Wir wissen nicht genau, wie wir unsere Medizinprodukte und die Teile dafür am besten reinigen sollen.“ In einer Branche, in der es auf Vertrauen in Technik und Know-how von Herstellern wie Zulieferern ankommt, wird dieser Satz selten ausgesprochen. „Dennoch beschreibt er ziemlich genau die Situation, in der sich manches – vor allem kleinere – Unternehmen befindet“, sagt Gerhard Koblenzer, Geschäftsführer der LPW Reinigungssysteme GmbH aus Riederich. Und die Diskussion über das Thema ist schwierig, denn dezidierte Normen und Richtlinien gibt es nicht, ebenso wenig wie dokumentiertes Wissen darüber, welches Verfahren für welche Geometrie und welches Material am besten geeignet sei.
Wenn Koblenzer nach Details fragt – wie dem Nachweis der Reinheit in Innenräumen –, werde oft darauf verwiesen, dass das nicht zu klären sei, man sonst aber die regulatorischen Vorgaben erfülle. Ein geeignetes Analyseverfahren ist tatsächlich schwer zu finden. „Doch irgendwann wird jemand kommen, solche Fragen stellen und eine Antwort fordern.“
Mit der kommenden MDR zum Beispiel gehe die Anforderung einher, nicht nur einen Prozess zu validieren, sondern zu wissen und zu erläutern, wie er funktioniert und warum er für das Produkt geeignet sei. Von Herausforderungen durch neuartige Produkte ganz abgesehen, die durch 3D-Druck bisher unübliche Eigenschaften, Oberflächen und Geometrien aufweisen. „Daher sollten wir uns trauen, die Fragen nach der Reinigung zu stellen, und dafür sorgen, dass wir sie möglichst bald beantworten können.“
Kein Grund zur Panik, aber Verbesserungen stehen an
Forschungsprojekte dazu laufen schon – oder sollen demnächst starten. Doch: „Es wäre unrealistisch zu glauben, dass wir alle Fragen bis 2020, bis die Übergangsfrist für die MDR abläuft, klären können“, räumt Koblenzer ein. Bis neue Erkenntnisse vorliegen, sei es daher sinnvoll, die vorhandenen Mittel und vor allem das vorhandene Wissen bestmöglich einzusetzen. „Viele Prozesse liefern bisher gute Ergebnisse, man muss also jetzt keine Panik verbreiten“, sagt der Reinigungsexperte, dessen Unternehmen Anlagen für ein spezielles Verfahren, den Cyclic Nucleation Process anbietet. „Aber die weiterführenden Arbeiten dürfen wir nicht vernachlässigen, müssen uns um geometrisch komplexe Bauteile, hohe Packungsdichte oder beschichtete Oberflächen kümmern und die dafür verwendeten Reinigungsverfahren auf den Prüfstand stellen.“
Einen ersten Schritt, um den Stand der Technik optimal einzusetzen, haben eine Reihe von Partnern im Netzwerk Cleanmed unternommen. Sie haben seit 2015 unter Leitung des Clusters Medical Mountains die Rahmenbedingungen für Reinigungsprozesse analysiert. Sie wollten eine Richtschnur bieten, wie sich ein prüf- und validierbarer Prozess zusammenstellen lässt, der zu guten Reinigungsergebnissen führt.
Großes Interesse am Leitfaden
Inzwischen ist dieses Projekt abgeschlossen, und die Erkenntnisse sind in einen Leitfaden für KMU eingeflossen. Laut Julia Steckeler, die Cleanmed als Projektleiterin bei Medical Mountains betreut, ist das Interesse daran groß. Kurz nach der Veröffentlichung habe die Zahl der Anfragen bereits im dreistelligen Bereich gelegen. „Wir hören oft, dass die Mitarbeiter aus den anfragenden Unternehmen froh sind, eine Zusammenfassung zu bekommen, an der sie sich bei der Auswahl der verwendeten Substanzen und Verfahren orientieren können.“ Auch wenn der Leitfaden, das betont Steckeler, weder den Charakter einer Norm habe noch die Reinigungsvalidierung bei der Benannten Stelle ersetze.
Als die Partner den Leitfaden entwickelten, hatten sie speziell die Reinigung von Teilen vor Augen, aus denen wiederaufbereitbare chirurgische Instrumente hergestellt werden – mit typischen geometrischen Strukturen, wie Rändel, Schrauben, Innen- und Außengewinde, Verpressungen oder auch Sacklochbohrungen. Solche wurden in einem Prüfkörper vereint. 64 solcher Teile durchliefen bei verschiedenen Unternehmen unterschiedliche Reinigungsprozesse, mit wässrigen Medien oder lösemittelbasierten Varianten, mit Ultraschall oder anderen Verfahren. Am Ende wurden die Prüfkörper im Labor auf Eigenschaften hin untersucht, die auf den Reinigungserfolg schließen lassen.
