Selbst wenn die Technik ausgereift ist, lässt sich die Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten fast immer optimieren. Wo die Knackpunkte dafür liegen, zeigen Beobachtung und am besten die direkte persönliche Erfahrung.
Wo menschelt es im OP? Nicht nur beim Patienten, der sein Schicksal den Medizinern anvertraut. Auch die Ärzte mit den Instrumenten in der Hand agieren im Rahmen der Möglichkeiten, die das menschliche Gehirn uns allen bietet: mit erlernten Gewohnheiten, mit Assoziationen, die der Anblick bestimmter Symbole hervorruft, oder mit den Erwartungen, die eine gerade bei der Operation gemachte Erfahrung auslöst.
Das sind Eigenheiten, die Designer berücksichtigen wollen und müssen, wenn sie sich dem Ansatz des Human Centered Design verschrieben haben. Dabei entstehen Lösungen vor allem dadurch, dass die menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten berücksichtigt werden, dass man auch Eigenheiten und Defizite ausgleicht – statt vom Anwender eines Medizingerätes zu verlangen, dass er sich den technischen Möglichkeiten anpasst, die das Gerät vorgibt.
Ein Schweizer Design Büro, das diesen Ansatz seit einigen Jahren verfolgt, ist die Erdmann Design AG in Brugg. Geschäftsführer Raimund Erdmann ist überzeugt, dass sich die Entwickler insbesondere bei größeren oder komplexen Systemen stärker auf den Benutzer konzentrieren müssen. „Nur so kann ein Diktat durch Technik verhindert werden, das letztlich am Markt durchfällt“, sagt der Designer aus Brugg.
Der Weg dahin führt über eine ausführliche Beobachtung der Anwender. Wie arbeiten sie? Wie könnte man sie unterstützen oder gar mit mehr Komfort bei der Arbeit überraschen? Ein gelungenes Beispiel für diesen Ansatz ist ein Schraubendreher, mit dem im OP Implantate am Knochen befestigt werden, sei es der Oberschenkel oder der Schädelknochen. Da die Festigkeit des Knochens von Mensch zu Mensch variiert, muss der Mediziner unterschiedlich viel Kraft aufwenden, um eine Knochenschraube fest anzubringen, ohne das Zerstören des Knochens zu riskieren.
„Die erste Schraube ist dabei immer ein Versuch, sich auf die individuellen Gegebenheiten einzustellen“, erläutert Erdmann. Für alle weiteren Schrauben musste der Arzt dann bisher das richtige Gefühl für den richtigen Krafteinsatz und deren Festigkeit haben. „Genau dieses ‚Gefühl‘ war der Ansatzpunkt für einen Verbesserungsvorschlag zum Gerät, der sich heute im Markt durchgesetzt hat“, sagt Erdmann. Sein Team hatte die Idee, eine Drehmomentbegrenzung in den Schrauber zu integrieren, so dass das ‚Gefühl‘ zunächst als gemessene Kraft ablesbar und einstellbar wurde. „Inzwischen sind wir soweit, dass dieses Ablesen und Einstellen automatisiert erfolgen kann.“ Und bei vielleicht 100 empfindlichen Kunststoff-Schrauben, die eine Platte am Schädelknochen halten sollen, sei dieser Komfort sehr willkommen.
Manchmal liegt die Lösung für eine Usability-Verbesserung also darin, einen vom Gehirn vorgegebenen Effekt durch in der Industrie schon etablierte Technik zu umgehen. Und auch Erweiterungen sind denkbar: Wenn sich der Komfort-Gedanke in einem medizinischen Fachgebiet herumgesprochen hat und gut aufgenommen wird, lässt sich die Lösung sicherlich an andere Disziplinen anpassen – sei es mit anderen Grenzwert- und Messbereichen für die Drehmomente oder erweiterten Einstellmöglichkeiten für erfahrene Nutzer.
In gewissem Umfang ist also die Methode des Human Centered Design in der Medizintechnik schon etabliert. „Aber bis vor kurzem haben nur die grossen Hersteller mit eigenem Brand diesen Ansatz verfolgt“, sagt Erdmann. In der Schweiz stellt er aber heute Unternehmen jeder Größe die notwendigen Ressourcen zur Verfügung, um den Design-Prozess stärker am Benutzer zu orientieren. Dafür hat sich Erdmann mit den Experten von ADS Engineering in Pratteln und der auf die Herstellung von Chirurgieinstrumenten und Präzisionsmechanik spezialisierten Leitner AG, Busswil, zur Expertgroup zusammengeschlossen. Man berät und entwickelt nun gemeinsam.
