Es klingt so rosig: Roboter nehmen uns schwere, eintönige oder knifflige Handlungsabläufe ab, Software übernimmt die Verwaltung, Planung und Logistik, und Künstliche Intelligenz sucht, sichtet und vergleicht Dateien. Im Idealfall geht es uns wie Sherlock Holmes, dem Detektiv aus den Erzählungen von Arthur Conan Doyle: Was für ihn Dr. Watson ist, ein Helfer in praktischen Dingen und Partner, der ihm mit Informationen aushilft – das könnten für uns Roboter und künstliche Intelligenz (KI) werden.
Doch was ist mit den medizinisch-technischen Assistenten, die durch Robotiksysteme bei Routineaufgaben ersetzt werden? Was mit den Menschen in der Verwaltung, deren Aufgaben eine Software übernimmt, und was müssen Ärzte können, wenn Roboter wie Da Vinci die kniffligen Handgriffe bei den OPs übernehmen? Oder sie – wie bereits im schweizerischen Universitätsspital Basel mit dem System Spectovive – mit VR-Brillen im OP stehen? Und was ist, wenn KI ihr volles Können weiter ausschöpft und, wie bereits geplant, zum Beispiel in die medizinische Diagnostik vorrückt?
KI könnte die Arbeit von Radiologen übernehmen
Sie könnte dann die Bilder in der Pathologie oder Radiologie dank riesiger Datenbanken und maschinellen Lernens selbst befunden. Dann werden im extremen Fall der Pathologe und Radiologe arbeitslos – oder müssen sich andere Aufgabenfelder suchen. Dieses Szenario entwirft unter anderem der Mediziner, Philosoph und Chemiker Ezekiel Emanuel von der University of Pennsylvania im US-amerikanischen Philadelphia, der dort mehrere Professuren innehat. Er schrieb bereits 2016 ausgerechnet im „Journal of the American College of Radiology“: „Maschinelles Lernen wird in den kommenden fünf bis zehn Jahren zu einer mächtigen Triebkraft in der Radiologie werden und könnte die Radiologie als erfolgreiche Disziplin beenden.“
Noch ist die künstliche Intelligenz jedoch nicht so weit. Gerade bei Sonderfällen ist menschliche Erfahrung immer noch gefragt. Dass ein Ersatz menschlicher Fähigkeiten jedoch möglich sein wird, steht fast außer Frage, nur über das „Wann“ sind sich die Experten nicht einig. Und diese Entwicklung betrifft nicht nur Radiologen.
Technik erlaubt bereits heute Diagnosen mit Pflaster und Armband
Die Technik für Diagnose-Systeme ist bereits vorhanden: Mit Fitnessarmbändern messen wir unseren Puls, es gibt Implantate oder Pflaster mit Sensoren, die Fieber, Blutdruck und Ähnliches messen, und es gibt das Lab-on-the-chip, mit dem Menschen per Blutstropfen auch zu Hause einen Bluttest machen könnten. Für all das müssen sie zukünftig nicht mehr in die Praxis oder Klinik. Die Anamnesen und Diagnosen können bald vollständig automatisiert ablaufen und nur bei Bedarf der Arzt eingeschaltet werden.
In diese Entwicklung passt auch, dass bereits seit 2017 Online-Videosprechstunden von Ärzten mit deren Bestandspatienten über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden können. Zudem laufen diverse Pilotprojekte mit ausschließlicher ärztlicher Fernbehandlung, bei der Arzt und Patient sich vorher gar nicht kennen. Kommt die elektronische Patientenakte, hätte jeder behandelnde Arzt zudem Zugriff auf alle relevanten Informationen – von den Blutwerten bis zu Röntgenbildern. Der Gedanke an einen Arzt, der statt in der Praxis im Home Office vor dem PC sitzt, ist da gar nicht mehr so abwegig.
