Herr Dr. Rössing, 2018 ging das Geschäftsfeld Ottobock Industrials an den Start. Was genau bieten Sie an?
Im Geschäftsbereich Industrials bieten wir Exoskelette der Familie Paexo für eine Kundengruppe an, die für uns neu ist: die Arbeitsplaner und Ergonomen in der Industrie. Sie müssen die Arbeitsplätze verbessern, um eine älter werdende Belegschaft bei anstrengenden Aufgaben wie dem Heben von Gegenständen oder Überkopfarbeiten technisch zu unterstützen. Hier geht es also um das Präventive, das Verhindern von Erkrankungen im muskuloskelettalen Bereich – im Gegensatz zum therapeutischen Einsatz bei Patienten, für den Ottobock eine Reihe klassischer Orthesen entwickelt hat.
Was fällt für Sie unter Exoskelett?
Ich fasse das sehr weit: Für mich ist ein Exoskelett eine Struktur, die von außen den Körper stützt – unabhängig vom Einsatzzweck. Dazu gehören also sowohl die Paexo-Produkte aus unserem Industrials-Bereich als auch die Orthesen für medizinischen Anwendungen wie das C-Brace. Das ist eine Hightech-Lösung, die es Patienten mit Lähmungen an den unteren Extremitäten ermöglicht, in den normalen Alltag zurückzukehren.
Worin unterscheiden sich die Produkte des Industrial-Bereiches von den Medizinprodukten, die Ottobock herstellt?
Bisher sind unsere Produkte für den Einsatz in der Fertigung oder auch im Handwerk mechanische Systeme – komplex, leistungsfähig, auf den Anwender einstellbar. Sie sollen ihn unterstützen, zuverlässig, einfach zu bedienen und leicht sein und in einem gewissen Kostenrahmen bleiben. Technisch können wir jetzt schon ein Exoskelett bauen, das aktiv unterstützt, sensorgesteuert und vernetzt arbeitet – und bieten das für den medizinischen Bereich auch an. Dort geht es vor allem darum, dass ein Mensch verlorene Fähigkeiten wiedererlangt. Da darf ein System ein oder zwei Kilo mehr wiegen, ein gewisses Einlernen erfordern oder einen höheren Preis haben. Aber wir sehen heute schon in den USA, dass solche aktiven, vernetzten sensorgesteuerten Systeme auch für die Industrie interessant sein werden. Umgekehrt sind manche wirksamen textilen Orthesen technisch einfacher als die Exoskelette für die Industrie, die Übergänge sind aus technischer Sicht also fließend. Große Unterschiede gibt es natürlich bei den regulatorischen Vorgaben zur Zulassung oder der Dokumentation in der Fertigung.
Welche Paexo-Lösungen gibt es bisher für die Industrie?
Wir haben aufgrund einer Überkopf-Montage-Anwendung bei VW mit einer Lösung für die Schulter begonnen. Inzwischen sind Produkte für Handgelenk und Daumen sowie für den Nackenbereich hinzugekommen. Für die untere Wirbelsäule, den Lendenbereich, können wir schon beim Heben kleinerer Lasten unterstützen und werden zur Hannover Messe im April eine neue Lösung für schwerere Lasten vorstellen.
Sind die Industrial-Produkte auch für den privaten Bereich oder in der Pflege geeignet?
Ja – die Anwendung beim Heimwerken zum Beispiel hat großes Potenzial, der Markt dafür ist riesig. Und wir bekommen regelmäßig Anfragen von Krankenhäusern, Forschungsinstituten oder auch Regierungsstellen, die uns nach Einsatzmöglichkeiten in der Pflege fragen. Das ist ein sehr interessanter Anwendungsbereich, zu dem wir gerade Studien und Umfragen bearbeiten. Was wir hier vor allem sehen ist, dass natürlich die Technik ihre Aufgabe erfüllen muss. Aber während ein Produkt, das in der Logistik beim Heben schwerer Lasten hilft, problemlos sichtbar sein darf und eine futuristisch-technische Gestaltung vom Anwender sogar als ‚cool‘ wahrgenommen und positiv bewertet wird, sind die Anforderungen im Pflegebereich andere. Dort wäre technische Unterstützung zwar sehr gefragt, aber sie darf nicht den Gedanken an Roboter hervorrufen und soll weder das Pflegepersonal noch die zu pflegenden Patienten abschrecken.