Zum Erfolg solcher Anstrengungen trägt jedoch auch eine realistische Testumgebung bei. Daher arbeitet die Expertgroup mit der Akademie für Medizinisches Training und Simulation (AMTS) am Luzerner Kantonsspital zusammen. Dort stehen Unternehmen und Entwicklern unter anderem mehr als zehn voll eingerichtete Operationssäle und diverse Workshopräume zur Verfügung. In der realitätsnahen Testumgebung des AMTS wird die Ergonomie von Arbeitsabläufen genau analysiert, und neue Erkenntnisse und Arbeitsweisen werden in Schulungen auch an die Ärzte weitergegeben.
Mit dem menschlichen Faktor allein ist der Erfolg des Human-Centered-Design-Ansatzes jedoch nicht zu begründen. Auch ökonomische Konzepte können und müssen integriert werden. Als Beispiel nennt Geschäftsführer Erdmann die Konzeption von Produktfamilien, die Basismodelle sowie mittlere und Highend-Versionen umfassen. „Solche Aufgaben zu lösen, gehört mit zu den Spezialitäten der Expertgroup.“
Diese Denkweise ist im Medtech-Bereich nicht auf die Entwicklung von Chirurgieinstrumenten beschränkt. Selbst Prozesse wie den Datenfluss bei den Patientenakten könne man mit dem Human Centered Design verbessern. „Im Grunde muss man sich bei jedem Produkt fragen, was man bei den Nutzern erwarten und voraussetzen kann“, sagt Erdmann. Bei der Generation der Digital Natives könne man zum Beispiel eine große Vertrautheit im Umgang mit Touchscreens jeglicher Art voraussetzen – bei anderen Nutzergruppen hingegen nicht. „Generell ist es erstaunlich zu sehen, wie wenig Elemente man letztlich braucht, um ein Gerät bedienen zu können“, betont der Schweizer. Auf dieses Minimum sollte man sich beschränken, und alle weiteren technischen Besonderheiten, Zusatzfunktionen und Details zwar zugänglich machen, aber den „Anfänger“ am Produkt damit nicht überfordern.
Das sei selbst dann umzusetzen, wenn ein Produkt entwickelt werden soll, das international in mehreren Zusammenhängen und bei verschiedenen Arbeitsweisen eingesetzt werden soll. „Wenn man genau hinschaut, gibt es Unterschiede in der Arbeitsweise in einem japanischen oder deutschen OP“, hat Erdmann beobachtet. Aber mit Human Centered Design gelinge es dennoch, als Basis eine Standardisierung zu erreichen, die eine – länder- oder nutzerspezfische – Individualisierung erlaubt. „Und wer so genau hinschaut, entwickelt auch ein besseres Verständnis dafür, warum die internationale User-Gemeinde manche Technologien wieder untergehen lässt.“
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Über die Designer: www.erdmann.ch
Messeexperiment: Schrauben wie der Arzt
Am Stand von medizin&technik können die Besucher der Messe Medtec Europe selbst ausprobieren, ob Ansätze des Human Centered Design auch bei ihnen greifen. Raimund Erdmann, Geschäftsführer der Erdmann Design AG, wird auf der Messe als Gast mit einigen seiner Prototypen vertreten sein. Sein Experiment: Legen Sie selbst Hand an, versuchen Sie, Implantate in knochenähnlichem Material zu verschrauben und stellen Sie fest, welche Vorteile verschieden gestaltete und unterschiedlich ausgerüstete Geräte dabei bieten. „Das ist eine interessante Erfahrung“, sagt Erdmann – sowohl für Mediziner, die mit den Geräten später arbeiten, als auch für Entwickler, die diesen Aspekt ihrer Arbeit vielleicht noch nicht in allen Details diskutiert haben.
Das Usability-Problem liegt im gezeigten Experiment darin, einen vom Gehirn erlernten Effekt zu umgehen. Das lässt sich an Alltagsbeispielen erläutern. Wer beim Öffnen eines Schraubdeckelglases oder beim Entkorken einer Flasche die Erfahrung gemacht hat, dass er dazu viel Kraft braucht, wird bei der nächsten Gelegenheit mit hoher Wahrscheinlichkeit beherzt zugreifen – wobei ihm dann vielleicht das Glas oder die Flasche entgleitet, die gar nicht so fest verschlossen war.
Sich bei der erforderlichen Kraft zu verschätzen, könnte beim Schrauben an menschlichen Knochen unerwünschte Folgen haben. Dem Lern-Effekt des eigenen Gehirns kann man sich aber kaum entziehen. Das zeigt sich auch auf der Messe. Besuchen Sie uns also und machen Sie sich schlau in Sachen Gebrauchstauglichkeit. Wir erwarten Sie in Halle 5 am Stand A20.
Ihr Stichwort
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