Das gleiche gilt für den Physiotherapeuten, denn auch die Rehabilitation wird über Apps, Sensoren, Videoanleitung und Webcams von zu Hause aus stattfinden können. „Ich glaube, ein Großteil der Gesundheitsversorgung wird über den Bildschirm laufen“, sagt auch Prof. Jan Stallkamp, Leiter der Fraunhofer-Projektgruppe für Automatisierung in der Medizin und Biotechnologie PAMB in Mannheim. „Die Vorteile liegen auf der Hand: Termine mit mehreren Stationen in einer Klinik können viel spontaner zustande kommen, Änderungen schneller berücksichtigt werden.“ Die Versorgung auf dem Land und von älteren Menschen sei leichter zu handhaben, weil für vieles die Patienten zu Hause bleiben können. Zeit werde effizienter genutzt. Die große Frage sei eher: Wie sieht so ein System aus? Und was passiert, wenn die menschliche Nähe verloren geht?
Medizinische Diagnostik als Vorreiter bei Digitalisierung und Automatisierung
Bisher steht aber nicht die menschliche Nähe, sondern mehr die Effizienz solcher Systeme im Mittelpunkt. Die Rochus Mummert Healthcare Consulting GmbH aus München hat 2018 die Studie „Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft“ vorgestellt. Demnach sahen die befragten 362 Führungskräfte deutscher Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen neben der Verwaltung, etwa der Ablage und Speicherung von Patientenakten (97 %), vor allem die medizinische Diagnostik (87 %) als geeignete Kandidaten für die Digitalisierung und Automatisierung. An dritter Stelle nannten die Studienteilnehmer die stationäre Versorgung (75 %). Die Teilnehmer der Studie waren sich aber auch einig, dass die fortschreitende Digitalisierung der Krankenhäuser nicht nur tiefgehende Auswirkungen auf die Arbeitsprozesse an sich hat, sondern ebenso auf das gesamte Denken und Handeln, das Selbstverständnis und die Berufsbilder medizinischer und kaufmännischer Mitarbeiter von Kliniken.
Das kann Stephan Holzinger, Vorstandsvorsitzender der Rhön-Klinikum AG, nur bestätigen. Um Anamnese, Diagnose und Behandlung schneller und in bester Qualität anbieten zu können, forciert das Unternehmen seine Digitalisierungsstrategie. Hierzu gehören der Einsatz modernster klinischer Informationssysteme, elektronischer Patientenakten und neuer digitaler Instrumente. Dadurch wird die Patientenversorgung noch sicherer und schneller, und das medizinische Personal erfährt eine spürbare Erleichterung ihrer Arbeit.
Krankenschwester muss mit Pflegeroboter umgehen können
Aktuell pilotiert der Klinikkonzern das Medical Cockpit, eine intelligente Suchmaschine, das erstmals Ende 2018 am neuen Campus in Bad Neustadt im klinischen Regelbetrieb eingesetzt wird. „Wir werden künftig viele Spezialisten als „Medical Data Analysts“ benötigen“, sagt Holzinger, „ebenso Krankenschwestern, die mit Pflegerobotern umgehen können, Ärzte für Tele-Medizin und Exoskelett-Techniker in der Rehabilitation.“ Medizinstudenten, die heute im Studium sind, würden in wenigen Jahren auf einen Arbeitsmarkt im Gesundheitswesen und vor allem im Krankenhaus treffen, der mit der strikten Sektorentrennung Ambulant und Stationär und dem bisherigen Berufsbild vieler Mediziner nicht mehr viel gemein haben und hoch digitalisiert sein werde. Stephan Holzinger appelliert daher an die Ausbildungsstätten: „Reformieren sie ihre Studiengänge und schaffen sie neue Berufsbilder! Eine engere Zusammenarbeit zwischen den Medizin- und IT-Fakultäten, Fachhochschulen und Berufsschulen, Politik und Unternehmen ist an dieser Stelle überfällig.“
In der Rochus-Mummert Studie berichten die Führungskräfte, dass Digitalisierungswissen immer häufiger ein Einstellungskriterium ist: In Zukunft wollen 60 % von ihnen Digital-Know-how im kaufmännischen Bereich zum Einstellungskriterium machen, vom medizinischem Personal wollen 45 % diese Kenntnisse verlangen – derzeit tun dies 20 %. Im Gegensatz dazu spielt Digital-Know-how in der medizinischen Ausbildung bisher eine untergeordnete Rolle.
