen wie Harvard und das MIT, eine unternehmerische Denkweise, Räume für F&E, große Unternehmen für Partnerschaften und Übernahmen und nicht zuletzt erfahrene Investoren und Risikokapitalgeber mit umfassender Branchenkompetenz.
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Wie gelingt es, die unterschiedlichen Märkte zu priorisieren?
Junge Unternehmen sollten sich nicht von der Marktgröße blenden lassen. Denn größer ist nicht immer besser. Vielmehr sollten Start-ups dorthin gehen, wo die Nachfrage am stärksten ist. So sind die USA zwar ein großer, aber sehr heterogener Markt, und es ist wichtig, dass Start-ups verstehen, woher genau die Kundennachfrage in diesem Markt kommt. Japan hat wie Deutschland eine alternde Bevölkerung. Darin liegen gerade für die Medizintechnik große Chancen. Aber ist Japan deshalb ein leicht zugänglicher Markt? Nicht unbedingt. Denn kulturelle, sprachliche und strukturelle Unterschiede können den Markteintritt erschweren. Daher ist es ratsam, sich Hilfe von Mentoren und Experten zu holen, die sich vor Ort auskennen.
Woran scheitern Ihrer Meinung nach Start-ups am häufigsten beim Eintritt in internationale Märkte?
Start-ups sind manchmal mehr verliebt in ihre Innovation, als in das Problem, das sie zu lösen versuchen. Selbst wenn sie in Deutschland erfolgreich sind, müssen sie genau verstehen, welches Problem sie in einem Auslandsmarkt adressieren wollen und wer bereit wäre, für die Lösung zu zahlen. Schließlich gibt es dort meist etablierte Standards, die sich vielleicht nur sehr schwer verändern lassen. Auch unterschätzen junge Unternehmen oft, wie viele Ressourcen eine Internationalisierung bindet.
Welche Hilfestellung bietet das LSCC?
Das LSCC wurde vom German Accelerator gegründet, um das Wachstum und die Internationalisierung deutscher Healthtech- und Life-Sciences-Start-ups zu fördern. Jedes Start-up, das sich erfolgreich beworben hat, erhält individuelle Unterstützung durch Mentoren und Entrepreneure, die mit dessen Branche und Technologie vertraut sind. Sie helfen bei der Entwicklung erfolgreicher Markteinführungsstrategien.
Wie sieht solch eine Zusammenarbeit konkret aus?
Das Start-up Inovedis zum Beispiel hat ein Implantat für die Reparatur der Rotatorenmanschette im Schultergelenk entwickelt und expandiert gerade in die USA. Unser Team in Boston stellte den Kontakt zu Chirurgen und Operationszentren her und gab Input zu den regulatorischen Anforderungen sowie zu Ansätzen für klinische Studien. Zudem erhielt das Start-up Unterstützung bei der Firmengründung, der Preisfindung, der Distributionsstrategie und der Personalsuche in den USA.
Seit der Gründung haben wir mehr als 65 Start-ups betreut, von denen zehn von größeren Unternehmen für insgesamt über 1 Milliarde US-Dollar übernommen wurden. Die übrigen 55 Start-ups haben zusammen mehr als 0,5 Milliarden US-Dollar aufgebracht.
German Accelerator und LSCC
Der German Accelerator unterstützt deutsche Start-ups bei der Internationalisierung in die USA, nach Asien und nach Südamerika. Seit dem Start 2012 haben mehr als 850 Start-ups eines der Programme erfolgreich durchlaufen und bisher mehr als 15,6 Mrd. US-Dollar an Finanzierung erhalten. Der German Accelerator wird von der German Entrepreneurship GmbH betrieben und vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) finanziert.
Das 2015 vom German Accelerator gegründete Life-Sciences-Competence Center (LSCC) in Boston hilft Healthtech- und Life-Sciences-Start-ups, international zu wachsen und dabei die Risiken zu minimieren. Das globale Life-Sciences-Programm unterstützt und begleitet Start-ups bei der Entwicklung und Umsetzung einer Markteintrittsstrategie.