Mit jedem Verfahren waren ambitionierte Ziele erreichbar
„Das Interessante war, dass wir mit keinem der getesteten Verfahren an Grenzen gestoßen sind“, berichtet Julia Steckeler. Obwohl sich die Mitstreiter „ambitionierte und messbare Ziele“ für die Reinigung gesteckt hatten, waren diese immer zu erreichen, sofern die Vorgaben strikt eingehalten und auch die Anlagen vorschriftsmäßig gewartet wurden.
LPW hat als einer der Partner im Netzwerk mitgearbeitet. Geschäftsführer Koblenzer betont, dass der Erfolg der Reinigung stark von den Schritten in der Fertigung abhängt. „Wenn man die Fertigung darauf ausrichtet, dass das Bauteil möglichst wenig verschmutzt wird, alle Hilfs- und Betriebsstoffe bekannt sind und man das Reinigungsverfahren daran anpasst, ist dieser letzte Schritt weniger kritisch.“
Und genau das ist der Kern des Leitfadens und die Empfehlung der Partner. Projektleiterin Steckeler formuliert es so: „Bei der Planung eines neuen Prozesses sollten alle verwendeten Stoffe eingeordnet und katalogisiert werden. Sinnvoll ist es, kritische Stoffe auszusortieren und die Anzahl der Stoffe generell zu reduzieren.“ Der Leitfaden helfe sehr dabei, beim Definieren des Prozesses nichts zu vergessen, bestätigt Helmut Poier, der die Zepf Medizintechnik GmbH aus Seitingen-Oberflacht im Projekt Cleanmed vertreten hat. Und nach Auskunft der Projektleiterin lassen sich die Vorschläge von der Methodik her grundsätzlich auch auf andere Medizinprodukte übertragen.
Wissensbausteine für die Anlagenauslegung
Über das, was der Leitfaden ermöglicht, gehen manche Projekte schon hinaus und der Reinigung genauer auf den Grund. Im 2015 gestarteten Projekt Wapnara systematisieren Forscher verschiedener Institutionen das Wissen über Reinigungsverfahren in größerem Umfang – branchenübergreifend. Wapnara steht für wissensbasierte Auslegung und Prozessführung nasschemischer Reinigungsanlagen. Die Basis für diese neue Art der Anlagenauslegung sollen Wissensbausteine sein, aus denen ein Software-Tool entwickelt wird. Bis zum Projektende im Herbst 2018 soll es als Prototyp vorliegen.
Darin wird der Erfahrungsschatz gebündelt, auf dem Reinigungsprozesse bisher vor allem beruhen. Mit dem Tool würde das Wissen Einzelner verfügbar – nicht nur für den Anlagenbauer, -betreiber oder -bediener, sondern schon für den Konstrukteur des zu reinigenden Teils. Vielleicht könnte er im Gedanken an Schwierigkeiten bei der Reinigung auf eine Sacklochbohrung verzichten und statt dessen eine durchgehende Bohrung vorsehen?
Forscher am Dresdner Fraunhofer-
Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV beispielsweise bearbeiten für das Projekt Wapnara den Wissensbaustein zur Ultraschallreinigung, die im Umfeld der Medizinprodukte eine große Rolle spielt. Die Untersuchungen liefen in Kooperation mit der Fraunhofer-Einrichtung für Gießerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik IGCV in Augsburg.
Reinigung mit Ultraschall besser verstehen lernen
Was im Ultraschallbad passiert und verstanden werden soll, ist komplex: Denn es sind nicht die Schallwellen selbst, die den Schmutz vom Teil entfernen, sondern von ihnen ausgelöste Druckunterschiede. Wo der Druck niedrig ist, verdampft Wasser in winzige Bläschen, die bei Überdruck kollabieren und so winzige Strömungen verursachen.
Das Zusammenspiel von Bläschen und Strömungen ist für den reinigenden Effekt verantwortlich – aber genau das lässt sich derzeit nicht messen. Die Werte für Schallwellen kann man zwar erfassen, aber diese helfen nicht weiter, wenn es darum geht, die Reinigung zu bewerten und zu überlegen, ob die Ultraschallreinigung für ein bestimmtes Teil geeignet ist.
