Japaner sind erfinderisch, wenn’s um technische Spielereien geht – nicht nur bei Pokémon und Tamagotchi. Smarte Unterwäsche ist so ein neuer Trend aus dem Land der aufgehenden Sonne: Sie misst Kalorienverbrauch oder Herzfrequenz und korrigiert sogar die Haltung des Trägers. Und während man in Europa noch staunend den Kopf schüttelt über Tokios Henn-na Hotel, wo einen Roboter an der Rezeption empfangen, wird in Japan schon am Pflegeroboter gefeilt.
Mit Spielerei hat das nichts zu tun. Das hoch entwickelte Gesundheitswesen stößt an seine Grenzen – finanziell wie personell. Aktuell liegt der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei gut 10 %. 2035 könnten die Kosten des Nationalen Gesundheitssystems (NHI) laut einer McKinsey-Prognose 13,5 % am BIP ausmachen. Bereits heute ist jeder Vierte der 127 Millionen Japaner im Rentenalter, bis 2060 soll der Anteil der über 65-Jährigen bei gut 40 % liegen.
Medizinisches Personal ist knapp. Prognosen zufolge könnte 2025 schon eine Million an Pflegekräften fehlen. Japans Regierung setzt deshalb auf den Einsatz von Robotern in Medizin und Pflege. Nach einer Schätzung des Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie könnte sich der Binnenmarkt für Pflegeroboter von 19 Mrd. Yen (rund 170 Mio. US-Dollar) im Jahr 2015 bis 2025 auf 391 Mrd. Yen verzwanzigfachen.
„Japan ist eine Hightech-Nation und das führende Land, wenn es um Robotik geht”, sagt Professor Yoshiyuki Sankai. Sankai hat einen Roboteranzug entwickelt. Das Hybrid Assistive Limb Exoskeleton, kurz HAL genannt, ist ein nervengesteuertes Exoskelett, das Patienten mit einer Rückenmarksverletzung oder nach einem Schlaganfall Mobilität zurückgibt.
HAL wird in Sankais Firma Cyberdyne Inc. produziert, einer Ausgründung der Universität Tsukuba. Als einzige Einrichtung außerhalb Japans erforscht das Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum den Roboteranzug. In Bochum sitzt auch das deutsch-japanische Joint Venture Cyberdyne Care Robotics, das die nervengesteuerten Robotersysteme auf dem deutschen Gesundheitsmarkt vertreibt und gleich neben dem Klinikum ein HAL-Trainingszentrum betreibt.
Japanische Medizintechnikunternehmen sind bereit für Kooperationen – gerne mit europäischen Partnern. Eine Win-win-Situation. „Europa kann lernen, neuen Technologien gegenüber offen zu sein und sich mehr auf deren Chancen als Risiken zu konzentrieren“, sagt Uwe Brockmann, neben Sankai einer der Geschäftsführer der deutschen Cyberdyne Care Robotics GmbH. Japan könne lernen, dass Technik auch kein Allheilmittel ist.
Mit einem Volumen von 30 Mrd. Euro ist Japan nach den USA der zweitgrößte Markt für Medizinprodukte überhaupt. Das britische Marktforschungsunternehmen Espicom rechnet für 2013 bis 2018 mit einem Wachstum von 3,8 % im Jahr.
In seiner Revitalisierungs- und Wachstumsstrategie für die heimische Wirtschaft hat Premierminister Shinzo Abe die Medizintechnik als Schlüsselbereich identifiziert. Doch obwohl der Inselstaat mit einem Anteil von rund 5 % (2015) hinter den USA, China und Deutschland auch der viertstärkste Produzent von Medizintechnik ist, wird gut die Hälfte des Bedarfs durch Importe gedeckt.
Wirtschaftsabkommen stärkt Position von EU-Exporteuren
Europäischen Herstellern bietet das gute Geschäftsmöglichkeiten. Allerdings behindert eine restriktive Regulierung noch immer den Import von Branchenprodukten und verzögert damit paradoxerweise im Hightechland Japan den Einsatz modernster Technologien.
Inzwischen wurde damit begonnen, den regulatorischen Prozess zu vereinfachen. So verabschiedete Japan 2014 den internationalen Standard für Qualitätsmanagementsysteme, was die Kosten der Zertifizierung europäischer Importe verringert. Im Juli haben die EU und Japan sich zudem grundsätzlich auf ein Wirtschaftspartnerschaftsabkommen geeinigt. Es soll die Position von EU-Exporteuren und -Investoren weiter verbessern.
Nippons Medizintechnikimporte nehmen kontinuierlich zu. Während der Medizintechnikmarkt in fünf Jahren bis 2014 um 20 % wuchs, nahmen die Importe um 30 % zu. Spitzenreiter sind Herzschrittmacher, die zu 90 % eingeführt werden. Japans Herzen schlagen mit Implantaten von Herstellern wie Sorin aus Italien oder Biotronik aus Deutschland.
Insgesamt kommt rund ein Viertel aller Importe aus den USA. Bei besonders hoch entwickelter Technologie liegt der Importanteil laut Angaben der US-Behörde ITA (International Trade Administration) bei bis zu 60 %. Deutschland kam zuletzt auf einen Anteil von rund 10,5 %.
Messen bieten eine gute Gelegenheit, den Markt kennenzulernen. Neben den großen wie der Medtec Japan in Tokio empfehlen sich auch kleinere wie die Medical Creation Fukushima. Dort könne man die Weltmarktführer von übermorgen treffen, sagt Birger Nispel. Vor drei Jahren knüpfte der Geschäftsführer der Air Med Plus GmbH in Bochum, Hersteller von Anti-Dekubitus-Systemen, auf der Medical Creation erste Kontakte mit Echo Electricity. Das japanische Unternehmen hat den Schnelltest SMT entwickelt, mit dem sich die Tränenflüssigkeitsmenge in nur fünf Sekunden nicht-invasiv bestimmen lässt. Inzwischen vertreibt Air Med Plus den Schnelltest exklusiv in Europa und bis nach Kanada.
„Meine Auffassung von gegenseitigem Geschäft ist nicht nur, dass wir unsere Produkte nach Japan verkaufen wollen, sondern auch, dass wir japanische Produkte europaweit anbieten können“, sagt Nispel. Allerdings komme man mit dem europäischen Bestreben zum „Picking the low hanging fruit“ – mit wenig Aufwand schnelle Ergebnisse zu erzielen – nicht weit: „Man braucht sehr viel Geduld, eine sehr bildhafte Sprache und man muss sehr viel Empathie herüberbringen.“
„Es kommen zwei völlig unterschiedliche Geschäftskulturen zusammen“, bestätigt Uwe Brockmann von Cyberdyne: die japanische Seite, die Konfrontation vermeiden wolle und auf Konsens ausgerichtet sei, und die europäische, in der gerne und ehrlich diskutiert werde. „Dieser Gegensatz ist manchmal eine Herausforderung, macht die Zusammenarbeit aber auch spannend und liefert immer wieder Anreize querzudenken“, so Brockmann.
Weitere Informationen
Zum HAL-Anbieter Cyberdyne:
Zum Hersteller Air Med Plus:
Zur Messe Medtec Japan in Tokio:
Zur Medical Creation Fukushima: