Seit 150 Jahren bietet das Unternehmen Aesculap in Tuttlingen ein wachsendes Spektrum an Medizinprodukten. Der Vorstandsvorsitzende der Aesculap AG, Prof. Hanns-Peter Knaebel, wünscht sich weiterhin Mut für neue Ideen und sieht großes Potenzial in der regenerativen Medizin und in digitalen Zusatzfunktionen für klassische Medizinprodukte.
Dr. Birgit Oppermann
Herr Professor Knaebel, was ist Ihr Resümee zu 150 Jahren Aesculap?
Insgesamt kann man die Historie als eine Erfolgsgeschichte bezeichnen, auch wenn sie nicht ohne Rückschläge blieb – insbesondere in den Kriegsjahren. Die Firmengründer Jetter und Scheerer haben die Grundlage für den Wirtschafszweig Medizintechnik in der Region gelegt und diese damit nachhaltig geprägt. Auch die Übernahme des Unternehmens durch B. Braun in den 70er Jahren hat sich positiv ausgewirkt, selbst wenn sie für die Beschäftigten damals gefühlt über Nacht kam. Das Gute daran war, dass der Konzern nach der Denke eines Familienunternehmens handelt, also nicht in erster Linie renditeorientiert, sondern mit dem Ziel, im Unternehmen Werte zu schaffen und zu erhalten.
Was prägt aus Ihrer Sicht derzeit die Entwicklung in der Branche?
Die zunehmende Regulation, insbesondere nach dem Skandal um die PIPBrustimplantate, macht die Zulassung neuer Medizinprodukte komplexer. Daraus ergeben sich mehrere Konsequenzen. Für große Unternehmen steigt der Aufwand für die Zulassung. Für kleine Unternehmen heißt das aber mitunter, dass der Aufwand ihre Möglichkeiten übersteigt und sie somit gar keinen Zugang mehr zum Markt haben. Ein weiterer Punkt, der den Markt verändert, ist die Konsolidierungswelle, die wir vor allem in den USA beobachten. Es gibt gar nicht wenige kleinere Unternehmen, die ihre Unabhängigkeit gegen die Konzernzugehörigkeit eintauschen, weil sich in dieser Konstellation am Markt wieder neue Möglichkeiten bieten. Und wir beobachten, dass sich die Technologiezyklen weiter beschleunigen. Wobei nicht alle neuen Produkte auf den Markt kommen: Wo eine Innovation das etablierte Geschäftsmodell eines Konzerns in Frage stellt, erfolgt nicht selten eine Übernahme, und die gute Idee verschwindet auf unbestimmte Zeit in einer Schublade.
Ist das eine Strategie, die auch Aesculap verfolgen würde?
Nein. Wenn wir ein Unternehmen kaufen, das über faszinierende Technik verfügt, dann nur deshalb, weil wir diese Technik auch nutzen wollen. Was wir anstreben, nenne ich die Fusion von interner und externer Innovation.
Was ist Ihrer Ansicht nach die wichtigste Voraussetzung für Innovationen?
Wir brauchen eine fein austarierte Balance zwischen den standardisierten Prozessen, die uns regulatorisch vorgegeben sind, und der Kreativität oder auch dem Mut, neue Wege zu gehen. Wir haben standardisierte Prozesse im Unternehmen, und wir brauchen diese auch. Aber wir wollen uns nicht überbürokratisieren. Wenn es eine neue Idee gibt, wird diese weiter verfolgt. Sie hat die Chance, zu einer Innovation zu werden, wenn sie einen klinischen Nutzen bringt. Für den Patienten, den Anwender in der Klinik oder das Krankenhaus als Unternehmen. Und um da nicht missverstanden zu werden: Unser Mut bezieht sich selbstverständlich nicht darauf, dass wir irgendein Risiko für den Patienten eingehen würden.
Auf welche Aesculap-Entwicklungen aus den jüngst vergangenen Jahren sind Sie besonders stolz?
Wir haben ein so breites Portfolio, dass es kaum möglich ist, ein einzelnes Produkt hervorzuheben. Aber es gibt tatsächlich zwei Trends bei den Entwicklungen, auf die wir stolz sein können. Der eine ist, dass wir es geschafft haben, viele Funktionalitäten aus der konventionellen Chirurgie auf die minimal-invasive Chirurgie zu transferieren. Der zweite Trend ist die Biologisierung der Produkte. Da denke ich an das, was die Reutlinger B. Braun-Tochter Tetec Tissue Engineering Technologies AG macht, zum Thema Gelenkknorpel und Bandscheiben. Das ist zwar noch kein Blockbuster, was den Umsatz angeht, aber ich glaube, dass Biologisierung die Zukunft ist – und zwar in dem Sinn, dass es eine Fusion geben wird zwischen klassischer Medizintechnik und regenerativer Medizin. Und wir haben den Mut, diesen Weg zu gehen.
Sie leiten seit 2016 den Bereich Forschung & Entwicklung. In welche Richtung wird sich das Produktportfolio von Aesculap in den nächsten zehn Jahren entwickeln?
Den Hauptumsatz werden wir meiner Meinung nach weiterhin mit klassischer Medizintechnik erzielen. Aber ich wage einen mutigen Tipp: In zehn Jahren werden wir einen Anteil von 15 bis 20 Prozent mit digitalisierten oder digital erweiterten Produkten erreichen. Ich denke da an Sensoren und Materialien, die auf die von Sensoren gemessenen Werte reagieren können – so dass eine Prothese das Signal bekommt, dass gerade starke Belastungen anstehen, wie wir sie beim Joggen beobachten. Und als Reaktion darauf wird das Prothesenmaterial steifer. Einen zweiten Tipp habe ich für die schon erwähnte Biologisierung: Auch hier rechne ich mit 15 bis 20 Prozent vom Umsatz in zehn Jahren.
Welche Rolle hat die Zulieferindustrie für die Entwicklung der Produkte?
Wenn wir den Begriff weit fassen und den Wissensinput und die Grundlagenforschung einbeziehen, so sind wir schon viele Partnerschaften mit Forschern an Universitäten, Max-Planck- oder Fraunhofer-Instituten eingegangen und werden das auch weiterhin und sogar noch stärker tun. Was die klassischen Zulieferunternehmen entlang der Wertschöpfungskette angeht, werden wir sicher noch viel mehr schauen müssen, was sich an für uns interessanten Entwicklungen in anderen Branchen bietet, wie zum Beispiel der Automobilindustrie oder der Luft- und Raumfahrt.
Welche Möglichkeiten bietet der 3D-Druck?
Wir befassen uns damit schon seit 1993. Unsere Einschätzung ist, dass das Verfahren nur dort wirtschaftlich sinnvoll und technisch interessant ist, wo man damit Dinge tun kann, die konventionell nicht möglich sind. Ein Beispiel wären lasergesinterte Metallgeflechte. In diesem Sinne ist der 3D-Druck bei Aesculap in den Routineablauf integriert. Wir stehen aber mit den Maschinenbauern in ständiger Diskussion darüber, was noch möglich wäre – zum Beispiel die Kombination verschiedener Materialien, um leitende Teile ummanteln zu können oder Werkstoffe mit unterschiedlichen Festigkeiten zusammen zu verarbeiten. Für die Wiederaufbereitung stellen sich durch die neuen Gestaltungsmöglichkeiten aber auch ganz neue Fragen, denn wir können nun Dinge herstellen, die man für die Aufbereitung zerlegen müsste und vielleicht auch zerlegen könnte – die man aber vermutlich nie wieder in ihrem ursprünglichen Zusammenhang wieder zusammensetzen könnte.
Welche Rolle spielt die personalisierte Medizin für die zukünftigen Entwicklungen bei Aesculap?
Auf diesem Gebiet werden derzeit zwei Ansätze diskutiert: die Anpassung von Produkten an individuelle Patienten und die Auswahl von Produkten aus einer bestehenden Palette, die am besten zum individuellen Patienten passt. Die erste Variante halte ich wegen des Aufwands, den das mit sich bringt, in der Breite nicht für umsetzbar. Für uns bedeutet personalisierte Medizin daher eher, das richtige Produkt für einen sehr gut diagnostizierten Patienten zu finden. Ein Beispiel dafür aus der Endoprothetik wäre der Fall eines Patienten mit einer fortschreitenden entzündlichen Erkrankung des Kniegelenks, die wahrscheinlich auf lange Sicht den vollständigen Ersatz des Gelenks erforderlich macht. An dieser Stelle müsste man sich fragen, ob diesem Patienten mit einem Therapieversuch aus dem Bereich der regenerativen Medizin wirklich gedient ist oder ob nicht der frühe Griff zur Prothese für diesen Patienten die bessere Lösung ist.