Wie hat sich der Bereich Industrials seit 2018 entwickelt?
Wir sind sehr zufrieden, haben uns in der kurzen Zeit zu dem am stärksten wachsenden Bereich im Unternehmen entwickelt. Vom Volumen her hat das natürlich immer noch Start-up-Charakter. Die Aussichten sind aber hervorragend: Studien zu Folge wird der Markt für Exoskelette in der industriellen Anwendung in den kommenden fünf Jahren von 150 Millionen Euro auf schätzungsweise drei Milliarden Euro weltweit wachsen.
Wie viele Anwender in der Industrie beliefern Sie bisher?
Unsere Produkte sind in 500 Unternehmen weltweit im Einsatz, allerdings in unterschiedlichen Szenarien. Toyota zum Beispiel hat Exoskelette in den USA als Teil der standardmäßigen persönlichen Schutzausrüstung definiert – sieht sie also als ähnlich selbstverständlich wie Sicherheitsschuhe, Helm oder Brille, die Mitarbeiter vor Schäden im Arbeitsalltag schützen sollen. Andere Unternehmen probieren aus, wie und unter welchen Voraussetzungen Mitarbeiter die Exoskelette nutzen können.
Heißt persönliche Schutzausrüstung, dass quasi jeder Mitarbeiter sein eigenes Exoskelett bekommt?
Das muss jedes Unternehmen für sich definieren. Wir entwickeln die Produkte so, dass sie sich leicht an den Träger anpassen lassen. Bestimmte Teile wie Polster können aus hygienischen Gründen ohne Probleme gewechselt werden. Wenn das Umfeld wegen kurzer Taktzeiten allerdings zum Beispiel auf einen sehr schnellen Schichtwechsel angewiesen ist, lohnt es sich vielleicht, für jeden Mitarbeiter ein optimal eingestelltes Unterstützungssystem griffbereit zu haben.
Welcher Bereich bei Ottobock gibt die Ideen für die industriellen und medizinischen Produkte, welcher übernimmt sie?
Um es klar zu sagen: Unsere Exoskelette für den industriellen Einsatz hätten wir nicht so entwickeln können ohne die hundert Jahre Erfahrung, die Ottobock mit der menschlichen Biomechanik hat, ohne zu wissen, welche Kräfte wo auftreten, wie und wohin man sie umleiten kann. Auch was die Werkstoffe angeht, profitieren wir von den medizinischen Entwicklungen. Aber: Interessanterweise kommen wir in der Industrie schneller und viel enger mit den Anwendern in Kontakt, erfahren schneller etwas über Wünsche und Anforderungen an ein Unterstützungssystem oder die Bedienungsanleitung. Damit können wir Input an den medizinischen Bereich liefern. Und bei Neuentwicklungen arbeiten beide zusammen.
Technologiekonzerne wie Google oder Tesla entdecken den Gesundheitsbereich als Markt, bieten eigene Produkte an. Sind das auch für Sie Wettbewerber?
Nein, bisher gibt es dafür keinerlei Anzeichen. Aber umgekehrt sind für uns Fortschritte bei der Vernetzung und der künstlichen Intelligenz sehr interessant, da wir sie bei der Weiterentwicklung unserer Produkte nutzen können.
Welche Anwendung für Paexo-Produkte fänden Sie künftig am spannendsten?
Wenn ich die betriebswirtschaftlichen Aspekte beiseite lasse: Mich würde das Kniegelenk faszinieren, da es so anspruchsvoll und komplex ist. Es wäre faszinierend zu sehen, welche Belastungen zum Beispiel ein Fliesenleger hat und ein alltagstaugliches Produkt zu entwickeln, um ihn zu unterstützen.
Weitere Informationen
Die Ottobock SE & Co. KGaA mit Stammsitz in Duderstadt erzielte mit über 7000 Mitarbeitern weltweit im Jahr 2018 rund 927 Mrd. Euro Umsatz. 80 % des Unternehmens sind im Besitz der Näder Holding GmbH & Co. KG und gehören damit den direkten Nachfahren des Firmengründers Otto Bock. Seit 2017 hält das schwedische Private Equity-Unternehmen EQT 20 % der Ottobock SE & Co. KGaA.
Kontakt zum Hersteller der Exoskelette:
Ottobock SE & Co. KGaA
Max-Näder-Straße 15
37115 Duderstadt
Telefon +49-(0)5527-848-0
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