Digitalisierung braucht herstellerunabhängige Schnittstellen
Im Umkehrschluss heißt dies aber auch: Die Digitalisierung ist nur so erfolgreich, wie sie anwenderfreundlich ist. „Und wie gut die Schnittstellen und Standards sind“, ergänzt Pro. Jan Stallkamp. „Nur wenn Sie alle Geräte herstellerunabhängig vernetzen und zum Beispiel auch Gebäude-IT, Indoor-Navigation und Patientenmanagement intelligent verknüpfen können, entsteht ein Mehrwert durch die Digitalisierung.“
Ein Zukunftsszenario könnte laut Stallkamp so aussehen: „Die Anmeldung und Terminvergabe im Klinikum erfolgt von zu Hause per PC oder Smartphone.“ Eine App könnte den Patienten zur richtigen Station lotsen. Beispielsweise zur zentralen Blutabnahme. Dort wüsste man bereits, welcher Arzt welche Werte für die nachfolgenden Diagnose- und Therapieschritte braucht und würde die entsprechenden Vorbereitungen treffen. Zudem würde der Patient dort sein Trackingarmband erhalten. Denn Patienten, Personal und sogar medizinische Geräte würden permanent geortet und je nach Bedarf zusammengebracht, der Facharzt just in time zur OP gerufen.
Der Vorteil dieses Ansatzes: Die Vorgänge benötigen weniger Zeit, der Patient muss weniger warten und beispielsweise nicht mehrfach zur Blutabnahme gebeten werden. Zudem kann die Prozessqualität erheblich verbessert werden. „Derartige Spezialisierungen werden Fachgruppen, ähnlich dem heutigen Tumorboard nötig machen, die ständig dynamisch mit digitalen Hilfsmitteln verbunden sind“, sagt Stallkamp. „Ein solches Akkordsystem würde zwar die Ärzte nicht entlasten, sie erwarten aber mehr Zeit für das persönliche Patientengespräch und weniger für Standardaufgaben.“
Vorbilder und Standards werden gesucht
Doch wie soll die Digitalisierung finanziert werden? Schon jetzt sind laut der Studie „Die Rolle des Krankenhauses im Gesundheitssystem der Zukunft“ der Future Management Group AG, Eltville, drei von vier Krankenhäusern in Deutschland nicht ausreichend investitionsfähig.
„Gerade der Kostendruck wird der entscheidende Punkt für den Wandel sein“, ist sich Jan Stallkamp sicher. „Der Einsatz von Digitalisierung wird für die Kliniken bald zwingend erforderlich. Und wenn sich durch die Digitalisierung 60 Prozent der Kosten einsparen lassen, wird sie sich schnell durchsetzen und den Zustand der Insellösungen schnell überwinden.“ Doch noch gebe es wenig Vorbilder und vor allem kein standardisierbares, von den beteiligten Parteien in der Klinik allgemein akzeptiertes Gesamtkonzept, damit es zwischen den Kliniken keine Verluste durch nicht passende Schnittstellen gibt, und im Gegenteil mehr Synergien genutzt werden können.
Weitere Informationen
Department of Biomedical Engineering (DBE) der Universität Basel
Futuremanagementgroup-Studie
www.futuremanagementgroup.com/de/newsreader/medizintechnik-2030
Rochus-Mummert-Studie
www.rochusmummert.com/healthcare-consulting/hc_studie
Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung PAMP
Das Wissenschaftsjahr 2018
Die Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und Wissenschaft im Dialog (WiD) soll als zentrales Instrument der Wissenschaftskommunikation Forschung in die Öffentlichkeit tragen und den Dialog zwischen Forschung und Gesellschaft unterstützen. Das Wissenschaftsjahr 2018 widmet sich dem Thema Arbeitswelten der Zukunft: Wie werden die Menschen in Zukunft arbeiten? Wie machen sie sich fit dafür? Und welche Rolle spielen Wissenschaft und Forschung bei der Gestaltung eben dieser neuen Arbeitswelten? Das Wissenschaftsjahr 2018 zeigt, welchen Einfluss soziale und technische Innovationen auf die Arbeitswelten von morgen haben – und wie diese nicht nur den Arbeitsalltag verändern, sondern auch neue Maßstäbe im gesellschaftspolitischen Dialog setzen.