Wie wichtig ist der Standort Tuttlingen für das Unternehmen?
Wir stehen zum Standort Tuttlingen. Manche Standard-Produkte lassen sich hier wegen der Lohnkosten nicht wirtschaftlich fertigen, aber wir wollen jeden Standort weiterentwickeln zu einem sinnvollen Element im globalen Unternehmensnetzwerk – so dass wir die richtigen Technologien einsetzen und die erforderliche Qualität bieten können. In dieses Bild passt auch der Beschluss, dass Tuttlingen nicht zum Verwaltungsstandort werden soll. Mehr als die bisherigen 40 Prozent Verwaltungsanteil sind nicht geplant. Und die Entwicklung der Mitarbeiterzahlen zeigt, dass wir hier mehr Fachleute beschäftigen, obwohl die eine oder andere Produktlinie an einen anderen Standort gegangen ist.
Die politische Situation zum Beispiel in den USA, aber auch in Europa und in anderen Gegenden der Welt bietet viel Stoff für Diskussionen über die wirtschaftliche Entwicklung. Ist die Medizintechnik von allen möglichen Änderungen genauso betroffen wie der Maschinenbau oder die Automobilindustrie ?
Die Medizin ist, anders als andere Branchen, weniger abhängig von Zyklen. Dafür wird sie, da sie meist staatlich finanziert ist, mehr vom Zustand der jeweiligen Volkswirtschaft beeinflusst. Der Trend zum Protektionismus, der sich derzeit in den USA abzeichnet, ist in diesem Zusammenhang nichts Neues für uns. Mit solchen Tendenzen müssen wir zum Beispiel in Russland oder China umgehen, oder auch im europäischen Binnenmarkt, wie das Beispiel Frankreich zeigt. Wirklich neu ist aber eine gewisse Unberechenbarkeit, die wir derzeit erleben. Die Verlässlichkeit von Partnerschaften gerät ins Wanken und erfordert quasi täglich ein neues Einsortieren der Lage. Das ist aufwendig – und das betrifft die Medizintechnik ebenso wie alle anderen Branchen.
Unabhängig von der technischen Machbarkeit: Über welches Medizinprodukt sollte die Menschheit eines Tages verfügen können?
Über einen perfekten Scanner, der eine vollständige Diagnose liefert – wie auch immer so ein Gerät aussehen müsste. Bisher haben wir immer nur eine große Anzahl von Bruchstücken an Informationen über einen Patienten, die wir wie ein Mosaik zusammensetzen, ohne zu wissen, ob unser Bild das Richtige ist. Eine bessere Diagnose würde es ermöglichen, den Patienten als Ganzes zu sehen und mit der Therapie bei der wirklichen Ursache seiner Probleme anzusetzen.
Über Aesculap
Im Jahr 1867 gründete der Messerschmied Gottfried Jetter eine kleine Werkstätte für chirurgische Instrumente. Zwanzig Jahre später wurden seine beiden Schwager Wilhelm und Karl Christian Scheerer Geschäftspartner der Firma Jetter & Scheerer. Der Markenname Aesculap wurde 1899 angemeldet, und im Jahr 1914 beschäftigte das Unternehmen 1751 Mitarbeiter.
Die Weltkriege brachten auch fürden Tuttlinger Medizintechnik-Anbieter schwierige Zeiten. In den 1950er Jahren rang das Unternehmen ums Überleben und eröffnete nach und nach Fertigungsstandorte im Ausland. 1976 wurde die B. Braun Melsungen AG Mehrheitsaktionär. In den 80er Jahren folgte eine weitreichende Modernisierung.
Als Chirurgie-Sparte von B. Braun hat Aesculap heute weltweit mehr als 11 000 Mitarbeiter, davon 3500 in Tuttlingen. Es bietet eine breite Produktpalette chirurgischer Instrumente bis zu Implantaten und erzielt nach eigenen Angaben 25 % des Umsatzes mit Produkten, die nichtälter sind als fünf Jahre. Für das Geschäftsjahr 2015 meldete das Unternehmen einen Umsatz von 1,66 Mrd. Euro und ein Plus gegenüber Vorjahr von 11 %.
Bild: B. Braun Melsungen AG
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