Solche Fragen soll das Software-Tool künftig beantworten helfen. „Dabei ist die Erwartung nicht, dass das Tool zu ganz anderen Ergebnissen führt. Aber das Ziel ist, viel schneller zum Ergebnis zu kommen“, sagt Vico Seifert, der am Fraunhofer IVV für das Wapnara-Projekt zuständig ist. Überraschungen sind allerdings nicht ausgeschlossen: Rückschlüsse aus den Untersuchungen ergaben, dass selbst Bauteile mit empfindlicher Oberfläche, die niemand ins Ultraschallbad stecken würde, mit geeigneten Parametern dort unbeschadet gereinigt werden können.
Markus Windisch, der am Dresdner Fraunhofer IVV das Team Industrielle Bauteilreinigung leitet, hält auch die Kontrolle der Eingangsgrößen für eine drängende Aufgabe: Was bringt ein Teil eigentlich mit, was davon muss entfernt werden? „Dafür“, so sagt er, „haben wir noch keine guten Antworten.“ Das Thema sei gerade bei Lohnreinigern ein Problem. „Dann ist die optimale Prozessführung eher ein Glücksfall.“
Teilautomatisierung und Assistenzsystem wären sinnvoll
Auch mehr Automatisierung hält Windisch für sinnvoll. „Hochautomatisierte Anlagen für große Stückzahlen gibt es in der Automobilindustrie, aber das ist aus Kostengründen keine Lösung für die Breite“, sagt er. Er denke eher an Assistenzsysteme. Der Mitarbeiter könne eine Probe aus dem Reinigungsbad nehmen, untersuchen und die Messwerte in die Prozesssteuerung einspeisen. „Die Analogie dazu wäre der kollaborierende Roboter.“
Für kleinere und mittlere Betriebe wäre es laut LPW-Geschäftsführer Koblenzer eventuell interessant, teure Maschinen gemeinsam anzuschaffen und die Reinigung auf Dienstleistungszentren zu übertragen, „in denen Experten ihr Wissen bündeln und kleinen Unternehmen die Reinigung abnehmen.“ Das funktioniere allerdings nur, wenn man genug über die zu reinigenden Teile weiß, diese zu gleichartigen Gruppen zusammenfasst werden und sich die Hersteller in der Fertigung an vereinbarte Vorgaben halten.
Noch einen Schritt weiter in die Zukunft reichen die Pläne für das Forschungsvorhaben QS Rein 4.0, das beim Fachverband industrielle Teilereinigung (FiT) angesiedelt werden soll. „Sobald ich angefangen habe, mich mit Industrie 4.0 zu beschäftigen, war mir klar, dass das für die Reinigungstechnik eine Chance ist, ein neues technisches Niveau zu erreichen“, berichtet Prof. Lothar Schulze. Er hat sich als Wissenschaftler mit der Automatisierung befasst, leitet seit 20 Jahren die Sita Messtechnik GmbH in Dresden, die Sensoren für den Einsatz in Reinigungsanlagen herstellt, und hat die Idee für QS Rein 4.0 mit entwickelt.
Reinigungstechnik heute ist „Mittelalter“
Den aktuellen Stand der Reinigungstechnik bezeichnet er als „Mittelalter“: weil die geeignete Kombination aus Chemie, Waschmechanik sowie Temperatur und Zeit immer noch durch Probieren ermittelt werde. Sobald ein Prozess gefunden und validiert sei, werde daran nicht mehr gerüttelt. „Ein moderner Ansatz sollte schon während des Prozesses Informationen über den Reinigungserfolg liefern – und wenn sich abzeichnet, dass sich die Qualität der Reinigung verschlechtert, kann die Anlage reagieren, bevor eine Menge Ausschuss produziert wird“, sagt Schulze. Elektronische Komponenten, die für Industrie 4.0 entwickelt werden, böten die Möglichkeiten dazu.
