Über Exoskelette, die gelähmten Menschen das Laufen ermöglichen, wurde viel berichtet. Aber auch für die oberen Extremitäten gibt es einen solchen Ansatz: In Esslingen wurde eine Exo-Hand für ganz unterschiedliche Anwendungen entwickelt.
Das Pfötchen von Grottenolm oder Gecko, die Flossen der Wale, die Hand der Primaten: Das Thema der vorderen Extremitäten hat die Evolution bei den Wirbeltieren so gekonnt variiert, dass die Lösungen an unterschiedlichste Aufgaben angepasst sind. Welche technischen Weiterentwicklungen sich für die menschliche Hand anbieten, haben Mitarbeiter der Esslinger Festo AG & Co. KG gezeigt. Ihr System öffnet nicht nur für die industrielle Produktion, sondern auch für die Medizin interessante Perspektiven.
Exo-Hand: einfach hineinschlüpfen
Die so genannte Exo-Hand der Esslinger wird wie ein Handschuh angezogen, auf dessen Außenseite sich filigrane bewegliche Strukturen befinden. Diese haben ebensoviele Freiheitsgrade wie die einzelnen Finger des menschlichen Vorbildes. Damit soll Dreierlei möglich werden:
- Mit der Exo-Hand lassen sich die Finger eines Patienten aktiv bewegen. Daraus ergeben sich Anwendungen in der Rehabilitation zum Beispiel von Schlaganfall-Patienten oder Möglichkeiten für den Einsatz der künstlichen Hand als Orthese.
- Der Handschuh kann ebenfalls dazu genutzt werden, die Kraft in den Fingern zu verstärken – so dass ein Mensch Aufgaben in der industriellen Fertigung übernehmen kann, für die seine eigenen Muskeln nicht mehr kräftig genug sind.
- Der Handschuh kann die Bewegungen der Hand, die in ihm steckt, auch aufnehmen und in Echtzeit und in genau der gleichen Form auf Roboterhände übertragen. Das ermöglicht es, zum Beispiel gefährliche Aufgaben aus der Ferne zu erledigen.
Pneumatische Aktoren bewegen die Finger
Angetrieben werden die fünf Finger mit acht pneumatischen Aktoren. Sie machen die Bewegungen präzise. Gleichzeitig bleibt die Hand nachgiebig genug, um Menschen im direkten Umfeld nicht zu gefährden.
In der Rehabilitation kann die Exo-Hand als aktive Handorthese für Schlaganfallpatienten mit Lähmungserscheinungen eingesetzt werden. Allein in Deutschland gibt es Jahr für Jahr etwa 150 000 neue Schlaganfallpatienten, von denen viele das Bewegen der Hand wieder erlernen müssen. Bei einer passiven Handorthese werden die Finger der verkrümmten Hand lediglich mit einer Feder aufgezogen. Die Exo-Hand bietet dafür zusammen mit einem Brain Computer Interface (BCI) eine geschlossene Feedbackschleife: Dabei wird mit einem am Kopf gemessenen Elektroenzephalographie-Signal (EEG) der Wunsch des Patienten erkannt, die Hand zu öffnen oder zu schließen. Die aktive Orthese führt die Bewegung aus – die Nerven wiederum melden die Veränderung ans Gehirn. So entsteht ein Trainingseffekt, der im Laufe der Zeit dazu führt, dass Patienten ihre Hand auch wieder ohne technische Unterstützung bewegen können.
Menschliche Intelligenz mit dem Roboter kombiniert
Für die beiden industriellen Szenarien – die Kraftverstärkung wie auch die Fernmanipulation – ist es von Vorteil, dass alle Gelenke und deren Antriebe außerhalb der Hand liegen. Für die Steuerung einer Bewegung lässt sich die bewegliche Struktur so auch einer künstlichen Hand aus Silikon überstreifen. Die gleiche Hardware ist damit an der einen Stelle Bedieninterface und an der anderen ausführende Roboterhand. Erst so wird es möglich, menschliche Intelligenz mit den Fähigkeiten eines Roboters zu kombinieren. Dabei vermittelt das Force-Feedback-System dem Bediener, was die von ihm gesteuerte technische Hand irgendwo weit weg gerade tut. Und das sieht und hört er nicht nur, sondern fühlt es über seinen Tastsinn.
Bei reinen Montageaufgaben mit vielen sich wiederholenden Tätigkeiten wirkt die ExoHand kraftunterstützend und hilft Mitarbeitern – auch in Zeiten der Alterung der gesamten Bevölkerung –, länger ohne dauerhafte körperliche Schäden im Arbeitsprozess zu bleiben.
Die Exo-Hand ist aber auch für den Einsatz am Serviceroboter interessant – hier könnten neue Konzepte bei Material, Sensoren und Antrieben den Markt revolutionieren. Für das vorgestellte Konzept haben die Entwickler Komponenten genutzt, die bereits in hohen Stückzahlen produziert werden. (op)
Weitere Informationen
Über die Entwickler der Hand:
So funktioniert die technische Hand
Auf der Struktur des Exoskeletts sind acht pneumatische, doppelt wirkende Aktoren angebracht, die bei Festo unter der Bezeichnung DFK-10 Zylinder laufen. Mit ihnen können alle Finger präzise geöffnet und geschlossen werden. Der Zeigefinger kann zudem nach links und rechts geschwenkt und der Daumen gemäß seiner Physiognomie in Richtung Handfläche gedreht werden.
Lineare Potentiometer erfassen die Fingerstellung und die anliegende Kraft der Antriebe. Piezoproportionalventile regeln dafür den Druck in den jeweiligen Kammern. Drucksensoren auf der Ventilinsel erlauben einen Rückschluss auf die Kräfte, die der Zylinder ausübt. Die Positions- und Kraftwerte verarbeitet eine CoDeSys-konforme Steuerung. Um die korrekten Fingerstellungen und Krafteinflüsse zu erhalten, werden nicht-lineare Regelalgorithmen verwendet.
Da keine menschliche Hand der anderen gleicht, werden die Teile der ExoHand, die mit dem menschlichen Körper in Kontakt kommen, individuell angepasst. Möglich wird das mit dem selektiven Lasersinter-Verfahren (SLS). Damit werden nach einem 3D-Scan der Hand des Benutzers die erforderlichen Bauteile aus Polyamid angefertigt.
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