Anwender mitnehmen
Die Denkweise der Anlagenhersteller entwickele sich allmählich in diese Richtung. Schulzes Wunsch ist es, auch Anwender ins Boot zu holen. Anfangen würde er gern mit der Automobilindustrie, dem Maschinenbau, der Elektrotechnik und der Feinwerktechnik – ein Stand auf der Messe Parts2Clean soll die entsprechenden Kontakte ermöglichen. „Mit der Medizintechnik habe ich mich kurz beschäftigt und gesehen, dass die Anforderungen dort ganz speziell sind – daher denke ich, es ist sinnvoll, mit anderen Branchen in großer Breite zu beginnen.“
Ein paar Jahre werde es brauchen, um voranzukommen – genaueres lasse sich kaum sagen. „Revolutionen haben keinen Zeitplan“, lacht Schulze. Nur bei einer Sache sei er sich sicher: Es gebe bei vielen Anwendern, aber auch Anlagenanbietern die Hoffnung, Wissenslücken zum Handwerk eines Prozesses mit Industrie 4.0 zu schließen. „Das wird so nicht sein: Wir können nur das, was wir schon wissen, mit den Möglichkeiten von Industrie 4.0 besser umsetzen – die Physik und die Technik bei der Reinigung besser zu verstehen und zu beherrschen, bleibt der erste Schritt auf dem Weg.“
Dieses Wissen kann künftig wohl auch dazu genutzt werden, die Reinigung von Medizinprodukten weiterzuentwickeln – um dann selbst die heute unangenehmen Fragen nach Details beantworten zu können.
Leitfaden für die Reinigung
Wie man zu einem geeigneten Prozess kommt, um Teile für die Medizintechnik zu reinigen, beschreibt der „KMU-Leitfaden zur standardisierten Reinigung von chirurgischen Instrumenten“. Erhältlich ist er über Medical Mountains – zusammen mit drei Exemplaren des Prüfkörpers.
Ihre Empfehlungen haben die Entwickler des Leitfadens aus zahlreichen Tests abgeleitet. Sie hatten sich selbst Vorgaben gesetzt, die an die Werte für Implantate angelehnt sind. Im Einzelnen waren das 30 % Wachstumshemmung für den Cytotox-Wert, 100 kbE für den Bioburden sowie unter 0,5 mg TOC pro Bauteil.
Anhand der Vorschläge kann ein Hersteller seinen neuen Prozess zunächst in der Theorie planen und dann an den mitgelieferten Prüfkörpern testen. Dabei kommt es darauf an, dass diese vor der Reinigung exakt die Prozessschritte durchlaufen – wie eine Behandlung mit einem Strahlmittel oder einem Kühlschmierstoff –, die auch das zu reinigende Teil erfährt.
Unter der Projektleitung durch Medical Mountains arbeiten die Partner weiter am Thema Reinigung. Geplant sind unter anderem Aktivitäten zu neuen Konstruktionsmerkmalen und funktionalen Oberflächen. Die Ergebnisse könnten nach Angabe der Partner auch für Implantate oder Teile mit kleinsten Lumen interessant sein.
Das tut sich in der Reinigungstechnik
- Kompetenznetzwerk Cleanmed
Unter Projektleitung durch Medical Mountains bearbeiten Unternehmen im Verbund verschiedene Fragen
der Reinigungstechnik bei Medizinprodukten.
www.clean-med.de/
- Forschungsprojekt Wapnara
In dem von der Bayerischen Forschungsstiftung geförderten Projekt Wapnara soll eine Wissensbasis entstehen, um industrielle Reinigungsanlagen bedarfsgerecht auszulegen und eine ressourceneffiziente Prozessführung zu ermöglichen.
Zur Projektbeschreibung bei
forschungsstiftung.de:
http://hier.pro/13DPZ
- Forschungsvorhaben QS Rein 4.0
Im Fachverband industrielle Teilereinigung bereitet der Arbeitskreis QS Rein 4.0 unter Leitung von
Prof. Lothar Schulze das gleichnamige Forschungsvorhaben vor.
http://fit.zvo.org - Netzwerk Grips
Im Netzwerk Grips sollen branchenübergreifend innovative kostenattraktive Analytiken in industrielle Herstellungs- und Verarbeitungsprozesse integriert werden. Neue Geräte und Verfahren sollen schließlich in Anwendungen, Richtlinien, Normen und Standards in der verarbeitenden Industrie umgesetzt werden. In der Phase I werden Herstellungs- und Verarbeitungsprozesse aus dem Bereich der Medizintechnik betrachtet. Grips ist ein ZIM-Innovationsnetzwerk der Eura AG. Die Kickoff-Veranstaltung fand im April 2018 statt. Unternehmen und Institute können sich dem Netzwerk anschließen.
www.grips.tech
- Fraunhofer-Allianz Reinigungstechnik
Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft bündeln ihre Kompetenzen in der Fraunhofer-Allianz Reinigungstechnik. Die Medizintechnik ist eines der Anwendungsgebiete.
www.allianz-reinigungstechnik.de
Weitere Informationen
Interview mit Professor Schulze zum Projekt QS Rein 4.0
Interview mit Boris Buckow zum Netzwerk Grips – das sich mit Medizintechnik beschäftigt